Andreas Gehrlach: "Das verschachtelte Ich"

Ich bin mehr als mein Besitz

33:25 Minuten
Einfach eingerichtetes Schlafzimmer mit schmalem Regal und wenig Büchern.
Eigentlich brauchen wir nur ein paar Habseligkeiten zum Glücklichsein. © imago/Jürgen Schwarz
Andreas Gehrlach im Gespräch mit Joachim Scholl · 29.07.2020
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Manche Dinge sind uns so wichtig wie ein Körperteil, meint der Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach. Andere Dinge konsumieren wir sinnlos. In seinem Band "Das verschachtelte Ich" reflektiert er diese sehr unterschiedlichen Arten des Besitzens.
In seinem Buch "Das verschachtelte Ich" reflektiert der Kulturwissenschaftler Andreas Gehrlach unser Verhältnis zu den Dingen, die wir besitzen.
In mehreren kurzen Essays begibt er sich dabei in die Kulturgeschichte, unter anderem ins alte Rom.
Schon die römischen Legionäre hätten ihre wenigen privaten Dinge in einer Umhängetasche, dem loculus, bei sich tragen dürfen. Loculus bedeute "kleiner Ort" oder "Örtchen", er könne aber auch mit Schmuckschatulle oder Geldbeutel übersetzt werden.
Gehrlach erkennt in der Umhängetasche des römischen Legionärs einen "Individualraum des Besitzes", der schon bei den Römern als identitässtiftend angesehen wurde.

Freuds Patientin Dora verteidigt "Räume"

Ein anderes Beispiel führt Gehrlach zu Sigmund Freud und seiner Patientin Dora an. Der Analytiker Freud habe bei der Behandlung dieser Patientin etwas Zentrales nicht erkannt, kritisiert der Kulturwissenschaftler. Dies habe zu einer Fehlbehandlung geführt.
"Er hat übersehen, dass Dora ihre Räume, ihre Orte immer zu verteidigen versucht hat, gegen Freud als Therapeuten, gegen ihren Vater, gegen den Mann, der so sehr in sie verliebt war und übergriffig wurde."
Dora habe ihren Schreibtisch, ihre Handtasche und ihr Zimmer verteidigt und zwar als einen Raum, in dem sie aufbewahrt war und sich sicher gefühlt hat. "Freud hat das nicht ganz erspüren können, wie wichtig das für Dora war."

Wir denken im "Modus des Mehr"

Die Wichtigkeit einzelner Gegenstände oder "Räume" in unserem Leben, die sich durch das enge Verhältnis zum eigenen Körper bestimme – Gehrlach spricht von "außerkörperlichen Organen" –, kontrastiert der Kulturwissenschaftler mit unserem exzessiven Verlangen nach Eigentum.
"Wenn Sie sich umsehen, sehen Sie, dass jeder einzelne Gegenstand wie unsichtbar mit einem Namen markiert ist", sagt er. "Alles um uns hier hat einen Eigentümer, alles gehört jemandem, und es gehört immer jemandem als ‚meins’ oder ‚deins'. Das führt dazu, dass wir glauben, immer mehr an Eigentum anhäufen zu können."
Gehrlach kritisiert dieses Verlangen. "Wir haben ein riesengroßes Problem, dass wir immer nur im Modus des Mehr denken können", sagt er.

Andreas Gehrlach: Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums
Matthes & Seitz, 159 Seiten, 12 Euro

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