Alle lebendigen Prozesse tragen ihren Zweck in sich

Rezensiert von René Weiland · 02.09.2012
Robert Spaemann begreift Philosophieren als "Verteidigung von Selbst-Sein". Der 1927 geborene Philosoph hat vor und während der Nazi-Zeit erfahren, wie schwierig es ist , die eigenen Gedanken als rechtmäßig zu bewahren.
Eine totalitäre Diktatur kann eine gute Schule des Denkens sein. Sie zwingt zur Klarheit - die eigene Gutwilligkeit einmal vorausgesetzt. Der Nationalsozialismus zwang Robert Spaemann, Jahrgang 1927, in zwei Welten zu leben. In der einen, äußeren, musste er klug und vorsichtig agieren; in der anderen, inneren, ging es darum, sich selbst treu zu bleiben und eine Haltung zu bewahren, die sich entgegen dem Zeitgeist an einem überzeitlich Gültigen orientiert. Seit jeher besteht darin, in aller Ohnmacht, der Trost der Philosophie:

"Wenn man genötigt wird, die Welt auf zwei Weisen anzuschauen, sich mit einer zu identifizieren und die andere abzulehnen - die Nationalsozialisten waren ganz einfach die Feinde -, regt das natürlich zum Nachdenken an: Warum haben wir recht und sie unrecht?"

Spaemanns Mutter war Tänzerin aus der Mary-Wigman-Schule, sein Vater Kulturredakteur bei den Berliner "Sozialistischen Monatheften". Als die Mutter einen Blutsturz erlitt, der ihrer künstlerischen Laufbahn ein jähes Ende setzte, wandten sich die Eltern dem katholischen Glauben zu und zogen von Berlin nach Münster. Wenig später, der Sohn war neun Jahre alt, starb die Mutter. Darauf ließ sich sein Vater zum Priester weihen.

Hätte der Nationalsozialismus obsiegt, Robert Spaemann wäre nach heutigem Bekunden Gärtner geworden. Seinem Denken stets die innere Freiheit zu bewahren, hat ihn auch später als anerkannter Philosoph gegen jede Art von Zeitgeist gefeit. Dies ist nicht zuletzt der einfachen, kräftigen Eleganz seiner Texte anzumerken, mit der er dem Relativismus heutiger Tage die Stirn bietet:

"Es ist heute eine weit verbreitete Vorstellung, so etwas wie Wahrheitsüberzeugungen seien für die Toleranz schädlich. Im Namen der Toleranz wird Relativismus verlangt. Aber das ist ganz abwegig. Die Pflicht zur Toleranz gründet selbst in der festen Überzeugung von der Würde der Person. Aus ihr ergibt sich die Achtung vor religiösen und moralischen Überzeugungen anderer."

Robert Spaemann eilt der Ruf voraus, ein in der Wolle gefärbter christlich-konservativer Denker zu sein. Mit dieser Autobiographie in Form von Gesprächen mit dem Wissenschaftsjournalisten Stephan Sattler und kürzeren Zwischentexten werden wir eines Besseren belehrt - etwa wenn wir von der frühen, marxistischen Phase seines Denkens erfahren.

Später wird er in Münster, zusammen mit Odo Marquard und Hermann Lübbe, dem Kreis um Joachim Ritter angehören, seines Zeichens Gründer und Herausgeber des "Historischen Wörterbuchs der Philosophie". Geprägt von Aristoteles und Hegel beschäftigen sie sich mit der Frage, welche Rolle die Tradition im modernen Denken einnimmt. Spaemann, der zuletzt als Professor in München lehrte, entwickelt sich zu einem exponierten Vertreter einer naturrechtlich begründeten Politik und Ethik, darüber hinaus aber auch einer angelsächsisch inspirierten praktischen Philosophie.

Immer wieder meldete er sich auch publizistisch zu Wort, gab Antworten auf Gegenwartsfragen, ohne einer besserwisserischen Kulturkritik zu verfallen. Die Parole von der "Wertegemeinschaft" auf nationaler und internationaler Ebene lehnt er strikt ab. Kühl setzt er ihr das seiner Meinung nach höhere Gut der Rechtssicherheit entgegen:

"Die wieder gewonnene Freiheit hatte zunächst ein einfaches Gesicht, nämlich das der Rechtssicherheit und der Geltung von inhaltlich nachvollziehbaren Paragraphen. Dieses hohe Rechtsgut muss immer wieder neu verteidigt werden. Heute ist es bedroht von den sogenannten "Werten", durch die so etwas wie politische Korrektheit definiert wird.

