Das Verschwiegene zur Sprache bringen

Sigrid Löffler im Gespräch mit Susanne Führer · 08.10.2009
"In der Tat ist es ihr Lebensthema, das Schweigen zu brechen über die Diktatur in Rumänien", sagt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler über die jetzt mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Herta Müller. Müllers zweites großes Thema sei die Heimatlosigkeit, die Zerrissenheit.
Susanne Führer: Zehn Jahre ist es her, dass ein deutscher Schriftsteller den Literaturnobelpreis gewonnen hat, Günter Grass war das im Jahr 1999. In diesem Jahr heißt die Preisträgerin Herta Müller, eine Autorin, die auf Deutsch schreibt, geboren wurde sie allerdings 1953 in Rumänien im Banat. 1987 reiste sie dann aus in die Bundesrepublik Deutschland. Im Studio ist nun die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, guten Tag, Frau Löffler!

Sigrid Löffler: Guten Tag!

Führer: Mal vorab: Was halten Sie von dieser Entscheidung? Sind Sie froh, zufrieden?

Löffler: Ja, endlich mal wieder eine Entscheidung, der man vorbehaltlos zustimmen kann und über die man wirklich auch sich sehr freuen kann.

Führer: Wir werden darauf noch ein bisschen näher eingehen. Wir wollen mal Herta Müller vorstellen, sie hat ja gerade ihren Roman "Atemschaukel" herausgebracht und der thematisiert das Schicksal der Rumäniendeutschen nach dem Sieg der Sowjetunion über Rumänien. Rumänien war bis 1944 mit Nazideutschland verbündet, dann siegte die Rote Armee, marschierte ein und dann wurden alle in Rumänien lebenden Deutschen in die Sowjetunion deportiert. Ich muss so ein bisschen ausholen, damit man gleich verstehen kann, worauf ich hinaus möchte. Also, alle deutschen Männer und Frauen zwischen 17 und 45 wurden in Viehwaggons in die Sowjetunion gebracht, etwa 80.000 Menschen, darunter war unter anderem auch Herta Müllers Mutter. Mitte August war Herta Müller hier im Deutschlandradio Kultur zu Gast, um ihren Roman "Atemschaukel" vorzustellen, der eben genau dieses Schicksal der Rumäniendeutschen thematisiert, und damals sagte sie hier zu den Motiven ihres Schreibens:

Herta Müller: "Am allermeisten hat mich immer interessiert: Was ist eine Beschädigung? Was ist ein Trauma? Das Wort ist ja so schnell da, auch oft in Situationen, wo es eigentlich nicht unbedingt hingehört. Wie kann man das beschreiben? Mit dem Begriff kann man ja in der Literatur nichts anfangen, den muss man ja auflösen in diese Details, aus denen heraus dieses Trauma oder diese Beschädigung entstanden ist. Und dann habe ich gemerkt, ... Ich habe mit einem Ehepaar reden wollen, die waren die nahesten Bekannten meiner Eltern, die haben sich im Lager kennengelernt, und dann ist die Frau gestorben.

Und das war für mich so eine Zäsur, da habe ich gemerkt, so geht das jetzt, die Leute werden immer weniger, wenn ich es noch immer hinausschiebe - ich hatte auch Angst davor -, dann kann ich es nicht mehr tun, weil es wird niemand mehr da sein, der mir das erzählt und ich kann es ja nur auf der Basis von dem Erlebten dann beschreiben. Ja, und dann bin ich zu diesem Mann gefahren und habe mit dem Aufnahmen gemacht, gelegentlich auch meine Mutter gefragt, aber in der Beziehung zu meiner Mutter ist das Schweigen, das ist eingebettet in unsere Beziehung, das ist alt.""

Führer: Herta Müller über ihren Roman "Atemschaukel", Herta Müller bekommt in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur und im Studio ist Sigrid Löffler. Frau Löffler, Herta Müller hat gesagt, am allermeisten hat sie immer interessiert, was eine Beschädigung ist. Ist das sozusagen ihr Lebensthema in ihrem Werk?

