Hohes Armutsrisiko

Alleinerziehend gleich alleingelassen

83:00 Minuten
Eine Mutter sitzt mit einem Kind auf dem Schoß am Schreibtisch und versucht an einem Computer zu arbeiten.
Alleinerziehende müssen oft mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen. Ihr Einsatz wird von der Gesellschaft nicht belohnt. © Getty Images / Tom Werner
Moderation: Katrin Heise · 09.04.2022
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2,2 Millionen Kinder in Deutschland wachsen mit nur einem Elternteil auf, in neun von zehn Fällen sind es die Mütter. Alleinerziehende tragen mit Abstand das höchste Armutsrisiko: Wie können wir das ändern?
Das traditionelle Familienbild – Vater, Mutter, Kinder – hat längst ausgedient. Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. Über zwei Millionen Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, zu 90 Prozent sind es die Mütter. Und obwohl diese Frauen oft mehr arbeiten als Mütter in Paarfamilien, deckt ihr Einkommen oft nicht einmal das Existenzminimum. Das hat auch gravierende Folgen für die Kinder.

Stark unter Druck

„Das Armutsrisiko alleinerziehender Familien ist viermal so hoch wie das von Paarfamilien – ein extremer Wert im europäischen Vergleich“, sagt Anne Lenze. Die ehemalige Sozialrichterin ist Professorin für Familien-, Jugendhilfe- und Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt. Etwa jede dritte alleinerziehende Familie beziehe Hartz IV, so Lenze in ihrer von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen Studie „Alleinerziehende weiter unter Druck“ (2021).
Diese prekäre Lage betreffe hauptsächlich alleinerziehende Frauen: „Sie müssen mehr arbeiten, weil sie von ihrem Erwerb mehr abdecken müssen. Oft wird kein oder kaum Unterhalt gezahlt und wenn, deckt der nur das Existenzminimum ab, wie Wohnung, Kleidung, Essen. Aber Dinge wie Freizeitaktivitäten oder Nachhilfe müssen die Mütter oft selbst bestreiten.“ Viele kämen ohne ein „Aufstocken“ nicht über die Runden. Alleinerziehende Mütter könnten zudem weniger für ihre Altersvorsorge zurücklegen. „Das bedeutet, dass sie von der Armut in die Altersarmut gehen“, sagt die Sozialrechtlerin.

„Von der Hand in den Mund – wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“: Das ist das Thema der Deutschlandradio-Denkfabrik 2022. Das ganze Jahr über beschäftigen wir uns in Reportagen, Berichten, Diskussionen und Interviews mit der Lage der Arbeitswelt in Deutschland. Alle Beiträge dazu können Sie hier nachhören und nachlesen.

„Scham ist der Kitt der Klassengesellschaft“  

„Kinderarmut oder arm als alleinerziehender Vater oder Mutter zu sein, das kann jeden und jede treffen“, sagt Olivier David. Der Journalist ist Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Wie es war, mit Hartz IV aufzuwachsen, beschreibt er in dem Buch „Keine Aufstiegsgeschichte: Warum Armut psychisch krank macht“.
Es war nicht allein die materielle Armut, die ihn als Kind bedrückte. „Wir waren arm an Möglichkeiten. Mehr noch als nur das fehlende Geld war es ein Mangel an Handwerkszeug, ein Mangel an Alternativen, der uns in unserer Armut von anderen isolierte.“
Olivier David berichtet auch von der Scham, die seine Kindheit prägte. Diese Scham sei mehr als ein individuelles Gefühl: „Scham ist der Kitt in unserer Klassengesellschaft, weil sie dafür sorgt, dass die Leute sich selbst für ihre Situation verantwortlich machen. Wer sich schämt, holt sich seltener Hilfe.“
Sein Appell: „Wir gucken auf Alleinerziehende und vergessen, dass sie eine große Gefahr haben, in Armut zu fallen. Wir gucken auf Arme und stellen fest, dass viele darunter alleinerziehend sind. Wir gucken auf psychisch Kranke und vergessen, dass sie arm sind. In unserer Welt sind die Dinge miteinander verbunden. Wir müssen uns fragen als Gesellschaft, wofür wir unser Geld ausgeben wollen und welchen Status quo wir akzeptieren wollen.“

Armutsrisiko alleinerziehend – Was muss sich ändern?
Darüber diskutiert Katrin Heise am 09. April von 9.05 Uhr bis 11 Uhr mit dem Journalisten Olivier David und der Sozialrechtlerin Anne Lenze. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 0800 2254 2254 sowie per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de.

(sus)
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