Andreas Schaefer: Griechenland wird von Misstrauen zusammengehalten

Andreas Schaefer im Gespräch mit Frank Meyer · 05.01.2012
Als "deutscher Mitteleuropäer" fühlt sich der deutsch-griechische Schriftsteller Andreas Schaefer. An Deutschland schätze er, dass das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den Institutionen mehr auf Vertrauen und auf Transparenz beruhe als in Griechenland.
Frank Meyer: Europa steckt in einer Krise - Schuldenkrise, Finanzkrise, Eurokrise -, und das Auseinanderbrechen Europas wird an die Wand gemalt. In dieser Situation haben sich vier gestandene Intellektuelle zusammengetan und ein mahnendes Pro-Europa-Manifest verfasst. Die französischen Philosophen André Glucksmann und Bernard Henri Levy haben dieses Manifest gemeinsam mit den deutschen Schriftstellern Hans Christoph Buch und Peter Schneider veröffentlicht. die Vier sind alle in den 40er-Jahren geboren. Wie wichtig ist Europa für jüngere europäische Intellektuelle? Das fragen wir hier in einer Gesprächsreihe im "Radiofeuilleton". Zwei ganz unterschiedliche Antworten darauf gaben der deutsche Regisseur Hannes Stöhr und der polnische Filmemacher Stanislaw Mucha.

Jetzt ist bei uns im Studio der deutsch-griechische Schriftsteller Andreas Schaefer, Jahrgang 1969. Seien Sie herzlich willkommen!

Andreas Schaefer: Guten Tag, Herr Meyer!

Meyer: Also wir haben zwei Statements gehört. "Europäische Identität ist Humbug", sagt Stanislaw Mucha. "Ich habe Europa nie so stark empfunden wie jetzt", sagt Hannes Stöhr. Wie geht es Ihnen, wie stark empfinden Sie Europa in dieser Krisensituation?

Schaefer: Also ich würde eigentlich beiden Vorrednern sozusagen zustimmen. Auf der einen Seite finde ich auch, dass es keine europäische Identität gibt, oder zumindest kann man sie nicht sozusagen herbeireden oder versuchen herzustellen. Das Manifest war jetzt ja auch der Versuch, sozusagen sprachmagisch, dass sich eine Realität einstellt, wenn man sehr oft und sehr lange von Europa und der Demokratie spricht. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine europäische Identität gibt.

Meyer: Aber lassen Sie mich da nachfragen: Gibt es nicht etwas, was uns verbindet, gemeinsame Werte, gemeinsame Tradition in diesem Europa, was auch so etwas wie eine Identität herstellt? Oder konkreter gefragt: Wenn Sie im Ausland sind, in den USA sind, sind Sie dann nicht als Europäer dort unterwegs?

Schaefer: Ja, natürlich. Es gibt sozusagen ein europäisches Gefühl, und es gibt vielleicht auch ein Zugehörigkeitsgefühl, was aber erst konkret wird, wenn ich woanders bin, ja? Und dann manifestiert sich so etwas wie Identität, die aber in Wirklichkeit ja eine fließende Veranstaltung, eine fließende Sache ist. Aber wenn ich natürlich in Amerika sitze, und der Amerikaner sagt, ach ja, ihr, der Italiener und ich - sagen wir mal -, ihr Europäer, dann kommt so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl auf, was aber in dem Augenblick, in dem ich hier bin, sich sozusagen sofort wieder auflöst mehr oder weniger. Auf der anderen Seite ist es natürlich schon so, wie der Herr Stöhr gesagt hat, dass Europa ja eine sehr starke Realität geworden ist. Europa ist da, wir leben in Europa, und das empfinde ich auch. In bestimmten Situationen taucht sozusagen die Idee von Europa sehr plastisch auf.

Meyer: Welche Situationen sind das?

Schaefer: Na ja, zum Beispiel geht unsere Tochter, die ist jetzt fünf, zu einer deutsch-griechischen Kita, und dann hat sie vor kurzem, kam sie aus der Kita vor Weihnachten und hat dann für sich angefangen, Weihnachtslieder zu singen, und zwar auf Deutsch und auf Griechisch und ein bisschen Englisch - "Jingle Bells" war auch noch dabei -, das hat mich sehr bewegt, und ich habe nicht gedacht, ach ja, jetzt lebe ich gewissermaßen in einem multikulturellen Berlin oder in Deutschland, sondern da kam so ein Blitz, ja, das ist das neue Europa. Und das hat mich vor allem auch deshalb bewegt, weil im Kontrast zu meiner eigenen Situation, als ich Kind war, also deutsch-griechisches Kind in Frankfurt am Main, ganz normale, einfache bürgerliche Verhältnisse, da gab es keine deutsch-griechische Kita. Und wenn dann da damals das Ausländerkind mehr oder weniger seine Sprache lernen sollte oder wollte, dann ging man so ein bisschen verschämt nachmittags in diesen heimatkundlichen Unterricht, der dann in leeren, frisch gebohnerten Grundschulen stattgefunden hat, das war so ein bisschen verschämt und versteckt.