Löffler: Ja, das denke ich wohl. Sie sagt ja auch, dass sie das Schweigen brechen will und in der Tat ist es ihr Lebensthema, das Schweigen zu brechen über die Diktatur in Rumänien, die Ceauşescu-Diktatur und ihre Folgen für die Menschen, sie will das Verschwiegene zur Sprache bringen. Ceauşescu-Diktatur, das ist ein riesiger Komplex aus Bespitzelung und Terror und Folter und Personenkult und Konformismus und korrumpierten Menschen, deren Seelen zersetzt werden, zerstört werden, vergiftet werden durch die Securitate, also den rumänischen Geheimdienst, der bis in die intimsten und privatesten menschlichen Beziehungen eingedrungen ist und die Menschen zum Verrat gebracht hat. Man konnte nicht einmal den engsten Freunden mehr trauen, Misstrauen hat eigentlich die ganze Gesellschaft zersetzt.

Man kann natürlich sagen, seit 20 Jahren gibt es Ceauşescu nicht mehr, aber dieses Thema wirkt weiter. Sie nennt es einmal die gesteuerte Verwahrlosung der Menschen als eine Hinterlassenschaft der Diktatur. Sie sehen, es ist ein wirklich riesiger Komplex und ein Lebensthema, das eine Autorin von der Sprachgewalt der Müller her sehr wohl lange beschäftigen kann.

Führer: Könnten Sie noch ein paar Werke nennen, Frau Löffler - wir haben jetzt gerade über "Atemschaukel" gesprochen -, in denen das, sozusagen die Folgen von Diktatur oder die Situationen von Menschen, die Beschädigungen, wie sie es nennt, angesichts von totaler Herrschaft, vorkommt?

Löffler: Ja, sie hat das mehrfach thematisiert, weil es ja auch sie ganz persönlich betroffen hat. Sie ist ja jahrelang verfolgt und gequält worden von der Securitate. Ihre beste Freundin hat sie bespitzelt, wie sich nachher herausgestellt hat. Da gibt es einen Roman, der heißt "Herztier", einen Roman, der heißt "Der Fuchs war damals schon der Jäger", das sind genau Bücher, die sich mit dieser Sachlage befassen.

Aber sie hat natürlich noch ein anderes Thema. Dadurch, dass sie sich nie in Rumänien wirklich beheimatet gefühlt hat, hat sie ja eigentlich immer schon versucht, aus diesem Land wegzukommen. Im Jahre 1987, Sie erwähnten es, ist sie von der Bundesrepublik freigekauft worden und mit ihrem damaligen Mann Richard Wagner nach Deutschland gekommen. Und sehr viele ihrer Bücher handeln genau davon, dass jemand zerrissen ist zwischen Bleiben und Gehen, zwischen Abschied und Trennung, dass er fremd ist im eigenen Land. Es ist ein Leben im Transit, sie wartet auf Ausreise, sie kommt nicht richtig an in dem neuen Land, und da gibt es zwei Bücher, die ich nennen möchte, eines heißt, sehr typisch natürlich, "Reisende auf einem Bein", die nicht genau weiß, wo sie eigentlich steht, auf welchem Fuß, und "Barfüßiger Februar". Die handeln genau von diesem Leben im Transit zwischen Rumänien und Deutschland.

Führer: Also fremd in Rumänien, fremd in Deutschland später auch. Die Rumäniendeutschen haben sich ja in Rumänien über viele Jahrhunderte hinweg ihre Sprache, das Deutsche, erhalten. Das heißt, sie muss ja quasi zwangsläufig, wenn man umgeben ist sozusagen von einer Mehrheitssprache und dieser Minderheitensprache, ein besonderes Verhältnis zur Sprache haben. Wie zeigt sich das, Frau Löffler, in ihrem Werk?

Löffler: Herta Müller spricht selber von "meinem Minderheitendeutsch", und in der Tat, das Rumäniendeutsche - man hat es auch ein bisschen an ihrem harten Akzent gehört - ist eine ganz besondere Sprache, quasi wie eine Fliege im Bernstein geblieben, hat auch sehr viele alte Vokabeln noch erhalten, die vielleicht anderswo im tagtäglichen Alltags- und Umgangsdeutsch sich abgeschliffen hätten, bei ihr sind sie noch erhalten geblieben.

Es ist eine sehr poetische Sprache, es ist eine Sprache, die, ich würde sagen, ein poetischer Expressionismus, die die Wahrnehmung mikroskopiert und fragmentiert und mit Metaphern überhäuft. Und sie ist auch eine große Bewunderin von Wortprägungen, wie sie Paul Celan, der ja auch aus der Gegend stammt, immer wieder gefunden hat, aber auch Oskar Pastior, der ja auch in ihrem Leben und in ihrem Schreiben eine große Rolle gespielt hat. Ungewohnte Wendungen, ungeläufige Wortprägungen - eine sehr besondere Sprache mit ihren ganz eigenen Ecken und Kanten.

