Literaturhinweis
Andreas Hepp: „Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft“
Herbert von Halem Verlag (2021)
350 Seiten, 29 Euro.
Medienwissenschaftler Andreas Hepp
Smartwatches wurde von Menschen im Silicon Valley imaginiert, die Daten über sich selbst erhoben und gesammelt haben. Andreas Hepp nennt diese Gruppen "Pioniergemeinschaften". Um die Digitalisierung zu verstehen, lohne es sich, auf diese Gemeinschaften zu achten, sagt er. © Getty Images / rambo182
Digitalisierung muss sich am Gemeinwohl orientieren
29:57 Minuten
Mit guten digitalen Technologien entsteht nicht automatisch eine gute Gesellschaft, sagt Andreas Hepp. Es bedürfe politischer Steuerung. Statt kleinteiliger Verwaltung seien vor allem Vertrauen in die Akteure und konsequente Förderung von Ideen nötig.
Fast 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sehen die Digitalisierung als Chance. Das ist das Ergebnis einer jüngst vorgestellten Studie der Initiative „Digital für alle“. Zugleich glauben aber mehr als jeder zweite der Befragten, dass der digitale Wandel das Land und die Gesellschaft spalte – in diejenigen, die an der Digitalisierung teilhaben, und solche, die ihn nicht oder nur sehr eingeschränkt erleben.
Für den Bremer Medien- und Kommunikationswissenschaftler Andreas Hepp ist das nicht nur eine Frage des Netzausbaus und der technischen Infrastruktur, sondern eine komplexe gesellschaftliche und politische Konstellation: Es gehe auch um Fragen der Zugangsgerechtigkeit, der Bildung, des Lebensalters, der Stadt-Land-Verteilung und vielem mehr.
Von der Avantgarde zur Massenbewegung
Man soll dabei nicht nur auf Plattformen wie Facebook oder Google starren wie das gesellschaftliche Kaninchen auf die kapitalistische Schlange, betont Hepp: Um den Prozess der Digitalisierung zu verstehen und um zu erkennen, wohin sich die digitale Gesellschaft bewege, lohne es sich, auf das zu achten, was am Anfang solcher Entwicklungen steht.
Hepp nennt das „Pioniergemeinschaften“. Das sind Gemeinschaften, die bestimmte digitale Entwicklungen vorwegnehmen, den narrativen Humus stiften, auf dem dann breitenwirksame Entwicklungen entstehen können.
Smartwatches etwa sind heute ein Massenprodukt, mit dem man in großer Zahl Gesundheitsdaten sammelt. „Das Ganze wurde imaginiert von der Quantified-Self-Bewegung“, erklärt Hepp, „einer Gruppe von Leuten, die über das Silicon Valley zusammengefunden haben, ungefähr zehn Jahre, bevor das Unternehmen in größerem Stil aufgegriffen haben, als es also noch keine Apple Watch gab, als es bei Google noch keinen Bereich gab, der das Ganze vermarktet hat.“
An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Wunsch nach größerer Autonomie durch das Wissen um die eigenen Gesundheitsdaten im Alltags-Tracking in sein Gegenteil umschlagen kann, wenn die Smartwatch Ziele vorgibt, denen man zu folgen hat.
Digitalisierung und Gemeinwohl
Für Hepp ist die sogenannte kalifornische Ideologie, die gerade diese Pioniergemeinschaft leitet, problematisch, also „die Vorstellung: Es kommt nur darauf an, auf die richtigen Technologien zu setzen, dann kommt die ‚richtige Gesellschaft’ raus“. Das sei eben nicht der Fall.
Zudem sei – so produktiv Pioniergemeinschaften auch seien – in ihnen ein rein individualistisches Menschenbild dominant, das eine Gemeinwohlorientierung in den Hintergrund dränge.
Gesellschaft zu gestalten, bleibe eine politische Aufgabe, gerade, wenn es um die digitale Entwicklung des Gemeinwesens gehe. Hier verstricke sich Deutschland aber in kleinteiliger Verwaltung und umständlicher Steuerung, nicht nur auf der Ebene des Bundes, der Länder und Kommunen, sagt Hepp.
Unternehmerischer Mut ist gefragt
Auch die Unternehmen haben ihren Anteil daran, dass eine am Gemeinwohl orientierte Digitalisierung in Deutschland so schwer umzusetzen ist.
Für den Aufbau einer Karitativ-Plattform sei beispielsweise kaum Geld von einer deutschen Bank zu erwarten, sagt Hepp. „Da sind die Möglichkeiten und die Risikobereitschaft relativ limitiert.“
Weil die digitale Entwicklung so unglaublich schnelllebig ist, wird es keinen Sinn haben, sie mit einem Verwaltungs- und Vorschriftenapparat zu umstellen. „Man müsste wesentlich mehr Vertrauen in die Akteure haben – dann kann eine größere Dynamik entstehen.“