Meyer: Also da ist Europa weiter gekommen?

Schaefer: Da ist Europa viel weiter gekommen, ich meine, sehen Sie sich an die Situation in Berlin hier - also die Tatsache, dass so viele Touristen hierher kommen, dank Easyjet, muss man ja sagen, oder nicht nur das, sondern dass die Jugend, Europas Jugend eigentlich hier gewissermaßen so eine Art Partypraktikum macht, nach dem Abitur, ein kollektives, oder dass ...

Meyer: Wobei man sich das auch nicht unbedingt als europäischen Traum vorgestellt hat, oder? Europa als vereinigte Partyzone?

Schaefer: Nein, natürlich nicht, aber das ist ja auch nur ein Aspekt davon, und die meisten gehen ja wieder nach Hause, wenn sie nicht hierbleiben, um zu arbeiten, aber sie nehmen dann ja sozusagen ein Stück Berlin und ein Stück Erfahrung mit, und das fließt ja sozusagen in ihr Bewusstsein und in ihr Leben jetzt in ihren Heimatländern wieder ein, aber zum Beispiel, dass in Berlin auch viele skandinavische Arbeitnehmer oder Unternehmer gewissermaßen hierherkommen und hier ihre Startups gründen, weil es Easyjet gibt und man billig fliegen kann, und zweitens, weil die Mieten hier viel günstiger sind als im Norden. Europa liegt vor unserer Tür.

Meyer: Ich hätte gedacht, dass Sie zusammenzucken, wenn Stanislaw Mucha sagt, es gibt keine europäische Identität, man ist entweder Pole oder entweder Russe - interessant auch, dass er die Russen da mit einbezieht - oder entweder Deutsche. Sie sind ja nun - haben eine griechische Mutter, einen deutschen Vater - als was empfinden Sie sich? Nicht dann doch als Europäer?

Schaefer: Nein, ich würde mich schon eher, wenn, dann als Mitteleuropäer empfinden, also schon mehr als Deutscher - das war mal anders, es gab so eine Zeit mit 25, da wusste ich nicht so genau, dann bin ich auch nach Griechenland gegangen und habe mir die Gesellschaft sozusagen für ein Jahr mal angeguckt, wie sich das anfühlt. Aber jetzt, auch durch die Krise, wo ich oft in Griechenland war und auch über Griechenland geschrieben habe, muss ich ganz klar sagen, ich fühle mich als deutscher Mitteleuropäer, denn ich habe zu schätzen gelernt die Verfasstheit unserer Gesellschaft und wie hier sozusagen das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den Institutionen doch mehr auf Vertrauen und auf Transparenz beruht als in Griechenland.

Meyer: Was ist da anders in Griechenland?

Schaefer: Griechenland ist verbunden und wird zusammengehalten von Misstrauen und Angst. Und das spiegelt sich auf allen Ebenen gewissermaßen wieder. In Griechenland ist es ja Volkssport, Steuern zu hinterziehen. Natürlich, überall werden Steuern hinterzogen, aber in Griechenland gehört das sozusagen zum guten Ton, keine Steuern zu zahlen, weil der Staat so korrupt ist, weil man vom Staat nicht die Serviceleistungen bekommt, die man eigentlich erwarten darf, wenn man Steuern zahlt. Also man kann nicht richtig zum Arzt gehen, die Schule ist katastrophal, alles läuft hintenrum, man muss schmieren und so weiter. Also manifestiert sich gewissermaßen so ein Bewusstsein: Ich muss betrügen, denn sonst werde ich selbst betrogen. Es ist sozusagen so eine Art Selbstbild des Durchwurschtlers gewissermaßen, und dieses System ist ja jetzt zusammengebrochen. Die Leute merken, so kann es nicht weitergehen, aber sie wissen nicht, was stattdessen kommt. Sie sind sozusagen nicht eingeübt in einem vertrauensvollen Umgang miteinander. Sie haben kein Vertrauen zum Anderen, sie haben nicht gelernt, wie das funktioniert.

Meyer: Was Sie beschreiben als Skepsis - mal vorsichtig gesagt - des griechischen Bürgers gegenüber den staatlichen Institutionen, bezieht sich das auch auf das Verhältnis vieler Griechen zu Europa, ist das auch eher, empfinden Sie das eher als eine Institution des Zwangs als einen Raum der Freiheit?

