Alles hat einen doppelten Boden
24.08.2012
Ein junger Engländer in Ceausescus Rumänien: Er bekommt einen Job, obwohl er nicht zum Vorstellungsgespräch gereist ist, lernt einen Kollegen kennen, der mit dem Verkauf von Kunstschätzen sein Geld verdient und reist durch Ober- und Unterwelt.
Der junge Engländer, der in Patrick McGuinness' Roman "Die Abschaffung des Zufalls" 1989 nach Rumänien reist, muss nicht an Dracula erinnert werden und auch nicht an Vlad den Pfähler, dessen Legende Bram Stoker verwendete. Die surrealen Zustände im Reich Ceauşescus genügen vollkommen, um ihn schaudern zu lassen.
Der Erzähler und namenlose Reisende eilt von der Beerdigung seines Vaters zum Flughafen Heathrow. Zu seiner Überraschung hat er eine Stelle an der Bukarester Universität bekommen, obwohl er zum Vorstellungsgespräch gar nicht erschienen war. Eben dieses Gespräch habe er beeindruckend gemeistert, versichert ihm sein Anglistenkollege Leo O`Heix in einem Bukarester Luxusrestaurant der Nomenklatura nach einer Fahrt durch Straßen, aus deren Schwärze sich nur Kräne, Bagger und alle paar Meter Männer in grauen Uniformen herausschälen.
O`Heix ist auch Buchautor und der König des Schwarzmarkts. Er versorgt die Minister mit Gütern aus jenen Kirchen und ganzen Stadtvierteln, deren Abriss die Genossen erst am Morgen angeordnet haben. Die Abbruchwut des Conducătors macht O'Heix reich, verwandelt aber sein Buch über Bukarest schneller, als er schreiben kann, in ein Epitaph. Trauernd geht er über schnurgerade Straßen im Niemandsland und evoziert das verschwundene Gassengewirr. O'Heix gleicht Hermes, dem Schutzgott der Kaufleute und dem Vermittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten.
Der Seelenführer und sein Fakultätskollege kommen 100 Tage lang herum in Ober- wie Unterwelt. Mit der Nomenklatura speisen sie fürstlich, mit Dissidenten organisieren sie Fluchtversuche, mit einer offenbar reichen Schönen bandelt der Erzähler an, einem alten Stalinisten hilft er, eine unzensierte Fassung seiner Autobiographie am selben Tag in Paris zu veröffentlichen wie die von der Securitate umgeschriebene offizielle.
Kurz darauf allerdings erweisen sich die Nomenklatura-Kader als edel gesinnt und die Dissidenten als Securitate-Mitarbeiter, die Schöne entpuppt sich als Tochter eines Ceauşescu-Ministers, der Stalinist als liberaler Kommunist - und dann wieder als Stalinist. Alles bekommt einen doppelten Boden. Auch die zwei Briten profitieren kräftig von der Diktatur und trauern im nächsten Augenblick um deren Opfer. O'Heix tritt gar die Dracula-Nachfolge an: Von der Securitate schwer verletzt, benötigt er Bluttransfusionen. Nur Ceauşescu bleibt der, der er ist, und muss dafür im Dezember 1989 bezahlen.
Henning Ahrens hat das Buch manchmal etwas ungenau übersetzt: Akademiker besuchen "Lesungen" und trinken Johnny Walker "epischen Ausmaßes". Mit historischen Daten geht der Autor, Oxforder Professor für Französisch und Komparatistik, Jahrgang 1968, recht lässig, mit der literarischen Tradition zu diskret um. Er reizt die romantischen Motive des Doppelgängers und der Doppeldeutigkeit nicht aus. Die Abgründe erweisen sich immer nur als Spiegelungen, und der Erzähler bleibt Beobachter. Distanz und Diskretion entschärfen den temporeichen, oft spannenden, witzigen und immer wieder überraschenden Roman.
Besprochen von Jörg Plath
Patrick McGuinness: "Die Abschaffung des Zufalls"
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Zsolnay Verlag, Wien 2012
445 Seiten, 21,90 Euro
Der Erzähler und namenlose Reisende eilt von der Beerdigung seines Vaters zum Flughafen Heathrow. Zu seiner Überraschung hat er eine Stelle an der Bukarester Universität bekommen, obwohl er zum Vorstellungsgespräch gar nicht erschienen war. Eben dieses Gespräch habe er beeindruckend gemeistert, versichert ihm sein Anglistenkollege Leo O`Heix in einem Bukarester Luxusrestaurant der Nomenklatura nach einer Fahrt durch Straßen, aus deren Schwärze sich nur Kräne, Bagger und alle paar Meter Männer in grauen Uniformen herausschälen.
O`Heix ist auch Buchautor und der König des Schwarzmarkts. Er versorgt die Minister mit Gütern aus jenen Kirchen und ganzen Stadtvierteln, deren Abriss die Genossen erst am Morgen angeordnet haben. Die Abbruchwut des Conducătors macht O'Heix reich, verwandelt aber sein Buch über Bukarest schneller, als er schreiben kann, in ein Epitaph. Trauernd geht er über schnurgerade Straßen im Niemandsland und evoziert das verschwundene Gassengewirr. O'Heix gleicht Hermes, dem Schutzgott der Kaufleute und dem Vermittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten.
Der Seelenführer und sein Fakultätskollege kommen 100 Tage lang herum in Ober- wie Unterwelt. Mit der Nomenklatura speisen sie fürstlich, mit Dissidenten organisieren sie Fluchtversuche, mit einer offenbar reichen Schönen bandelt der Erzähler an, einem alten Stalinisten hilft er, eine unzensierte Fassung seiner Autobiographie am selben Tag in Paris zu veröffentlichen wie die von der Securitate umgeschriebene offizielle.
Kurz darauf allerdings erweisen sich die Nomenklatura-Kader als edel gesinnt und die Dissidenten als Securitate-Mitarbeiter, die Schöne entpuppt sich als Tochter eines Ceauşescu-Ministers, der Stalinist als liberaler Kommunist - und dann wieder als Stalinist. Alles bekommt einen doppelten Boden. Auch die zwei Briten profitieren kräftig von der Diktatur und trauern im nächsten Augenblick um deren Opfer. O'Heix tritt gar die Dracula-Nachfolge an: Von der Securitate schwer verletzt, benötigt er Bluttransfusionen. Nur Ceauşescu bleibt der, der er ist, und muss dafür im Dezember 1989 bezahlen.
Henning Ahrens hat das Buch manchmal etwas ungenau übersetzt: Akademiker besuchen "Lesungen" und trinken Johnny Walker "epischen Ausmaßes". Mit historischen Daten geht der Autor, Oxforder Professor für Französisch und Komparatistik, Jahrgang 1968, recht lässig, mit der literarischen Tradition zu diskret um. Er reizt die romantischen Motive des Doppelgängers und der Doppeldeutigkeit nicht aus. Die Abgründe erweisen sich immer nur als Spiegelungen, und der Erzähler bleibt Beobachter. Distanz und Diskretion entschärfen den temporeichen, oft spannenden, witzigen und immer wieder überraschenden Roman.
Besprochen von Jörg Plath
Patrick McGuinness: "Die Abschaffung des Zufalls"
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Zsolnay Verlag, Wien 2012
445 Seiten, 21,90 Euro