Ostpreußen-Kaliningrad

Wie entstand die russische Exklave?

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Polnischen Soldaten tragen Stacheldraht und errichten eine Barriere an der polnisch-russischen Exklave Kaliningrad.
Mit Stacheldraht sichern polnische Soldaten die polnisch-russische Grenze zur Exklave Kaliningrad. © picture alliance / AA / Omar Marques
Von Martin Sander · 30.11.2022
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Den Krieg in der Ukraine begründet Putin unter anderem mit historischen Ansprüchen. Ein Argumentationsmuster, das sich auch schon im Fall Kaliningrad nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen lässt, als das Gebiet der Sowjetunion zufiel.
Mit spitzen Metallpfosten und Stacheldrahtrollen sichern polnische Soldaten im November 2022 ihre einzige Grenze zu Russland, die Grenze zum Kaliningrader Gebiet.
Zuvor hatte Vladimir Putin gedroht, Flüchtlinge aus aller Welt dorthin zu bringen, um sie dann in die EU zu schleusen. „Ich habe Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit an der polnischen Grenze zum Kaliningrader Gebiet getroffen, indem diese Grenze abgedichtet wird“, gibt Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak daraufhin bekannt.

Unter wechselnder Herrschaft

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verläuft die erst polnisch-sowjetische, heute polnisch-russische Grenze durch eine alte mitteleuropäische Kulturlandschaft. Hier, zwischen den Ufern von Weichsel und Memel, lebten bis zum Mittelalter vor allem Angehörige des baltischen Volks der Preußen. Um die heidnischen Preußen zu christianisieren, kam der deutsche Ritterorden ins Land und befestigte dabei auch seine weltliche Herrschaft. Später, 1525, wechselte Albrecht von Hohenzollern, der letzte Hochmeister des Ordens, zum Protestantismus. Preußen wurde zu Ostpreußen und als solches Teil des Hohenzollernstaats.
Als dann am Ende des Ersten Weltkriegs, 1918, Polen wieder ein selbstständiger Staat wurde, lag das polnische Staatsgebiet zwischen Ostpreußen und Deutschland, Ostpreußen verlor seine Landverbindung zum Deutschen Reich.

Ein Stück Ostpreußen für die Sowjetunion

Mit der Existenz dieser deutschen Exklave an seiner Nordostgrenze konnte sich Polen nur schwer abfinden. Im Zweiten Weltkrieg formulierten polnische Politiker denn auch die Übernahme ganz Ostpreußens als Kriegsziel – mit Unterstützung der Sowjetunion.
„Auf der Ebene der Alliierten hat Stalin schon Ende Dezember 1941 dem britischen Außenminister Anthony Eden vorgeschlagen, dass ganz Ostpreußen an Polen abgetreten werden sollte“, sagt die Osteuropa-Historikerin Ruth Leiserowitz. Doch dann entwickelte die Sowjetführung Appetit auf ein eigenes Stück Ostpreußen. „Bei der Konferenz in Teheran im Dezember 1943 redet Stalin nicht mehr darüber, dass es an Polen fallen soll. Er äußert den Wunsch, dass das nördliche Ostpreußen einschließlich Tilsit und Königsberg an die Sowjetunion kommen soll“, so Leiserowitz.

Vorzeigbare Trophäe

Stalins Argument: Die Sowjetunion benötige einen im Winter eisfreien Ostseehafen. Den würde sie in den Königsberger Hafenanlagen vorfinden, die Deutschland zwischen den Weltkriegen ausgebaut hatte. „Natürlich ist dieser Hafen niemals eisfrei gewesen“, sagt Leiserowitz. Das sei nur eine Formel gewesen, auf die man sich unter den Alliierten geeinigt habe, weil es anscheinend ein griffiges überzeugendes Argument war. „Das wahre Interesse Stalins bestand einfach darin, dass er einen traditionellen Krieg geführt hat, bei dem er sehr traditionelle Ergebnisse sehen wollte: Gold, Arbeitskräfte und Land. Er brauchte diesen Landgewinn als vorzeigbare Trophäe.“

Eine russische Strategie

Aus Sicht des polnischen Historikers Robert Traba eine „sowjetische Strategie“, die später auch Russland verfolgte. „Erst einmal besetzen wir eine Exklave. Dann nutzen wir sie als politisches Instrument.“
Traba hat die Geschichte Ostpreußens erforscht. Er lebt in Olsztyn, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Allenstein. Die Stadt liegt im heute polnischen Teil Ostpreußens, 80 Kilometer südlich vom Kaliningrader Gebiet. „Stalin hat gesagt, er werde keinen Fitzel dieser ostpreußischen Erde wieder hergeben. Er entwickelte dann eine ganze Theorie, um diesen Anspruch historisch zu begründen“, sagt Traba.

