Anna Enquist: "Denn es will Abend werden"

Und allerorten große Leere

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Das Cover des Buchs "Denn es will Abend werden" von Anna Enquist
Die Autorin und Psychologin Anna Enquist fragt in ihrem Roman, wie traumatische Erfahrungen die Identität der Opfer verändern. © Luchterhand Literaturverlag
von Elke Schlinsog · 06.07.2019
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Wie weiterleben nach einem Überfall? Zwischen vergessen und aufarbeiten erkundet Anna Enquist an ihren Figuren die Rettungsleinen der Seele. Herausgekommen sind Lebensgeschichten, die zeigen, dass Schmerz und Betäubung keine Gegenteile sind.
Kann man ein Trauma aufarbeiten oder soll man es besser hinter sich lassen? Die niederländische Autorin Anna Enquist erzählt die Geschichte von vier Freunden, die nach einem traumatischen Überfall diese Frage jeder auf seine Weise beantwortet. Gleich zu Beginn werden wir Augenzeuge des Verbrechens: Ein geflohener Sträfling dringt ein in die Harmonie von vier Freizeitmusikern, die gerade auf einem Hausboots üben. Als das Boot von der Polizei in einer überstürzten Aktion gesprengt wird, überleben zwar die Freunde das Chaos, bleiben aber äußerlich und innerlich verletzt und verstört.
Während vom Überfall selbst kaum die Rede ist, geht es der studierten Pianistin und Psychologin Anna Enquist vielmehr darum, wie die Freunde mit dem Einbruch der Gewalt umgehen. Auf 280 Seiten erleben wir taumelnd Traumatisierte, deren Sockel alter Vertrautheiten buchstäblich weggebrochen ist.

Neue Identitäten und extreme Paranoia

Sie sind Verlorene, Getriebene. Die einst im Streichquartett vereinten, toben auseinander, kapseln sich ab, vereinzeln. Hugo, der einst die erste Geige spielte, stürzt sich in Aktionismus und neue Projekte in China. Heleen, die zuvor die zweite Geige anstimmte, flüchtet sich in eine neue harte Identität als Fitnesstrainerin. Die Flüchtenden schlechthin sind Jochem und Carolin, deren Bratsche und Cello während des Überfalls nicht nur vernichtet wurden, sie verlieren sich auch als Paar.
Jochem entwickelt eine extreme Paranoia und baut sein Haus und Atelier zu einer Festung um, seine Frau Carolien, die bei dem Überfall ihren kleinen Finger verloren hat, rührt das Cello nicht mehr an und kappt alle Verbindungen zum alten Leben, gibt ihre Freunde, ihre Arztstelle auf und flüchtet sich in eine China-Reise und kurze Affäre. Leere allerorten. "Denn es will Abend werden" beschreibt in vielen Details, was fehlt.
Der Text liest sich manchmal klaustrophobisch, ist dabei immer rasant, geschrieben in einer Dynamik, die Flüchtenden eigen ist. Dabei kommen wir den Figuren ganz nah, erleben, wie es im Innern aussieht, wie sie verzweifelt kämpfen gegen die Leere, die Panikattacken und Angstzustände.

Was bleibt, wenn nur die Gegenwart vertreten ist?

Gerade Carolins permanent in sich kreisende Gedanken weiß Anna Enquist auf schmerzhaft direkte Weise abzubilden. Wie schwer es ihr fällt, die kleinsten Alltagsdinge zu bewältigen, "einfach aufstehen, Autoschlüssel suchen, Mantel anziehen", wie bei dieser "totalen Betäubung" selbst Verzweiflung und Kummer wünschenswerte Gefühle sind. Diese körperliche Verlorenheit mit psychologischem Feingespür festzuhalten, das beherrscht die studierte Psychologin meisterlich.
Ein lebenserfahrenes, lebenskluges Buch, von einer unbestritten schmerzerfahrenen Autorin, die so zielsicher existenzielle Fragen anstößt: Welches Lebenskonzept ist ehrlicher – das im Hier und Jetzt verhaftete oder das der Vergangenheit? Auch die Frage, was von einem übrig bleibt, wenn man alle Freundschaften aufgibt und nur in der Gegenwart vertreten ist. Denn, wer keine Geschichten teilt, ist in niemandes Gedächtnis zu Hause. Ein wahres Lebensbuch hat Anna Enquist geschrieben, weshalb man ihm auch manch allzu simple Plattitüde, die man gut und gern hätte streichen können, verzeiht.

Anna Enquist: "Denn es will Abend werden"
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand, München 2019
284 Seiten, 22 Euro

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