Als Fanny Berlin eroberte

12.07.2011
Zu seinem Markenzeichen hat Peter Härtling fiktive Künstlerbiografien gemacht. Er mixt darin verbriefte Tatsachen und erdachte Realität zu literarischen Momentaufnahmen. So auch im Fall der Komponistin Fanny Hensel-Mendelssohn.
Kosenamen sind verräterisch. Denn sie enthüllen im Kern alles über das Verhältnis zwischen Namenserfinder und Benanntem. So auch im Falle Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy. "Liebste Fenchel" nannte Felix, das Wunderkind in der Familie, seine ältere Schwester später in vielen Briefen, weil sie den manchmal kränklichen Knaben, immer wieder auf den Damm brachte, und zwar mit Fencheltee.

Wenn Peter Härtling seiner Romanbiografie über die bedeutendste Komponistin der Romantik diesen Titel gibt, ist die Richtung klar: Indem er die wechselvolle Beziehung der Geschwister in den Mittelpunkt stellt, schafft er die Folie, vor der sich Fanny Mendelssohns Lebenslauf zwischen mütterlicher Fürsorge und Selbstbehauptung vollzieht. Wie die nicht minder begabte junge Frau gegen den rivalisierenden Bruder besteht, wie sie sich aus dessen Schatten löst, sind die eigentlichen Höhepunkte des Buches.

Das großbürgerliche Elternhaus – ihr Vater Abraham Mendelssohn war einer der berühmtesten Privatbankiers in Deutschland – gewährt ihr eine vielseitige Bildung. Klavierunterricht erhält sie von der Mutter. Während Felix von den besten Lehrern ausgebildet wird, hat Fanny sich in Zurückhaltung zu üben. Eine Frau, so verfügt der gleichwohl von ihr über alles geliebte Vater, sei nicht für die Welt bestimmt, ihr gehöre das Haus und die Familie. Doch mit List und Einfallsreichtum gelingt es ihr, nachdem der Bruder in England Furore gemacht hat, die musikalische Öffentlichkeit Berlins zu erobern. In den stadtbekannten Sonntagskonzerten im Gartenhaus der Mendelssohns dirigiert die Enkelin des großen Moses Mendelssohn ihre eigenen Kompositionen.

Stets unzufrieden mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, reist sie an der Seite ihres Mannes, des renommierten Porträtmaler Preußens, Wilhelm Hensel, zweimal nach Italien. In Rom, dem Mekka der europäischen Kunstszene, entfacht sie bei jungen Kollegen wie Charles Gounod wahre Begeisterungsstürme.

Peter Härtling, mit seinen über 60 Romanen, Kinderbüchern, Gedicht- und Essaybänden nicht nur einer der produktivsten, sondern auch populärsten deutschen Schriftsteller, machte fiktive Künstlerbiographien zu seinem Markenzeichen. Wie schon in "Hölderlin" (1976), "Schubert"(1992) oder "Schumanns Schatten" (1996) folgt er auch in "Liebste Fenchel!" seinem bewährten Rezept der Annäherung an eine historische Figur. "Verbriefte" Tatsachen und erdachte Realität mixt er zu literarischen Momentaufnahmen.

Auf der Höhe seines Könnens bewegt er sich in der für ihn typischen, nur verhalten angedeuteten Schilderung dramatischer Situationen, wenn die Kinder aus Bad Doberan fliehen, weil sie als "Judenjungen" beschimpft werden oder Fanny nur mühsam Haltung bewahrt, als Goethe im Haus am Frauenplan wiederholt den gefeierten Felix empfängt, während sie nur "schöne Grüße" erhält.

Immer wieder schaltet sich der Erzähler mit zweiflerisch-rhetorischen Fragen - derart wie: "Warum hat sie…", "Ob sie wohl…". "Ich frage mich…" - selbst ins Geschehen ein. Wenngleich dieses Verfahren der wohltuenden Distanzierung dient, wirkt es manchmal etwas gespielt. Auch der Figur der Fanny hätte man ab und zu einen Neidanfall, einen Ausbruch der Gefühle gegönnt. Doch eine solche Schwäche aus Empathie verzeiht man dieser angenehm uneitlen, pathosfreien Biografie gern.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Peter Härtling: Liebste Fenchel! Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
375 Seiten, 19,99 Euro
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