Anja Tuckermann: "Nusret und die Kuh"

Flucht mit wildem Witz

Ausschnitt aus dem Bilderbuch "Nusret und die Kuh" von Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen
Ausschnitt aus dem Bilderbuch "Nusret und die Kuh" von Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen © "Nusret und die Kuh" von Anja Tuckermann, Mehrdad Zaeri und Uli Krappen @ Tulipan Verlag 2016
Von Sylvia Schwab · 07.06.2016
Im Bilderbuch "Nusret und die Kuh" erzählt Anja Tuckermann die Geschichte einer Flucht am Beispiel eines kleinen Jungen aus dem Kosovo - jenseits bekannter Aspekte wie der schwierigen Ankunft in Deutschland. Die Künstler Mehrdad Zaeri und Uli Krappen balancieren den Ernst der Geschichte mit besonderem Humor aus.
Nusret lebt mit seinen Großeltern, einem Hund, zehn Hühnern, drei Gänsen und einer Kuh in einem ansonsten verlassenen Dorf in Kosovo. Seine Eltern sind im Krieg mit zwei Kindern nach Deutschland geflüchtet, Nusret, der Jüngste, kam dort auf die Welt und wurde dann aber von den Eltern zurück gebracht, damit die Großeltern nicht so allein sind.
Gänse jagen, Eier suchen, die Kuh füttern - Nusrets Leben ist rund und unbeschwert. Er hat fast alles, was er braucht, nur keine Freunde, Eltern und Geschwister. Manchmal bringt der Briefträger Post aus Deutschland, und weil weder die Großeltern noch Nusret lesen können, folgt ein Vorlese-Ritual auf der alten Bank vor dem Haus: mit Kaffee, Blick ins Tal und Sehnsucht nach dem Rest der Familie. Bis die Eltern eines Tages schreiben, Nusret solle doch auch nach Deutschland kommen, um in die Schule zu gehen.
Nusrets Leben erinnert von fern an Bullerbü. "Nusret und die Kuh" wäre, wenn die Geschichte hier enden würde, fast pure Idylle. Der Krieg und die Not sind vorbei, Angst macht nur die Zukunft. Denn Nusret ist hin- und hergerissen, er möchte zu den Eltern fahren, aber auch bei den Großeltern bleiben. Und bei seiner Freundin, der Kuh. Er steckt in einem klassischen Konflikt.

"Alle sind zufrieden und alle haben Sehnsucht"

Anja Tuckermann wiederholt bewusst nicht das, was wir aus der Realität und vielen Büchern kennen: den traurigen Abschied, die schwierige Ankunft in Deutschland, Probleme mit der Sprache oder mit Vorurteilen. Sie erzählt vielmehr, wie Nusret sich selbst aus dieser vertrackten psychischen Situation rettet. Er stellt sich den Abschied und die Ankunft, die Schule in Deutschland und die neuen Freunde ganz genau vor. Er reist in Gedanken in die Zukunft, nimmt die Trauer in der Fantasie vorweg, und die Kuh darf mit. Und eines Tages - so stellt Nusret es sich vor - besucht die ganze Familie plus Kuh die Großeltern in Kosovo. "Alle sind zufrieden und alle haben Sehnsucht." Der kleine Nusret hat sich eine weise Lösung erträumt, wie die Realität dann aussieht, erfahren wir nicht.
Die Bilder der beiden Künstler Mehrdad Zaeri und Uli Krappen balancieren den Ernst der Geschichte mit wildem Witz aus. Sie sind so bunt, so fröhlich, kreativ und skurril wie Nusrets Leben und Fantasie. Sie zitieren Comic und Collage, spielen mit den verschiedensten Malstilen und fordern zu immer neuen Entdeckungen heraus. Die Farben spiegeln Nusrets Gefühle: intensives Grün auf den ersten Seiten verwandelt sich – Richtung Deutschland – in matteres Blau. Ab und zu erinnern kleine schwarze Schattenrisse sensibel und subtil an den Krieg und die fernen Eltern.
Anja Tuckermann erzählt vom Abschiednehmen und Ankommen – auf ganz einfache, aber besondere Weise. Die Illustrationen steuern auf liebevoll-lustige Weise gegen: Auf einer Litfaßsäule wird etwa eine Lesung von Anja Tuckermann angekündigt - man sieht die beiden Künstler förmlich mit den Augen zwinkern.

Anja Tuckermann: Nusret und die Kuh
mit Illustrationen von Mehrdad Zaeri und Uli Krappen
Tulipan Verlag, München 2016
52 Seiten, 18 Euro

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