Angst vor dem Verlust der Wohnung

"Ich habe das Gefühl, die wollen uns raushaben"

14:53 Minuten
Ein Haus in München ist eingerüstet, am Gerüst hängen Planen und verdecken die Fassade zum Teil.
In München und andernorts werden Wohnungen saniert oder modernisiert. Bei manchem Mieter kommt dann Unsicherheit auf. (Symbolbild) © picture alliance / Sven Simon / Frank Hoermann
Von Tobias Krone · 17.08.2021
Audio herunterladen
Wenn ein Haus neue Eigentümer bekommt, es saniert oder modernisiert werden soll, beginnt bei den Mietern oft das Bangen. Unser Reporter hat die Geschehnisse rund um ein Mietshaus in einem Gründerzeitviertel von München ein halbes Jahr lang verfolgt.
Ein Februarabend beim Ehepaar Holzmann-Stein. In der Decke des Arbeitszimmers klafft ein Loch. "Da oben ist es durchgebrochen. Die haben den ganzen Boden neugemacht. Und da waren morsche Bretter und da ist einer daneben getreten. Und dann war er durch. Und das ist jetzt die provisorische Stütze", zeigt Gudrun Stein.
Neben dem Schreibtisch von Werner Holzmann steht eine Metall-Stütze, die dem Raum eine etwas krude Baustellenatmosphäre verleiht. Wie das Loch zustande kam? "Ich saß hier am Computer, auf einmal schau' ich: Was ist denn da los? Bröselt es da runter. Und plötzlich sehe ich, wie es abbricht von oben", erzählt er.
"Ich bin gleich hoch zu den Arbeitern: 'Sie, was ist denn hier los, was machen Sie da? Sie brechen mir ja die Decke runter.' Ja, hat er geschaut. 'Ach, so, aha!' Dann hat er den Vorarbeiter geholt: 'Ja, hat der gesagt, das ist nicht so schlimm. Das stützen wir ab – und das wird dann schon wieder irgendwann gerichtet.' Und das war alles dann."

Altes Haus in attraktiver Lage

Dieses "Irgendwann" macht den pensionierten Lehrer Werner Holzmann und seine Frau Gudrun Stein misstrauisch. Beide sind sich bewusst: Das hier ist ein altes Haus. Sanierungsbedürftig unbedingt.
Sie sind sich sicher, dass das Mietshaus in Haidhausen, einem Gründerzeitviertel nahe der Münchner Innenstadt, kernsaniert wird – und bestimmt auch das Loch in der Decke. Irgendwann. Aber nicht für sie. So formuliert es Werner Holzmann im Februar. "Ich habe irgendwie das Gefühl, die wollen uns raushaben."
Der Verdacht der Bewohnerinnen und Bewohner: Hier wird ein Haus in attraktiver Lage entmietet. Eine in München wie in vielen Großstädten grassierende Praxis. Weil es gesetzlich kaum möglich ist, Menschen mit alten Mietverträgen zu kündigen, arbeiten Vermieterinnen und Vermieter – so scheint es – mit Tricks in der Grauzone: Baulärm, Abfindungen und vor allem psychischem Druck, der Strategie, die Bewohner in Unsicherheit zu halten.
"Wie es letztendlich weitergeht, wissen wir nicht", sagt Gudrun Stein.

Nach dem Verkauf beginnt das Bangen

Wie gehen Mieterinnen und Mieter damit um, dass man möglicherweise versucht, sie zu entmieten? Und wie chancenlos sind sie wirklich? Eine Langzeitbetrachtung innerhalb eines halben Jahres soll Antworten darauf geben.
"Ich bin eingezogen, weil der, der hier vorher gewohnt – den kannte ich – aufs Land wollte", erinnert sich Vera von Rimscha. "Der wollte aber erstmal gucken, ob es ihm da gefällt. Dann durfte ich erstmal ein bisschen zwischenmieten. Also die übliche Variante, wie man in München an eine billige Wohnung kommt. Man kennt jemanden, der jemanden kennt."
Vera von Rimscha wohnt zusammen mit ihren Wellensittichen in einer schlauchartigen Wohnung im Erdgeschoss. Für 75 Quadratmeter, davon 25 Flur, zahlt sie 680 Euro Miete.
Den Mietvertrag schloss sie noch mit dem früheren Eigentümer, einem Handwerker aus der Kleinstadt Mühldorf, der die Mieten so gut wie nicht erhöhte. Doch seine Kinder verkauften das Haus. Und damit begann die Baustelle – und die Ungewissheit. Das halbe Haus steht bereits leer. Leer werdende Wohnungen wurden nicht neu vermietet.
An diesem kalten Februarnachmittag hat die Café-Betreiberin die Etagen-Heizung aufgedreht und schaut vom Fenster aus den Bauarbeitern im Innenhof zu. "Die reparieren unser einsturzgefährdetes Dach. Und räumen das Haus aus. Wir werden jetzt quasi so nach und nach saniert", sagt Vera von Rimscha. "Erstmal räumen sie Dachlatten raus – und dann irgendwann helfen sie uns auch gerne beim Umzug, haben sie gesagt." Sie lacht.
Der Eigentümer antwortet schriftlich auf einen Fragenkatalog des Reporters zu den Vorwürfen. Er könne sich nicht vorstellen, dass einer seiner Bauarbeiter Hilfe bei einem Umzug angeboten hätte.

