In deutschen Gerichten

Ohne Rechtsbeistand auf der Anklagebank

Eine Bronzestatue der Justitia steht auf einem Tisch. (Symbolbild)
Die festen Rollen vor Gericht sind normalerweise: Staatsanwaltschaft, Richter, die Zeugen, Angeklagte und die Strafverteidigung. © picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt
Gedanken von Ronen Steinke · 07.08.2023
Gerichtsverhandlungen folgen einer festen Dramaturgie mit klaren Rollen. Wie im Theater. In Deutschland sitzen Angeklagte jedoch häufig allein vor Gericht - ohne die Regeln des Schauspiels zu kennen. Der Jurist Ronen Steinke findet das ungerecht.
Ein Polizist hält einen Kriminellen fest. Er legt ihm Handschellen an. Und er spricht dabei einen Satz, den er schon oft gesagt hat: „Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen.“ Und, jetzt wird es interessant: „Wenn Sie sich keinen Verteidiger leisten können, wird Ihnen einer gestellt.“
Viele von uns haben diese Szene schon hundert Mal gesehen. So hat es Eddie Murphy als „Beverly Hills Cop“ zu einem Tatverdächtigen gesagt. So hat es auch Mel Gibson als Polizist in dem Film „Lethal Weapon“ gesagt. Als deutscher Fernsehzuschauer kann man diesen Polizisten-Satz schon beinah mitsprechen, so vertraut ist er.
Allerdings: Es ist ein Satz, den amerikanische Polizisten sagen. Deutsche Polizisten nicht. Wer in Deutschland als Angeklagter vor ein Amtsgericht kommt und sich nicht aus eigener Tasche einen Verteidiger leisten kann, der bekommt nur sehr selten einen Anwalt auf Staatskosten gestellt, so besagt es der einschlägige Paragraf 140 der Strafprozessordnung. Anders als in den amerikanischen Krimiserien oder Filmen muss er schauen, wo er bleibt.

Die meisten Angeklagten sitzen allein vor Gericht

Nur bei besonders schweren Delikten gewährt die deutsche Strafprozessordnung ausnahmsweise einen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. Das betrifft nur etwa zehn Prozent der Fälle. In der großen Masse der Verfahren aber, die täglich deutsche Amtsgerichte beschäftigen, bei den kleinen Diebstählen, den einfachen Betrügereien, den Trunkenheitsfahrten ohne Verletzte, gibt es das nicht. Dann kommt es in Deutschland allein auf den Geldbeutel des Beschuldigten an. Und weil die meisten Menschen, die hierzulande wegen Straftaten beschuldigt sind, arm sind, sitzen sie dann meist allein vor Gericht. Ohne Anwalt.
Für juristische Laien bleiben die Abläufe bei Gericht oft rätselhaft. Man wird als Angeklagter zwar vom Gericht darüber belehrt, dass man schweigen darf. Mehr aber nicht. Was hilft das? Man bekommt als Angeklagter nicht alle juristischen Probleme erklärt. Also ahnt man als juristischer Laie auch gar nicht, wann es ratsam ist zu schweigen und wann nicht.
Ich bin selbst Jurist, und ich habe manchmal den Eindruck, wir Juristen vergessen gelegentlich, wie viele Jahre wir selbst studieren mussten, um die unsichtbaren Regeln zu verstehen, die in einem Gerichtssaal gelten. Sind wir doch ehrlich: Das ist eine Welt, in der man ohne fachkundige Hilfe schnell verloren gehen kann.

Fairer Prozess ohne Verteidigung?

Viele Richter meinen: Ein Strafprozess könne durchaus auch fair verlaufen, wenn kein Verteidiger mit dabei sei. Solange der Richter und die Staatsanwältin sehr auf Fairness achteten, reiche das aus. Schließlich seien ja Richter ehrlich daran interessiert, alle Aspekte eines Falles zu hören. Aber in Wahrheit ist es doch so: Am guten Willen der Richter mangelt es oft gar nicht.
Sondern: Der Richter bekommt oft einfach gar nicht mit, welche Sorgen sich der Angeklagte macht, und welche Fragen ihn umtreiben. Weil der Angeklagte Angst davor hat, sich dem Richter anzuvertrauen. Nur wenn der Angeklagte einen Verteidiger an seiner Seite hat, kann er überhaupt erkennen, welche Argumente er sinnvollerweise vorbringen könnte.
In Italien ist prinzipiell in jedem Strafprozess ein Verteidiger dabei, notfalls vom Staat bezahlt. In Frankreich stellt die Justiz immer einen Verteidiger, wenn der Beschuldigte dies wünscht. In den Niederlanden und in Österreich ebenso. Deutschland bildet hier die Ausnahme.
Neulich habe ich mal wieder den Tatort in der ARD gesehen. Sonntagabend, 20.15 Uhr. Ein Kommissar hat einen Tatverdächtigen festgenommen. Er hat ihm Handschellen angelegt. „Sie kommen mit auf die Wache“, hat er gesagt. Mehr leider nicht. So ist die Lage in Deutschland.
Der Autor und Jurist Ronen Steinke sitzt auf einer Treppe eines Gerichts und schaut in die Kamera.
Der Autor und Jurist Ronen Steinke: "Wir Juristen vergessen gelegentlich, wie viele Jahre wir selbst studieren mussten, um die unsichtbaren Regeln zu verstehen, die in einem Gerichtssaal gelten."© Amin Akhtar

Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der Süddeutschen Zeitung. Er ist promovierter Jurist, Dozent an der Deutschen Richterakademie und Mitglied im Kuratorium des Max-Planck-Instituts für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt "Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht" (Juni 2023) und der Bestseller "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz" (2022). Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit "Der Staat gegen Fritz Bauer" preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ronen Steinke lebt mit seiner Familie in Berlin.

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