Alberto Savinio: "Nostradamus"

Studie über einen unerschrockenen Visionär

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Nostradamus" von Alberto Savinio. Im Hintergrund der Papstpalast von Avignon.
Nostradamus heilte in Frankreich während der Pest Kranke - nachzulesen ist das in Alberto Savinios Buch über den Weissager. © Friedenauer Presse / Imago / Alimdi
Von Maike Albath · 24.06.2019
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Zufällig kam der Autor Alberto Savinio am Haus von Nostradamus vorbei. Sein Interesse war geweckt. Wer mehr über den Weissager der Renaissance erfahren will, bekommt in Savinios Buch Erhellendes geboten – erzählt in einem heiteren, staunenden Grundton.
Der italienische Schriftsteller, Komponist und Maler Alberto Savinio ist eine der interessantesten Figuren der Zwischenkriegszeit. Auf seinen Gemälden wimmelt es von unförmigen Lebewesen mit abstrusen Gliedmaßen, bizarren Reptilien und geometrischen Körpern, die pflanzenartig wuchern.
Man kann zwischen diesen Geschöpfen und Savinio eine gewisse Ähnlichkeit feststellen – nicht in körperlicher Hinsicht, sondern in geistiger. 1891 in Athen als Sohn eines italienischen Ingenieurs geboren und großbürgerlich in Griechenland aufgewachsen, war er ein künstlerisches Ungetüm, ein Mann mit unzähligen Begabungen und Interessen, der sich auch als Regisseur und Librettist versuchte, rastlos und humorvoll.

Von allen inspiriert, aber ein Einzelgänger

Mit seinem älteren und berühmteren Bruder, dem Maler Giorgio de Chirico, bildete er ein berüchtigtes Gespann. Ihr Parkett war in den 1910er Jahren-Paris. Hier trafen sie auf Gleichgesinnte wie Apollinaire, Jean Cocteau, Max Jacob, Picabia und Picasso. Inmitten euphorischer Gruppenbildungen ließ sich Savinio zwar von allen inspirieren, aber blieb doch ein standhafter Einzelgänger.
Dazu passt sein Essay über Nostradamus. Auf der schön gestalteten deutschen Erstausgabe, die jetzt in der Friedenauer Presse vorliegt, ist ein Porträt des berühmtesten Weissagers der Renaissance abgebildet, das von Savinio selbst stammt. Tatsächlich verfährt er auch in seinem Text genau wie ein Maler: Er blickt aus der Gegenwart auf Nostradamus, geht näher an ihn heran, fertigt eine Skizze an, nimmt Abstand, umkreist ihn, schraffiert den Hintergrund und vervollständigt Strich um Strich seine Studie.

Prophetische Orakelsprüche

Auf einer Fahrt nach Avignon passiert der Erzähler zufällig das Wohnhaus Nostradamus‘, der eigentlich Michel de Notredame hieß und als junger Mann nach Avignon kam, wo der "Wind des Wahnsinns" wehte und er sich zu den Sternenkreisen des Himmels hingezogen fühlte. Nach seinem Medizinstudium in Montpellier machte er durch die Herstellung wundersamer Cremes und Marmeladen von sich reden.
Landesweite Berühmtheit verschaffte Nostradamus die unerschrockene Behandlung von Pestkranken. Ohne Schutzanzug beugte er sich über die schwarzen Leiber und verabreichte den Leidenden Medikamente, die sie häufig genesen ließen. Doch den Familienvater ergriffen nach und nach beängstigende Visionen, die er in prophetischen Orakelsprüchen festhielt und veröffentlichte. Nostradamus schien weit in die Zukunft schauen zu können, und mehrfach bewahrheiteten sich seine Ahnungen.

Nostradamus war Dada

Alberto Savinio erzählt Nostradamus Geschicke in einem heiteren, staunenden Grundton. Dass Nostradamus unter den Pariser Künstlern als Identifikationsfigur taugte, liegt auf der Hand. Als Hellseher schien er die traumgetriebenen, ästhetischen Verfahren vorweg genommen zu haben. Sich mit ihm zu befassen, war wie ein Blick in den Spiegel – Nostradamus war Dada.
Manchmal übertreibt es Savinio und lässt allzu viele kulturhistorische Brückenschläge auf uns einprasseln. Aber wer mehr über die Obsessionen des gerade an Fahrt gewinnenden 20. Jahrhunderts wissen möchte, gewinnt aus dem leichtfüßigen Essay erhellende Erkenntnisse.

Alberto Savinio: "Nostradamus"
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Friedenauer Presse, Berlin 2019
80 Seiten, 18 Euro

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