Schaefer: Das ist bestimmt sehr durchwachsen. Es ist natürlich immer schwierig, von Kollektiven zu sprechen, aber Griechenland sieht sich auf der einen Seite sehr stark als Ursprung Europas, aber dahinter eigentlich als nicht zugehörig. Also eigentlich steht es uns zu, dazuzugehören, auf der anderen Seite sind wir aber immer das fünfte Rad am Wagen, und wir werden nicht wirklich ernst genommen. Deshalb wird ja auch die ganze Zeit sozusagen auf der Vergangenheit rumgeritten.

Meyer: Mit Vergangenheit meinen Sie jetzt die frühe Antike, die ganz alte Vergangenheit?

Schaefer: Die Antike sozusagen, die ganz alte Vergangenheit, ja, die aber eigentlich nur so eine Art Deckmantel ist, um die fast mittelalterlichen Zustände der Realität zu überdecken.

Meyer: Gestern sind zum ersten Mal Artikel aufgetaucht, in denen ein Tabu gebrochen wurde, was bis dahin galt, und in denen griechische Regierungsvertreter ganz offen von der Möglichkeit gesprochen haben, doch aus dem Euroraum auszutreten und zur Drachme zurückzukehren. Können Sie sich das vorstellen, dass Griechenland vielleicht schon in wenigen Monaten in diesem Sinne nicht mehr zu Europa gehört, also nicht mehr zum Euroraum gehört?

Schaefer: Nein, vorstellen kann ich mir das nicht. Ich meine, wenige können sich vorstellen, was dann eigentlich passiert, was das bedeutet, wie arm dann die Menschen werden, wie die Zustände sein werden. Ich würde es bedauern, sehr bedauern, auf der anderen Seite habe ich auch das Gefühl, dass es nicht so weitergehen kann, dass ständig da Geld rein gepumpt wird und sich immer wieder neue und noch größere Löcher auftun. Also jetzt sozusagen für die Volkspsyche wäre es vielleicht hilfreich, wenn da mal ein richtiger Zusammenbruch kommt, damit die sich ein bisschen auf einer neuen Ebene zusammenraufen.

Meyer: Wir sprechen ja hier in dieser Reihe im Deutschlandradio Kultur mit jüngeren europäischen Intellektuellen ganz verschiedener Herkunft darüber, wie sie, wie ihre Idee von Europa ist in dieser Krisensituation, wie sie auch ihre eigene Verantwortung wahrnehmen innerhalb dieses Europas als Intellektuelle, als Menschen mit einer Stimme. Das haben wir gestern die Autorin Marica Bodrožić gefragt. Sie lebt in Berlin, aber sie kommt aus Kroatien, und sie hat folgendes dazu gesagt:

Marica Bodrožić: ... wenn wir schauen, wie das jetzt in Ungarn sich verändert, die Situation dort. Eigentlich dachte ich, es gibt nur noch eine Diktatur, und das ist die in Weißrussland, und ich hoffe, dass es sie bald nicht mehr geben wird. Aber wenn wir sehen, wie sich das in Ungarn verändert, ist das sehr beunruhigend, aber da hat eben Europa, und die europäischen Intellektuellen haben da eine wichtige Rolle und sollten auch ihre Stimmen erheben.

Meyer: Was halten Sie davon? Sehen Sie auch für sich selbst, vielleicht nicht im Blick auf Ungarn, anderswohin, so etwas wie eine Verantwortung für sich als europäischen Intellektuellen?

Schaefer: Ja, ich finde natürlich die Situation oder die Entwicklung in Ungarn auch sehr beunruhigend. Die Verantwortung als Europäer sehe ich für mich persönlich jetzt eher woanders. Es heißt ja immer, dass jetzt die ganzen Grenzen aufgegangen sind. Das ist ja auch Fakt, das ist ja so. Die sind aber ja nicht verschwunden, die haben sich ja nur verschoben an den äußeren Rand. Und für mich wäre sozusagen auch im Sinne der Aufklärung eine europäische Verantwortung eigentlich, immer diese Grenzen mitzudenken, und auch an die zu denken und die im Bewusstsein zu behalten, die nicht dazugehören, die außerhalb sind, und nicht eine europäische Identität als sozusagen so eine Art Abgrenzungsstolz zu zelebrieren.

Meyer: Was bedeutet Europa für jüngere Intellektuelle? Morgen setzen wir diese Reihe an dieser Stelle fort mit dem Autor Maxim Leo, dann wird es um seine Herkunft aus der DDR und seinen Blick auf Europa geben. Heute war Andreas Schaefer bei uns. Ich danke Ihnen sehr!

Schaefer: Ich danke Ihnen auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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