Alex Schulman: „Vergiss mich“

Komplizen der Sucht

Buchcover: "Vergiss mich" von Alex Schulman. Ein schwarz-weiß-Foto zeigt eine Frau und einen kleinen Jungen.
© dtv Verlagsgesellschaft

Alex Schulman

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

Vergiss michdtv Verlagsgesellschaft , 2025

254 Seiten

23,00 Euro

Von Christoph Schröder |
Eine Mutter, die immer mehr dem Alkohol verfällt. Drei Söhne, die erst viel später verstehen, was geschehen ist. Und der zehrende Versuch einer Versöhnung: Der Schwede Alex Schulman erklärt sich in „Vergiss mich“ seine Kindheit und Jugend.
Dem Ich-Erzähler der Erzählung „Vergiss mich“ des Schweden Alex Schulman ist kaum ein Weg so vertraut wie die staubige Kiesstraße, die zum alten Wochenendhaus der Familie führt. Doch die Situation, in der Alex Schulman sich befindet, hat nicht den Hauch von Nostalgie. Gemeinsam mit seinem Bruder Calle ist er aufgebrochen, um zu verhindern, dass ihre Mutter sich zu Tode trinkt.
Vor drei Tagen, so hat der dritte Bruder Niklas es berichtet, hat die Mutter sich nach einem Streit im Schlafzimmer eingeschlossen. Sie geht nicht ans Telefon, wie so oft, wenn sie ihre Kinder für etwas bestrafen will. Alex, der Ich-Erzähler, spürt, dass diese Situation eine Art von Showdown ist:

„Wir fahren den holprigen Weg zum Sommerhaus hinunter, und ich bin mir bewusst, dass dies das Finale ist. Es ist das Ende einer Reise, die vor über dreißig Jahren begonnen und sich durch meine Kindheit und Jugend und mein Erwachsenenleben fortgesetzt hat, durch all die Jahre, die vergangen sind, und durch alles, was passiert ist. Es ist wie einem Theaterstück beizuwohnen, einer Tragödie, die letzte Szene, das Ende von allem.“

Ein rein autobiografischer Text

Alex Schulmans Buch trägt keine Gattungsbezeichnung. Es ist kein autofiktionaler, sondern ein rein autobiografischer Text. Die Mutter im Buch ist Lisette Schulman, Tochter des berühmten Schriftstellers Sven Stolpe, von dem Schulman in seinem 2018 erschienenen Roman „Verbrenn all meine Briefe“ erzählt hat.
Der Großvater spielt auch in „Vergiss mich“ als Ausgangspunkt aller familiären Schieflagen eine Rolle. Doch im Zentrum von Schulmans Aneinanderreihung eindrücklich geschilderter und beklemmender Szenen steht die Mutter.
„Vergiss mich“ ist als Dialog über die Zeiten hinweg inszeniert: Einem Ereignis, einer Verhaltensweise der Mutter in der Gegenwart stellt Schulman stets eine Erinnerung an ein Erlebnis in seiner Kindheit und Jugend gegenüber. So werden Strukturen sichtbar und es entsteht ein Echoraum, der angefüllt ist mit Ignoranz und seelischer Grausamkeit.
Die Mutter hat mit dem Trinken angefangen, als der Ich-Erzähler Alex vier oder fünf Jahre alt war. Schleichend ging das vor sich; die Zeichen einer zunehmenden Abhängigkeit deutet Alex erst Jahre oder gar Jahrzehnte später: Die Unberechenbarkeit der hoch intelligenten Lisette. Die Tage, die sie im abgedunkelten Schlafzimmer verbringt. Familienabendessen im Urlaub, in denen die Stimmung je nach Alkoholpegel von Fröhlichkeit über Apathie in Aggression umschlägt.
Vor allem aber die für die drei kleinen Söhne unerklärlichen Stimmungsschwankungen der Mutter; die Kälte, mit der sie den Kindern das Gefühl gab, nicht zu existieren:
„Sie sieht mich an, mit diesem Blick, den ich so gut kenne. Dem Blick aus meiner Kindheit, meiner Jugend, meinen Erwachsenenjahren. Die ganze Zeit ist er da gewesen. Dieser Blick. Man sieht kein Weiß in den Augen, er ist einfach nur dunkel und verschwommen, es ist, als trieben die Augen eines anderen in ihrem Gesicht. Es ist der Blick der Unerreichbaren."

Vater und Söhne werden zu Ko-Abhängigen

Der wesentlich ältere Vater und die drei Kinder werden zu Komplizen. Zu Mitabhängigen, die alles tun, um nach außen hin ein heiles Bild der Familie zu vermitteln: am Telefon lügen, Flaschen verschwinden lassen, Normalität simulieren. Verhaltensweisen, die sich bis ins Erwachsenenalter hinein fortsetzen.
Als Alex Schulman eine eigene Familie hat, lassen er und seine Frau eines Abends die Mutter ihr kleines Kind hüten. Ein Vertrauensbeweis wider besseres Wissen, der in Chaos und Streit endet. Doch die Vertuschungsmechanismen, die Alex sich antrainiert hat, funktionieren selbst noch in dieser Situation.
Die Sommerhaus-Szene, die das Buch eröffnet, bedeutet tatsächlich eine Kehrtwende. Spät, sehr spät erst, nach Gesprächstherapien und einer Familienaufstellung, rekonstruiert Alex jene Zeit des Davor; die wenigen Jahre, in der seine Kindheit nicht von der Sucht überschattet war:
„Auf einem der Fotos trägt Mama ein Kopftuch und drückt ihre Nase an meinen Hinterkopf. Ich schaue nach draußen, mein Blick ist verträumt. Ich sehe einen kleinen Jungen, der geborgen ist und keine Angst hat. Er weiß nichts von Trauer oder Angst. Denn noch hat es nicht begonnen.“
„Vergiss mich“ ist kein sonderlich geschickt oder gar elegant konstruiertes Buch. Wäre es ein Roman, müsste man Schulman gerade im Schlussteil einen Hang zur Sentimentalität bescheinigen.
Doch darum geht es hier nicht. Die Sprache, in der Schulman aus Einzelszenen das bedrückende Bild von emotionalen und körperlichen Abhängigkeiten zusammensetzt und von einer unerfüllten Sehnsucht nach Nähe erzählt, ist gradlinig und unverstellt. Man will sich dagegen wehren – und ist doch am Ende nicht nur mitgenommen, sondern auch angerührt.
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