Angelika Klüssendorf: "Jahre später"

In den Fängen eines Wohlstandsverwahrlosten

Angelika Klüssendorf: Jahre später (Kiepenheuer & Witsch)
Angelika Klüssendorf: Jahre später (Kiepenheuer & Witsch) © Kiepenheuer & Witsch, Unsplash
Von Helmut Böttiger · 15.02.2018
In "Jahre später" erzählt Angelika Klüssendorf die Geschichte einer unglücklichen Ehe. Die Protagonistin April kann nur für ein paar Wochen nach der Geburt ihres Sohnes so etwas wie Glück vortäuschen. Ihr Mann: Chirurg und computersüchtig - mit Tötungsfantasien.
Angelika Klüssendorf bringt die Reihe ihrer autobiografisch angelegten Romane nun zu Ende. Nach "Das Mädchen" und "April" handelt "Jahre später" von der Ehe, die die weibliche Zentralfigur April eingeht. Und weil Angelika Klüssendorf eine Zeit lang mit dem mittlerweile verstorbenen Herausgeber der "FAZ" Frank Schirrnmacher verheiratet war, scheint es nahe zu liegen, ihn in der Figur des Ludwig wiederzuerkennen. Ludwig, Aprils Ehemann, ist allerdings Chirurg, und schon die präzise, pointiert aussparende Sprache Angelika Klüssendorfs und die kleinen sich verselbständigenden nüchtern-poetischen Erzählpassagen machen klar, dass es hier um etwas anderes geht als um einen Schlüsselroman.

Eine Vision vom Glück

Sehr spröde, fast zweifelnd erzählt die Autorin vom Beginn der Beziehung mit Ludwig. April (benannt nach einem Stück von "Deep Purple") sieht sich in etwas hineingeraten, das sie nicht mehr steuern kann. Es scheint sich um eine typische Ost-West-Geschichte zu handeln. Die mit bürgerlichen Riten fremdelnde April muss jetzt plötzlich Konversation führen, Kaviar zu sich nehmen und als Gastgeberin von privaten Empfängen agieren. Argwöhnisch registriert sie die Welt des Reichtums. Und es gelingt ihr nur kurz, in wenigen Wochen nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes, eine Vision von Glück aufrecht zu erhalten.
Recht schnell, in einer anonymen großen Wohnung in Hamburg, fühlt April eine klaffende Leere. Die Horrorvideos, die Ludwig abends nach der Arbeit anschaut, bestimmen nun auch ihre endlosen Nachmittage. April beginnt, Dialoge mit den dort handelnden Personen zu führen, und fragt einmal, ob sie das auch kennen würden: "Ihr wisst, es ist falsch, und könnt doch nicht anders?" Ludwig ist ein Spieler, der nächtelang am Computer sitzt und "seine Feinde vom Himmel holt".

Literatur als letzter Rettungsanker

Auch nach der Scheidung behält er sein "Kindergesicht": Er kann seine Fehler nicht eingestehen und hat jederzeit abrufbare Tötungs- und Zerstörungsphantasien. Ludwig braucht April vor allem als Publikum, wenn er in der Nacht einen Vortrag fertiggeschrieben hat. April, aus ihrer desaströsen Ost-Existenz und der untersten sozialen Stufe herausgeholt, sieht sich einem psychisch unberechenbaren Exemplar heftigster Wohlstandsverwahrlosung gegenüber.
Die Loslösung von ihm lässt April dann aber Neuland betreten, ein künstlerisch raffiniert ausgestattetes Neuland: April schreibt am Schluss, als letzten Satz des Buches, jenen provokativen Satz nieder, der vor ein paar Jahren am Beginn des ersten Romans der nun abgeschlossenen Trilogie stand: "Scheiße fliegt durch die Luft." Literatur als letzter Rettungsanker und als radikale Gegenposition: Angelika Klüssendorf spielt diese Möglichkeit in seltener Konsequenz durch.

Angelika Klüssendorf: "Jahre später"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018
156 Seiten, 17 Euro

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