Andri Snaer Magnason: „Wasser und Zeit“

Welche Worte erklären die Welt?

05:07 Minuten
"Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft" von Andri Snaer Magnason
Die Lektüre des Bandes gleicht einem Wechselbad. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Sieglinde Geisel · 07.09.2020
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Was wäre Island ohne Gletscher? Nur noch „Land“? Der Klimawandel ist für Andri Snaer Magnason nicht nur wissenschaftliche Tatsache, sondern auch etwas ganz persönlich Gefühltes. Dem er mittels unterschiedlichster Textgenres auf den Leib rückt.
"Wasser und Zeit" – anhand dieser beiden Begriffe versucht der isländische Autor Andri Snaer Magnason in seinem Buch, den Klimawandel vorstellbar zu machen. In der Tat lässt sich die Geschichte der Erde als Geschichte des Wassers erzählen, und für Island gilt das in besonderem Maß. Vor 20.000 Jahren war Island vollständig von Eis bedeckt, die Großeltern des Autors hatten ihre Hochzeitsreise 1955 auf einer Gletscherexpedition verbracht.
Damals erschienen die Gletscher als ein Symbol für die Ewigkeit, doch in seinem Buch erzählt Magnason nun von sterbenden Gletschern, und in 150 Jahren wird es in Island keine mehr geben. "Wenn die Gletscher verschwunden sind, was ist Island dann?", fragt Magnason. "Nur noch ‚Land‘?"

Wechselbad der Gefühle

Auf der Erde gab es immerzu klimatische Veränderungen, allerdings nie so schnell wie heute – für Andri Snaer Magnason hat die Zeit daher eine mythische Dimension. Er nähert sich dem Klimawandel mit allen Formen des nicht-fiktionalen Erzählens: mit Reiseberichten und philosophischen Essays ebenso wie in Erinnerungen an die Großeltern sowie mit Nature Writing, Interviews (etwa mit dem Dalai Lama) und klimawissenschaftlichen Traktaten.

Dass die Lektüre des Bandes einem Wechselbad gleicht, liegt jedoch nicht nur an den ständig wechselnden Genres, sondern auch am unterschiedlichen Gelingen der einzelnen Texte. Stark wirken Passagen, in denen Magnason die Dimensionen des globalen Wandels anhand der Geschichte seiner eigenen Familie greifbar macht: Im Jahr 1921, als sein Großvater Björn geboren wurde, produzierte Island gerade mal ein Megawatt Strom, heute sind es jährlich 2700 Megawatt.
Die rücksichtslose Ausbeutung der Erde durch den Menschen wiederum hebt Magnason mit originellen Zahlenspielen und Vergleichen ins Bewusstsein, so entspricht der CO2-Ausstoß etwa den Emissionen von 600 Vulkanen, die Tag und Nacht Feuer speien, und würde man hundert Millionen Autos ins Weltall schießen, würden sie in tausend Kilometern Höhe wie zwei Saturnringe um die Erde kreisen.

Wo bleibt die Hoffnung?

Die populärwissenschaftlichen Passagen über den Klimawandel sind dagegen oft flach und redundant: Dass die Ozeane versauern und wir dringend CO2 reduzieren müssen, ist nichts Neues, ebenso wenig die Klage darüber, dass niemand die Notbremse zieht. "Welche Worte sind imstande, die Welt zu erklären?", fragt sich Magnason zu Recht. Die Reflexion über das Unvermögen der Sprache ist im Buch ein roter Faden, der die auseinanderstrebenden Teile zusammenhält.
Wörter wie Klimawandel, Rekordhitze, Treibhauseffekt seien ein bloßes Rauschen, diese Begriffe bildeten "ein schwarzes Loch, das alle Bedeutung schluckt". Immer wieder überrascht uns Magnason mit gewagten poetischen Formulierungen: Der Mensch erscheint etwa als "Primatenart, die die kohlschwarzen Adern der Erdkruste öffnet".
Jedem Buch über den Klimawandel ist die Frage nach der Hoffnung eingeschrieben. "Ich merke, wenn ich meine Gedanken beruhige, wird am Ende alles gut, sogar, wenn das Schlimmste eintrifft", so versucht Magnason, sich zu trösten angesichts unserer Unfähigkeit zum Handeln. Die Lebensspanne von der Urgroßmutter seiner Tochter bis zu deren eigenen Urenkeln bemisst Magnason mit 260 Jahren, mit dieser Rechnung zeigt er, wie nah uns die Zukunft ist. Wer hätte 1916 ahnen können, was in den folgenden hundert Jahren geschehen würde? Mit dieser Frage legt Magnason nahe, dass ausgerechnet die Ungewissheit der Zukunft ein Anlass für Hoffnung ist.

Andri Snaer Magnason: "Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft"
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
304 Seiten, 24 Euro

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