Brief vom Beauftragten des Vermieters

Doch Indizien, dass sie hier alle raus sollen, gibt es im Februar in dem Mietshaus in München-Haidhausen einige. Da wäre der Brief von einem Beauftragten des Vermieters, der kürzlich gekommen ist und dem Reporter vorliegt – er beginnt mit den Worten: "Leben bedeutet Veränderung – sich an Situationen anzupassen und auch aus diesen Chancen zu gewinnen." Auf den Brief ging Vera von Rimscha nicht ein. Kurz darauf ein weiteres Schreiben – in einem drängenderen Tonfall:
"Der Dachboden ist einsturzgefährdet – ob wir innerhalb von vier Stunden die Wohnung geräumt haben möchten. Und wir würden in einem Hotel untergebracht. Und das halt gleichzeitig mit einer Pandemielage, da stellen sich halt Fragen, warum das jetzt und in der Form gemacht werden muss."
Das Bild zeigt Gebäude von oben und am Horizont auch Hochhäuser.
Gute Lage in München: Haidhausen.© imago / Heinz Gebhard
Vera von Rimscha sah keinen Anlass zur Eile. Zumal das angehängte Statik-Gutachten eines Ingenieurbüros schon zwei Wochen alt war, als dieser Brief verfasst wurde. Die Mieterinnen und Mieter ließen sich vom Bauamt bestätigen: Akut einsturzgefährdet sei das Haus nicht. Dann kamen Mahnungen vom Vermieter, rasch den Keller zu räumen – ohne Begründung.
Vera von Rimscha erhielt sogar eine anwaltliche Abmahnung, den Innenhof von Blumen vor ihrem Fenster und einem kleinen Stapel für ihr Brennholz freizumachen.

Eine Baustelle im Innenhof

Die Bewohner schalteten einen Anwalt ein, um weiterhin ihre Waschmaschine im Keller benutzen zu können.
Im Innenhof ist jetzt Baustelle – mit einer Schütte, die die Hauswand entlang hinunterführt. "Die Schütte ist gekommen, weil wir es zu gefährlich fanden, dass sie Sachen in den Hof werfen, und uns dann doch mal beim Ordnungsamt gemeldet haben, ob das nicht eine ungesicherte Baustelle wäre", sagt Vera von Rimscha. "Seitdem haben wir vorne eine Schütte raus. Die Baustelle ist sicher nicht so lärm-arm und schmutzschonend, wie sie sein könnte."
Auch die Haustür lässt sich nicht mehr verschließen – es fehlt schlicht das Schloss. Der Eigentümer erklärt: Zu Hinweisen der Baubehörde zur Sicherheit der Baustelle sei ihm nichts bekannt.
Zur Haustür erklärt er: Es gebe keine gesetzliche Verpflichtung für eine verschließbare Haustür. Er habe angeboten, in eine andere Tür zum Treppenhaus ein Schloss einzubauen, doch das lehnten die Mieterinnen und Mieter ab, denn diese Tür hätte je ein Klinke an beiden Seiten gehabt, hätte händisch abgesperrt werden müssen, und wäre mit der Klingelanlage nicht zu bedienen gewesen.
Für die Bewohner sind das schwer erträgliche Zustände. Und doch ist die Öffentlichkeit bei diesen Themen schon ziemlich abgestumpft, sagt von Rimscha. "Dafür jetzt wirklich Aufmerksamkeit zu kriegen – selbst der Mieterschutzbund sagt sowas wie: Ja, passiert ja dauernd. Es ist jetzt nicht so, dass das jetzt hier ein Aufreger ist, obwohl es für uns persönlich ein deutlicher Aufreger ist, aber so gesellschaftlich gesehen, in München, ist das etwas, was um jede Straßenecke einmal passiert."

