Anna Prizkau: "Fast ein neues Leben"

Verwüstungen der Gemüter

05:53 Minuten
Buchcover: "Fast ein neues Leben" von Anna Prizkau
Zersplittert wie die Gefühle der Erzählerin sind die einzelnen Episoden in diesem Erzählband. © Friedenauer Presse/Deutschlandradio
Von Andrea Gerk · 21.11.2020
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In den 1990er-Jahren ist die Journalistin Anna Prizkau mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. In "Fast ein neues Leben" erzählt sie nun die schmerzvolle Geschichte des Ankommens in eine Gesellschaft, die permanent ausgrenzt.
Schon der Titel von Anna Prizkaus erstem Buch bringt poetisch und prägnant auf den Punkt, worum es in diesen zwölf Erzählungen geht: "Fast ein neues Leben", aber eben doch nicht ganz, weil Fortgehen und Ankommen hier nicht als abgeschlossene Vorgänge betrachtet werden, sondern als Prozesse, die ineinanderfließen und nie aufhören.
Die FAZ-Redakteurin, 1986 in Russland geboren und Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert, umkreist in ihren Geschichten ein Mädchen, das zwischen einem alten und einem neuen Land steht, zwischen subtilen Bemerkungen und brutalen Schlägen, die sie an eine "Herkunft" erinnern, die sie meist sorgfältig zu verbergen sucht. "Kein Mensch kannte mich, wie ich früher war", heißt es an einer Stelle, und Anna Prizkau gelingt es, auf bewegende Weise zu erzählen, was dieser Satz zur Folge hat.


Etwa, wenn sie von Anna und Angelina erzählt, die "beide Wirtschaftsdiplome hatten, aber sie waren aus dem alten Land, im neuen zählten sie nichts mehr". Also eröffnen die beiden Frauen in dem deutschen Dorf, in das es sie verschlagen hat, einen Friseursalon. Ihre Freundin Viktoria, die Ärztin werden wollte, arbeitet im Supermarkt.

Trauer und Schmerz, wenn man niemals ankommt

Weniger eindeutig und greifbar als derart explizite Verluste, die durch Migration entstehen, sind die Verwüstungen der Gemüter, unter denen beispielsweise die Mutter der Erzählerin leidet. Im neuen Land ist sie so unglücklich, dass sie psychisch krank wird und immer wieder in "die Klinik" muss. Wobei dieses Drama nicht auserzählt wird, sondern in allen Erzählungen wie ein tiefer Grundton mitschwingt, der etwas von der Trauer und dem Schmerz derer spürbar macht, die nirgends ankommen können und sich ausgeschlossen fühlen.
Auch die Kinder der "Fremden" bleiben in diesen Geschichten unter sich, etwa wenn die Erzählerin mit den Samiha und Olcay aus dem "Türkenkinderviertel" spielt, weil die deutschen Kinder in den Hort gehen, wofür die Einwanderer weder Geld haben, noch in der Lage sind, die dafür nötigen Formulare auszufüllen. Wie "seltene und unerforschte Tiere" werden die Erzählerin und ihre Spielkameraden aus der Türkei "angestarrt und gefürchtet" und allein mit Blicken und Bemerkungen in einen Käfig gesperrt, aus dem sie kaum entkommen können.

Ein Stolpern durch emotionale Schieflagen

Zersplittert wie die Gefühle der Erzählerin sind die einzelnen Episoden in diesem Erzählband, der zwar kein chronologisches, aber trotzdem ein zusammenhängendes Bild einer bemerkenswerten Figur entwirft. Denn so wenig konkret diese Figur fassbar wird, so eindrücklich ist, was sie erlebt, wie sie es wahrnimmt und vor allem wie Anna Prizkau davon erzählt: Nüchtern, beinahe sachlich und meist wie aus weiter Ferne schaut sie auf die emotionalen und gesellschaftlichen Schieflagen, durch die ihre Erzählerin stolpert. Hin und wieder spricht sie allzu deutlich aus, was zuvor gekonnt in der Schwebe blieb, aber das sind nur kleine Schönheitsfehler in diesem faszinierend eigenwilligen Buch.

Anna Prizkau: "Fast ein neues Leben"
Erzählungen, Friedenauer Presse, Berlin 2020
111 Seiten, 18,00 Euro

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