Annie Ernaux: "Die Besessenheit"
© Suhrkamp Verlag
Eifersucht als topografische Katastrophe
05:52 Minuten

Annie Ernaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Die BesessenheitSuhrkamp Verlag, Berlin68 Seiten
20,00 Euro
Am eigenen Leben etwas Allgemeines erforschen, das ist die große Kunst der Annie Ernaux. „Die Besessenheit“ erzählt von Eifersucht, mitten im Pariser Sommer 2000, von ihrem Schmerz, aber auch von ihrer Energie – und von den Strategien ihrer Überwindung.
Eifersucht gehört nun wahrlich nicht zu den schönen Gefühlen. Sie lässt einen leiden, nicht nur an anderen, sondern mindestens ebenso sehr an sich selbst. Wie bei allen negativen Gefühlen, denen die Soziologin Eva Illouz jüngst mit „Explosive Moderne“ ein ganzes Buch gewidmet hat, schmerzt schon das Gefühl als solches. Das Wissen um die gesellschaftliche Ächtung kommt noch dazu. Die große Annie Ernaux, französische Nobelpreisträgerin für Literatur, hat in einem ihrer schmalen Bücher dieses Gefühl zerlegt. So unnachahmlich, wie es ihre Art ist: nah an den eigenen Gefühlen und Empfindungen, und zugleich so nüchtern, als präpariere sie das Objekt einer Laboranalyse.
„Die Besessenheit“ heißt es in Sonja Fincks treffender Übersetzung, „L’occupation“ im 2002 erschienenen Original. Da schwingt im Französischen auch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs mit. Und in der Tat schildert Annie Ernaux die Eifersuchtsszenerie des Sommers 2000 als topografische Katastrophe: „Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet ist.“ Verwunderlich ist überdies, dass sie sich einige Monate zuvor nach sechsjähriger Beziehung von dem Mann getrennt hatte, den sie nun plötzlich „zurück“ will, kaum hat er ihr erzählt, er ziehe mit einer anderen Frau zusammen.
Eifersucht auf eine Unbekannte
Sie luchst ihm das ein oder andere Detail über die Geliebte ab. Und diese Details alarmieren sie. W., wie der Mann nur genannt wird, ist Anfang dreißig, die Geliebte „47“ (überall sieht sie nun diese Zahl), also ebenfalls deutlich älter als er. Plötzlich sieht sie sich als „Teil einer Serie“, noch dazu wohnt die Andere, geschiedene Professorin für Geschichte mit 16-jähriger Tochter, im vornehmen 7. Arrondissement, in dem auch der Eiffelturm steht, dessen nächtliche Scheinwerfer sie wie einen Fingerzeig von ihrem eigenen Haus in der westlichen Banlieue sehen kann.
Den Namen der Frau erfährt sie nicht, umso besessener werden ihre Versuche, an sie heranzukommen. In ihrem Kopf geistern wütende Sätze herum: „Du Schlampe! Du Schlampe! Du Schlampe!“ Die halbe Stadt ist „kontaminiert“. Überall könnte sie den beiden begegnen, gleichzeitig möchte sie genau das. Aber wie würde sie dann dastehen? Als eine Frau, „die nicht mehr geliebt wurde, sich aber nichts sehnlicher wünschte.“
Brillante Selbsterkundungsprosa
Annie Ernaux lesen bedeutet, an einer sensiblen Intellektualisierung von Lebenserfahrungen teilzuhaben, die durch konventionelle Beschreibungen so abgegriffen sind, dass sie sich wie eine Beleidigung anfühlen. Die Abwertungsspirale, in die das eifersüchtige Ich hineingezogen wird, erfasst „Die Besessenheit“ ebenso wie die „Lawine aus Szenen und Kulissen der gemeinsamen Zeit“. Der Schmerz wird spürbar, aber der Prozess des Schreibens hat ihn geformt. Ihre Originalität steckt oft in leichten Verschiebungen.
Natürlich spielt sich das meiste in der Innenwelt ab, in den Vorstellungen, die sie sich von der anderen Frau und dem neuen Paar macht. Doch die Metapher der „Okkupation“, der Besetzung und Besatzung, ist auch eine poetische Strategie, um die innere Verletzung in die Außenwelt zu projizieren. Ein funkelndes Stück brillanter Selbsterkundungsprosa.