Und wenn nun oft von Europa als einer "Wertegemeinschaft" die Rede ist, dann erinnert mich das an die Wertegemeinschaft, die wir zwölf Jahre hatten und die an die Stelle einer Rechtsordnung getreten war. Alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts proklamierten die Überordnung der Wertegemeinschaft gegenüber dem Staat, der auf diese Weise natürlich aufhört, eine Rechtsordnung zu sein."


Das Reden von "den Werten" zeigt, was den Zeitgeist zum Zeitgeist macht. So wird nicht die konkrete Wahl von Werten thematisiert, sondern diese schon als selbstverständlich und allgemeingültig unterstellt. So suggeriert der Zeitgeist seine eigene Alternativlosigkeit.

Aufgabe von Philosophie ist es, dieses Einverständnis zu hinterfragen. Nur kann sie dabei wiederum nicht auf einen festen Bestand ewiger Wahrheiten und Normen zurückgreifen, sondern ist ganz auf sich selbst gestellt, auf Methoden der Selbstreflexion. Philosophie gibt es nicht auf dieselbe Weise, wie es eine Kultur gibt, die sich ihrer in ihren Werken und Institutionen versichert. Sie gibt es, solange es einzelne Menschen gibt, die aus eigenem Antrieb heraus über sich und ihr Leben, über Leben und Welt überhaupt nachdenken.

Robert Spaemann begreift Philosophieren als "Verteidigung von Selbst-Sein". Was heißt es, ein Selbst zu sein? Es heißt, von etwas Innerem bewegt zu werden, eine Seele zu haben. Alle lebendigen Prozesse tragen - nach aristotelischem Verständnis - ihren Zweck in sich. Sie sind von sich her auf die Verwirklichung ihrer selbst aus. Kurz, sie sind teleologischer Natur.

Der Mensch verwirklicht sich nicht über Praktiken und Techniken seiner Selbsterhaltung, sondern indem er, wie Spaemann sagt, einen Schritt über sich hinaus tut. Aristoteles unterscheidet zwischen bloßem Leben und gutem Leben. Zugunsten von letzterem haben die alten Griechen die Polis gegründet. Wir führen auch heute ein gutes, menschliches Leben erst in der Gemeinschaft mit anderen Menschen und, nicht zuletzt, in einem gewissen kontemplativen Abstand zu uns selbst.

Vernunft ist nicht bloß ein Instrument der Naturbeherrschung, der Rationalisierung im engeren Sinne. Sie ist vielmehr selbst von etwas Lebendigem getragen, von einem Eros. Dieser ermöglicht dem Menschen nicht nur, sein Leben auf der Erde technisch-pragmatisch zu bewerkstelligen, sondern kraft der Erkenntnis in eine sich vertiefende Beziehung zum Leben in ihm und um ihn herum zu treten.

Spaemann spricht von zwei fundamentalen Interessen der Vernunft: der, die Natur zu beherrschen, und der, in ihr zu Hause zu sein. Und dies versucht der Mensch, indem er seine Umwelt - Menschen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände - in Analogie zu seinem eigenen inneren Erleben begreift, das heißt anthropomorph wahrnimmt.

Der alte griechische Begriff von Natur, Physis, will ausdrücken, dass alles mit allem verbunden ist. Eben diesem Verbundensein widmete dieser eher unauffällige, gern unterschätzte Philosoph den Großteil seines Lebens:

"Eine Sache daraufhin befragen, was ihre Physis ist, bedeutet den Versuch, sie in Analogie zu unserem Selbstverständnis zu verstehen. Denn Physis bezeichnet genau das, was uns mit allem verbindet, was ist.

Es wurde oft gesagt, dass der Mensch das Wesen ist, das sich von der Natur emanzipiert hat. In einem gewissen Sinne ist das richtig. Aber ehe wir verstehen, in welchem Sinn, müssen wir sehen, dass der Begriff der Physis ein Anthropomorphismus ist. Er bedeutet, dass wir die Wirklichkeit, die uns umgibt, nach Analogie zu uns selbst verstehen und nur in einem zweiten Schritt uns selbst nach Analogie der lebenden Dinge, die uns umgeben."


Robert Spaemann: "Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen"
Unter Mitarbeit von Stephan Sattler
Verlag Klett-Cotta, April 2012
Robert Spaemann: "Über Gott und die Welt"
Robert Spaemann: "Über Gott und die Welt"© Klett-Cotta
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