Historisch dürftige Belege

Stalins Beweislage war dürftig: Russische Truppen hielten Königsberg während des Siebenjährigen Kriegs von 1758 bis 1762 besetzt, und 1914 focht das Militär des Zarenreichs verlustreiche Kämpfe mit den Deutschen in Ostpreußens aus.
Erstaunlicherweise diente das nicht nur Stalin, sondern auch Churchill am Ende des Zweiten Weltkriegs als Argument, so Ruth Leiserowitz. „Churchill sagt, er habe Mikołajczyk, den polnischen Premierminister im Exil, daran erinnert, dass die russischen Armeen in den Schlachten im Sommer und Frühherbst 1914 sehr viele Menschen verloren und sie daher ein Anrecht auf die von russischem Blut getränkte Erde hätten.“

Alliierte unterstützten Annexion

Auf der Potsdamer Konferenz 1945, nach der Kapitulation Nazideutschlands, war die sowjetische Annexion des nördlichen Ostpreußens Konsens unter den Alliierten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Sowjets bereits mit dem Aufbau der Grenze begonnen. Sie zog sich ungefähr 50 Kilometer südlich von Königsberg in Ost-West-Richtung.
Königsberg wurde zu Kaliningrad und das umliegende Neuland nannte sich fortan Kaliningrader Gebiet nach Michail Kalinin, dem langjährigen Vorsitzenden des obersten Sowjets. Die Annexion missfiel nicht nur den polnischen Exilpolitikern, sondern auch den sowjettreuen polnischen Kommunisten.
„Die polnischen Kommunisten wollten eigentlich auch ganz Ostpreußen haben“, beschreibt die Historikerin Ruth Leiserowitz die damalige Situation. „Aber man muss sich ja vorstellen, dass der südliche Teil von Ostpreußen auch durch die Rote Armee besetzt war und die Polen da nicht so freie Hand hatten.“

Streng bewachter Sperrbezirk

Auf der Landkarte sieht die Grenze zwischen Masuren, also dem polnischen, südlichen Teil Ostpreußens und dem Kaliningrader Gebiet aus wie mit Lineal gezogen – so, wie die europäischen Kolonialmächte in ihren Kolonien willkürlich Grenzen gezogen hatten. Nur hier und da wirkt der Strich etwas zittrig, nicht ohne Grund.
Man habe die Grenze gezogen und dann ohne jede Absprache um ein paar Kilometer verlegt, zum Beispiel das Dorf Szczurkowo, das zunächst Polen zufiel. „Da hat man den nördlichen Teil einfach dem Kaliningrader Gebiet zugeschlagen, weil es da einen Kirchturm gab, der sich für die Sowjets als Beobachtungspunkt eignete“, weiß Robert Traba, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Masuren aufwuchs, also im polnischen Teil Ostpreußens.
Mein Vater landete 1952 im Gefängnis, weil er ein paar Freunden, die zu Besuch kamen, die Grenze zeigen wollte“, erzählt er. „Sie gingen aber zu nah heran, und mein Vater wurde als Spion eingesperrt.“ Bis zum Ende der Sowjetunion war das Kaliningrader Gebiet ein für Ausländer, aber auch viele Sowjetbürger unzugänglicher militärischer Sperrbezirk.

Zuzug aus den Sowjetrepubliken

Anstelle der geflüchteten und vertriebenen Deutschen wurden Neubewohner aus den Sowjetrepubliken angesiedelt: Russen, Russlanddeutsche, Juden, Belarussen und Ukrainer.
Mit der Unabhängigkeit Litauens und dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Kaliningrader Gebiet nach 1989 zur russischen Exklave zwischen Polen und Litauen. Deutsche Gebietsansprüche hatten sich erledigt, da die Wiedervereinigung 1990 mit der Anerkennung der deutsch-polnischen Oder-Neiße-Grenze verbunden war. Bald lockerte sich die Kaliningrader Abhängigkeit von Moskau – zumindest ein wenig. Es entwickelte sich ein offener Grenzverkehr mit den beiden Nachbarstaaten.
Dieser Öffnung hat Russlands Krieg gegen die Ukraine ein Ende gesetzt. Gerade in Kaliningrad lässt Vladimir Putin seither die Muskeln spielen. Die Exklave dient ihm als schwer bewaffneter Vorposten in seiner aktuellen Konfrontation mit dem Westen und, wie schon bei Stalin, als Teil einer blutgetränkten heiligen russischen Erde.
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