Altersradikalität

Die Eindeutigkeit des Rentnerblicks

Kabarettist Hans-Joachim Heist alias Gernot Hassknecht. Der aus der "Heute Show" bekannte Schauspieler während seines Kabarett-Programms in Landshut 2014.
Prototyp des starrsinnigen Wutbürgers: die Kunstfigur Gernot Hassknecht (Kabarettist Hans-Joachim Heist). © Jens Niering
Überlegungen von Arno Frank · 21.12.2018
Wenn in einer überalterten Demokratie die Mehrheit das Sagen hat, bestimmen unweigerlich die Rentner den Kurs. Was früher als Starrsinn belächelt wurde, kann dann Gesetz werden. Da hilft nur eins, meint Autor Arno Frank: gedanklich geschmeidig bleiben.
Das Alter ist nicht neu. Die Beschwerlichkeiten, die es mit sich bringt, sind Gegenstand schon der ältesten Gesänge der Menschheit. Alt ist auch die ewige Klage über die Jugend, ihren Leichtsinn, ihr mangelndes Festhalten am Überlieferten. Historisch neu hingegen ist, dass in den Zivilisationen der westlichen Welt die Alten keine bestaunenswerte Minderheit mehr sind, sondern eine Mehrheit.
Was früher als guter Rat aus dem Mund betagter und damit erfahrener Menschen angenommen oder ausgeschlagen werden konnte, das wird heute: Gesetz. Und was früher als Starrsinn belächelt wurde, erlangt eine politische Qualität – als Altersradikalität.
Ein Kampfbegriff, der gerade Karriere macht. Denn: Wenn in einer überalterten Demokratie die Mehrheit das Sagen hat, dann bestimmen unweigerlich die Alten den Kurs.

Vor allem Rentner stimmten für den Brexit

Wohin das führen kann, ließ sich bei der Abstimmung über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ablesen. Eine radikale Frage. Unter Menschen im Rentenalter wollte eine überwältigende Mehrheit von 63 Prozent ihr "merry old England" zurück. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es nur 20 Prozent. Auch hierzulande sind es mehrheitlich ältere Menschen, die konservativen bis radikalnostalgischen – also reaktionären – Parteien zu Wahlerfolgen verhelfen.
Und wer wollte es ihnen verdenken? Wer beim Blick nach vorne die eigene Endlichkeit sieht, der schaut ganz gerne zurück. Wobei das Alter ja eigentlich noch den Vorteil der Erfahrung haben könnte, der Erfahrung eines ganzen Lebens, dass zu so etwas wie Weisheit führt.

Schon alles gesehen, schon alles durchschaut

Zu beobachten ist aber oft das Gegenteil, die geriatrische Verhärtung. Eine kalte Altersradikalität, die der Publizist Alexander Kluge, selbst 83, unlängst "die Eindeutigkeit des Rentnerblicks" nannte. Das vermeintliche Bescheidwissen von Leuten, die schon alles schon gesehen, alles durchschaut und ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht haben und von dem Wunsch geleitet sind, alles möge wieder so werden, wie es nie war.
Menschen also, die sich "nix mehr erzählen" und "nicht den Mund verbieten" lassen wollen. Warum auch? Wissen sie doch nur allzu genau, wo der Hase hoppelt. Sie begegnen uns auf Familienfesten, wenn es um den Braten geht oder die Berufswahl des Neffen. Sie begegnen uns in den Kommentarspalten der Medien, wenn es um Europa geht oder Migration. Sie begegnen uns vor der Wahlkabine. Und sie begegnen uns, wenn wir ehrlich sind, bisweilen sogar im Spiegel.

Zwischen Geschmeidigkeit und Starrsinn

Es verläuft eine feine, aber tiefe Bruchlinie quer durch die Gesellschaft. Nicht zwischen links und rechts, arm und reich, oben und unten. Und auch nicht zwischen jung und alt. Sondern zwischen warm und kalt. Zwischen Geschmeidigkeit und Starrsinn, also zwischen lebendigem Zweifel und endgültigem Bescheidwissen. Sie geht nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch mitten durch uns selbst.
Wahrscheinlich muss man den radikalen Alten einige ihre teuren Gewissheiten nehmen. Wichtiger ist es aber, sie genau zu beobachten, ihnen zuzuhören – und dabei in sich selbst hineinzulauschen. Moment, ist da gerade eine Meinung eingerastet? Seit wann ist diese Erkenntnis einbetoniert?
Denn Gelenkigkeit, auch geistige, lässt sich trainieren. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich war 92 Jahre alt, als sie sich fragte: "Verfolgen wir mit Radikalität als alte Menschen nicht auch das Ziel, wenn nicht jetzt, wann sonst wollten wir die Welt verändern?"

Arno Frank, 1971 in Kaiserslautern geboren, ist Publizist. Von 1999 bis 2011 war er bei der Tageszeitung "taz" in verschiedenen Funktionen tätig – zuletzt als Ressortleiter des von ihm mitgegründeten Gesellschaftsteils. Seit 2011 schreibt er als freier Autor, unter anderem für den "Spiegel", "Spiegel Online" und "Die Zeit". Als Essayist und Schriftsteller veröffentlichte er bisher "Meute mit Meinung – Versuch über die Schwarmdummheit" (2013) und den autobiografischen Roman "So, und jetzt kommst du" (2017).

© picture alliance / ROPI / Anna Weise
Mehr zum Thema