Mehr als das Doppelte der Miete wäre drin

Es wäre deutlich lukrativer, sanierte Wohnungen neu zu vermieten. Wer sich auf den Wohnungsportalen informiert, merkt schnell: Mit neuen Mieterinnen oder Mietern wäre mindestens das Doppelte der Miete drin. Doch im Prinzip kann man die alten Mieter nicht hinauswerfen. Auch bei Modernisierungskosten dürfen seit 2019 nicht mehr als drei Euro pro Quadratmeter auf die Miete aufgeschlagen werden.
Um angesichts der Baustelle zu bleiben, braucht man aber eine dicke Haut. Was wäre, wenn sie auszöge: Vera von Rimscha zuckt mit den Schultern. "Eigentlich gibt es für niemanden von uns eine Lösung, wir werden sicherlich danach, wenn wir ausziehen, teurer wohnen. Wenn wir überhaupt was finden. Wir haben das Gefühl, wir müssen das jetzt durchhalten, aussitzen, und wenn wir Glück haben, können wir das so aushandeln, dass wir zu einem relativ bezahlbaren Preis hierbleiben können."
"Leben bedeutet Veränderung": Drei Stockwerke höher zieht Werner Holzmann jetzt noch einmal den Brief aus dem Aktenordner – und schüttelt aufgeregt den Kopf. "Da denke ich mir: Großartig. Ich bin 83 Jahre alt, am Ende meines Lebens. Dann kommt irgendein Kapitalist, der uns raushaben will – und sagt mir: 'Leben bedeutet Veränderung.' Das war irgendwie der Hammer."

Sanierung vom Keller bis zum Dachgeschoss

Was der Eigentümer mit dem Haus vorhat? Auf Anfrage des Reporters im Juli erklärt er schriftlich, er wolle es gründlich sanieren – vom Keller bis zum Dachgeschoss. Zudem plane er weitere Gebäude und einen Spielplatz im Innenhof. Ob er wolle, dass alle Mieterinnen und Mieter ausziehen?
Auf die Frage antwortet er schriftlich: "Nein, die Mieter haben allesamt unbefristete Mietverträge. Wenn sich jemand im Haus verändern möchte, finden wir eine Lösung. Wenn jemand aus dem Haus ausziehen möchte, finden wir auch eine Lösung. Für alle anderen gelten die gesetzlichen Bestimmungen, an die wir uns halten. Der Gesetzgeber definiert nicht nur Rechte für Mieter, sondern auch Pflichten für Mieter, die aus dem Mietvertrag heraus erwachsen. Hierzu gehört auch die Duldungspflicht von Modernisierungsmaßnahmen."
München-Haidhausen im Juli – ziemlich genau ein halbes Jahr später. Das Loch in der Decke bei Werner Holzmann im Arbeitszimmer ist nicht mehr zu sehen, es wurde verputzt. Auf den ersten Blick hat sich die Situation deutlich entspannt.

Drei Modernisierungsankündigungen

Doch die Ungewissheit bleibt. Seit Juni haben er und seine Partnerin Gudrun Stein drei verschiedene Briefe mit offiziellen Modernisierungsankündigungen erhalten: für neue Fenster, einen Aufzug und einen Fernwärmeanschluss, inklusive der Ankündigung, dass die Miete für jede der drei Maßnahmen um jeweils über 100 Euro steigen werde.
"Die vorgesehenen Mieterhöhungen übersteigen schon die drei Euro pro Quadratmeter", sagt Gudrun Stein. "Das ist denen wahrscheinlich nicht aufgefallen, keine Ahnung. Aber das kann man ja ganz leicht nachrechnen. Es ist ja gedeckelt auf drei Euro pro Quadratmeter und da sind die schon drüber."
Auf Anfrage des Reporters erklärt der Eigentümer, in keiner Ankündigung seien die drei Euro pro Quadratmeter überschritten worden. Berechnungen von Deutschlandfunk Kultur allerdings ergeben: Pro Quadratmeter Wohnfläche wären es insgesamt 27 Cent zu viel Aufschlag. Wieder einmal wollen die beiden ihren Anwalt einsetzen, um die Sache zu klären.

Ein Mediator hilft weiter

Der Ton mit der Vermieterseite allerdings habe sich geändert. Der Eigentümer, ein Bauunternehmer aus Niederbayern, hat einen neuen Mediator eingesetzt. Dieser rede vernünftig mit ihnen, sodass sie nun ein besseres Gefühl hätten, sagen Stein und Holzmann. Sie betrachten diese Verbesserung als ein Ergebnis ihres Widerstandes. Sie hätten sich von vornherein ein Gespräch auf Augenhöhe gewünscht.
"Klar, ich meine, man muss immer irgendwelche Abstriche machen, wenn irgendwo gebaut wird. Das ist mir völlig klar. Aber ich möchte, dass es sich irgendwie in einem Gespräch entwickelt."
"Ja, das denke ich auch. Als Hausbesitzer, Profit hin und her, aber irgendwo hat man ja auch eine Verantwortung. Nicht nur für das Haus, sondern auch für die Menschen, die darin wohnen und die Wohnung mieten. So sehe ich das. Eigentum verpflichtet."
Für Gudrun Stein und Werner Holzmann ist klar, sie werden bleiben.

