Alan Hollinghurst: "Der Hirtenstern"

Mysteriöses Flandern   

06:22 Minuten
Das Buchcover zeigt den muskulösen  Oberkörper eines jungen Mannes, der versonnen eine Zigarette raucht.
© Albino Verlag

Alan Hollinghurst

Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae

Der Hirtenstern. RomanAlbino, Berlin 2022

621 Seiten

28,00 Euro

Von Marko Martin · 06.07.2022
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An einem namenlosen Ort in Belgien verliebt sich der Englisch-Nachhilfelehrer in seinen Schüler, der mit zwei anderen darum gewettet hat, ob er den Älteren abkriegen könnte. Von den erotischen Abenteuern der beiden erzählt dieser Roman ohne Schwulst.
Dass der flämischsprachige Teil Belgiens auch ein Hort fantastischer Geschehnisse und versponnener Mythen sein kann – Lesende wissen es spätestens seit Hugo Claus´ literarischem Meisterwerk „Der Kummer von Flandern“ aus dem Jahr 1983.
Elf Jahre später veröffentlichte der 1954 geborene englische Schriftsteller Alan Hollinghurst den Roman „Der Hirtenstern“, und obwohl sich der Titel auf eine erotisch-romantische Outdoor-Nacht in seiner Heimat bezieht, spielt die Handlung in einer namenlos bleibenden flandrischen Kleinstadt – gut vorstellbar als Brügge.

Schwule Sexualität voller Ironie und Anspielungen

Hollinghurst, das ist im Kontext nicht zu vernachlässigen, war damals bereits ein literarischer Star; sein preisgekrönter Debütroman „Die Schwimmbad-Bibliothek“ hatte erstmals von schwuler Sexualität nicht als exotischer Ausnahme und auch nicht in wisperndem Ton erzählt, sondern bettete sich quasi ein in eine englische Erzähltradition voller Ironie, gebildeter Anspielungen und Darstellungs-Souveränität.
Diesem Verfahren ist er seither treu geblieben; seine Nachfolge-Romane erscheinen in großen deutschen Verlagen – nur der „Hirtenstern“ schien darob etwas in Vergessenheit geraten.
Dieses beinahe dreißigjährige Versäumnis hat jetzt der kleine, aber keineswegs Nischen-Verlag Albino gleichsam doppelt wettgemacht: in einer Veröffentlichung des Buchs und in der wundersam geschmeidigen, präzisen und alle Nuancen des Englischen ins Deutsche transferierenden Übersetzung von Joachim Bartholomae.

Eine Kleinstadt voller Wege und Abwege         

Denn nicht nur, dass der Roman inzwischen nicht gealtert ist und keineswegs thematisch beschränkte „Community-Literatur“ liefert (der offen homosexuell lebende Alan Hollinghurst würde es sich verbitten, von den Wächtern einer reduktionistischen Identitätspolitik als „queer writer“ katalogisiert zu werden): Dieses Buch ist ein veritables Meisterwerk – sowohl in der Beschreibung der ostentativ kunstsinnigen und doch partiell mysteriösen Kleinstadt wie in der nuancierten Nachzeichnung des hoch-ambivalenten Seelenlebens der Figuren.
Erzählt aus der Perspektive eines verhinderten Schriftstellers und keineswegs frustrierten Englisch-Nachhilfelehrers mit dem schönen sprechenden Namen Edward Manners fächert sich alsbald ein Panorama auf, das innerer wie auch äußerer Natur ist und von Museen in dämmrige Gassen und an Kanalwege führt, zu Orten der Ausschweifung und dann wieder zurück in die Kunsttempel der Sublimation.

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Fast überflüssig zu erwähnen, dass sich Edward-mit-den-besonderen-Manieren dann alsbald in seinen 17-jährigen Nachhilfeschüler Luc verliebt, der freilich in Wirklichkeit alles andere ist als ein stiller, fragiler Ephebe. Im Gegenteil: Zusammen mit einem Kumpel und einer Freundin wetten die drei jungen Erwachsenen, ob es Luc gelingen wird, den zwei Jahrzehnte Älteren „abzukriegen“.
Kein überflüssiges Detail, strukturieren doch solch unerwartete Konstellationen diesen Roman und verhindern, dass hier eine melodramatische Schmacht-Geschichte erzählt wird.

Gewitztes Erzählen statt schwülstiger Treibhausprosa    

Vielleicht ist das eine Weitere der nicht geringen Freuden bei der Lektüre: Die Entdeckung, wie viel dieser Alan Hollinghurst wagt und welche Fallstricke er meidet. Wer sich schon einmal durch die hierzulande vor allem von heterosexuellen Rezensenten pflichtgemäß hochgelobte gekünstelte Treibhausprosa eines pathetisch unglücklich katholisch-kärntnerisch-schwul sozialisierten Josef Winkler gequält hat, kann hier nämlich auf jeder Seite aufatmen: nichts dräuend Verschwitztes, kein Metaphernwust, keine hochfahrende stilistische Überfrachtung.
Obwohl doch auch der „Hirtenstern“ auf mehreren Ebenen spielt und sein Protagonist die eigenen Verstrickungen gespiegelt findet in der (heterosexuellen) Erotik des symbolistischens Maler Edgard Orst. Diesem ist in der Stadt ein Museum gewidmet, dessen Direktor freilich von ganz anderen Verstrickungen weiß – nämlich von denen seiner Mitbürger während der deutschen Besatzung, als es auch unter den Flamen nicht zu knapp infame Kollaborateure gab.
Eine reale Geschichte, wenngleich der Maler Orst fiktiv ist und die im Roman so bezirzend reflektiert beschriebenen Bilder nirgendwo existieren. Mit welcher Transparenz Alan Hollinghurst gerade das Verrätselte und Uneindeutige sinnfällig macht, ehe sein Held dann wieder auf einer der kopfsteingepflasterten Gassen unterwegs ist, um... Aber das soll hier nicht verraten werden.