Führer: Also sozusagen eine poetische Sprache, um Grausamkeiten zu beschreiben, oder anders gesagt, die Beschädigung der Menschen, wie sie es nennt, in einer schönen Sprache zu schildern. Über diesen Zwiespalt hat Herta Müller Mitte August hier bei uns auch gesprochen, hören wir noch mal, was sie gesagt hat. Da ging es um ihren Roman "Atemschaukel", über die Grauen des Gulag-Systems.

Müller: "Ich glaube, so ein schweres Thema hätte ich gar nicht ausgehalten, wenn ich das nicht kompensiert hätte durch, ja, es gibt kein anderes Wort, durch Schönheit an Sprache. Schön ist ja so ein Wort, das ... es ist eigentlich nicht das richtige Wort, aber es ist dieses Poetische, dass das Zusammenkommen von Dingen mehr sagen muss, als in den Wörtern selber drinsteckt. Ich weiß nicht, wie ich das sonst erklären soll. Das war auch das Prinzip, das einzige Prinzip, wodurch für mich das Imaginieren dieses Lagers funktioniert hat, und es ist auch immer wieder ... sind dann Dinge dazugekommen, und dann habe ich gesehen: Das eine lässt sich mit dem anderen verbinden und das lässt sich wieder aufgreifen und so funktioniert das dann. Es entsteht dann so ein Sog und ein Netz.""

Führer: Herta Müller sagt, es entsteht ein Sog beim Schreiben, aber der entsteht auch beim Lesen.

Löffler: Ja, ganz gewiss. Ihr Problem ist natürlich, dass sie nicht selbst die Strafarbeitslager und Zwangsarbeitslager der Sowjets in der Ukraine, wo Oskar Pastior und ihre eigene Mutter interniert waren und fünf Jahre geschuftet haben, dass sie die nicht aus eigener Erfahrung kennt, sondern eigentlich nur aus zweiter Hand. Das heißt, sie kann nicht eine authentische Erinnerungssprache dafür verwenden, so wie Imre Kertész über seine Erfahrungen in Auschwitz schreiben konnte beispielsweise, sondern sie musste eine Sprache dafür finden. Und in der Tat ist es eine sehr poetische Sprache.

Man kann natürlich sagen, es ist eine Art poetisches Veredelungsprogramm für die Schrecken und für das Grauen dieser Lager, aber ich denke, es ist absolut legitim, dass man es auf diese Weise versucht. Alles andere, ein angemaßter, authentischer, dokumentarischer Ton wäre ja verlogen.

Führer: Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an Herta Müller, Sigrid Löffler bewertet im Deutschlandradio Kultur die Entscheidung der Schwedischen Akademie. Frau Löffler, diese Akademie hat sich in den letzten Jahren ja in den Augen vieler Literaturkritiker, -kenner und -liebhaber nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Sie haben jetzt eingangs gesagt, eine Entscheidung, der man endlich einmal wieder vorbehaltslos zustimmen kann. Die letzten Jahre, ich nenne mal Jean-Marie Le Clézio, Doris Lessing, Orhan Pamuk, Harold Pinter, Elfriede Jelinek - wenn man jetzt die Entscheidung dieses Jahres sieht, würden Sie sagen, da schert etwas aus der Reihe oder da wird etwas fortgesetzt?

Löffler: Man kann froh sein, wenn die Schwedische Akademie jedes zweite Jahr das Richtige trifft, dann vergisst man das andere. Auffällig ist, dass die Schwedische Akademie sich kosmopolitisiert hat. Sie zeichnet verstärkt Literaten aus dem Exil aus, Immigranten, Bahnbrecher, Außenseiter, auch Autoren aus ehemaligen Kolonien und aus den kleineren Sprachen, wie zum Beispiel den Türken Orhan Pamuk oder den Ungarn Imre Kertész. Und ich denke, dass Herta Müller auch in dieses Programm hineingehört, in diesen Trend zu den kleinen Sprachen, das Rumäniendeutsche ist eine Minderheitssprache, und dass sie zunehmend eben auch auf die bisher übersehenen, kleinen Sprach- und Kulturgemeinschaften guckt.

Führer: Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an Herta Müller, Sigrid Löffler, danke für diese Analyse!