Abfindung und Auszug

Vera von Rimscha aus dem Erdgeschoss dagegen ist gegangen. Sie und ihre Wellensittiche wohnen inzwischen ein paar Straßen weiter in der Wohnung, die ein Freund besitzt. Knapp ein Drittel weniger Raum hat sie nun für knapp 1000 Euro. Das ist ein Drittel mehr Miete als davor. Und doch für München ein echtes Schnäppchen.
Über die Abfindung, die sie vom Eigentümer der alten Wohnung bekommen hat, muss sie schweigen. "Den Moment, dass ich mich wie ein Verräter gefühlt habe, als ich ausgezogen bin, den gab es natürlich", berichtet von Rimscha.
Auch sie hatte sich ja monatelang für die Gemeinschaft eingesetzt, zusammen mit denen, die weiterhin im Haus in München-Haidhausen wohnen. Dennoch überwiege bei ihr das Bedürfnis, eine Wohnung sicher zu haben. "Es ist ein wirklich tiefer Eingriff, wenn man irgendwo wohnt und das ganz eindeutig nicht gewünscht ist. Das macht was mit einem."
Teilnehmer einer Demonstration für bezahlbaren Wohnraum und gegen soziale Ausgrenzung gehen unter dem Motto #ausspekuliert auf die Straße. Sie halten ein gelb-schwarzes Banner mit der Aufschrift Demo 15.9.18, den Tag der Demonstration.
Das Bündnis #ausspekuliert demonstriert für bezahlbaren Wohnraum. In Hasenbergl hatten die Mieter Erfolg.© dpa
Der Kampf gegen den drohenden Verlust der Wohnung – er kann erfolgreich sein für Mieterinnen und Mieter. Ein Positivbeispiel ist der Paulcke-Block in der Vorstadt Hasenbergl – weit weg vom Münchner Stadtzentrum. Eigentlich nicht gerade eine angesagte Gegend.
"Dort wohnen sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund, mit ganz normalen Berufen, Rentner, Erzieherinnen, Pförtner, und so weiter", erzählt der Mietaktivist Christian Schwarzenberger vom Bündnis Ausspekuliert: "Und die haben im September ein Schreiben bekommen, dass sie im März dieses Jahres aus den Wohnungen rausmüssen, weil dann Wasser und Strom abgeschaltet werden, denn das Haus muss saniert werden, ist baufällig."

Erfolg für Mieter in der Vorstadt Hasenbergl

Sanierungsbedürftig ist das Haus. Doch wohin sollen die über hundert Menschen in der teuren Stadt?
Die Aussicht auf Ersatzwohnungen und ein Rückkehrrecht gab es zunächst nicht. Der Vermieter bot ihnen stattdessen 5000 bis 8000 Euro Abfindung dafür, dass sie innerhalb eines halben Jahres ausziehen sollten – ein verhältnismäßig mageres Angebot. Doch viele waren eingeschüchtert. Die Chancen auf Protest – eher gering.
"Hier wohnen nicht unbedingt die erfolgreichsten Menschen dieser Stadt", sagt Sven Karadi, Anfang 30. "Die sind nicht gewohnt, Erfolg zu haben. Die haben sich das auch alle nicht unbedingt zugetraut. Und da war ich, glaub ich, von Anfang an anders, bin das pragmatisch angegangen."
Der Pförtner, einer der Mieter im Paulcke-Block, informierte die "Süddeutsche Zeitung", stieß auf das Bündnis Ausspekuliert, brachte seine Nachbarschaft dazu, sich zu einer Mietergemeinschaft zusammenzuschließen. Und er hatte Erfolg. Die Stadtpolitik nahm sich des Falls an.

Rückkehrrecht erreicht

Christian Schwarzenberger erklärt: "Dieser gesammelte Druck von vielen, die sich dann eingesetzt haben, ausgelöst durch die Mieter selbst, hat dann dazu geführt, dass den Betroffenen Ersatzwohnraum zugesichert worden ist. Dass ihnen Rückkehrrecht in die alten Wohnungen nach der Sanierung zugestanden wurde."
Ein großer Erfolg für die Mieterinnen und Mieter.
Sven Karadi möchte mit dem Interview auch anderen Menschen Hoffnung spenden. "Dass man es auch in so einer schwierigen Situation richtigmachen kann. Aber da muss man schnell handeln – und schnellstmöglich die Öffentlichkeit mit ins Boot holen."
Bald wird bei ihm saniert. Er und seine Nachbarschaft werden so lange in einem nahegelegenen Wohnblock wohnen – und danach wieder in den Paulcke-Block einziehen.
Auf Anfrage des Reporters wollte sich der Eigentümer nicht äußern.
Mehr zum Thema