Akribische Analyse Lateinamerikas

31.08.2011
Der Lateinamerika-Professor Michael Zeuske stellt mit "Simón Bolívar" den Wahrheitsgehalt der Befreierlegende auf den Prüfstand. Seine komplexe historische Analyse empfiehlt sich Lesern, die schon eine Bolívar-Biografie hinter sich haben.
Der Titel ist ein wenig irreführend: Denn die Person des Simón Bolívar steht nicht im Mittelpunkt dieser Abhandlung, wir haben es hier nicht mit einer Biografie zu tun. Der Autor untersucht die Entstehung des Mythos vom Befreier Südamerikas, dessen Entwicklung innerhalb seiner historischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und dessen Instrumentalisierung durch verschiedene politische Interessengruppen bis in die Gegenwart hinein.

Michael Zeuske, Professor für Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln, ist Spezialist für den karibischen Raum, hat viel über Humboldt gearbeitet und auch eine Biografie über Francisco de Miranda, den Kampfgefährten Bolívars, vorgelegt. Mit den Quellen kennt er sich also bestens aus. Und die Grundlage seiner Thesen wirkt solide: Die erste Hälfte seines Buches bestreitet er mit einer hochinteressanten Darstellung der venezolanisch-karibischen Kolonialgesellschaft. Eine sehr minoritäre weiße Oligarchie - die sogenannten Mantuanos - besaß riesige Ländereien und Sklaven, um sie zu bewirtschaften. Simón Bolívar, vielfacher Erbe, gehörte dazu.

Der große Rest der Bevölkerung, die "Pardos" - Mestizen, Mulatten, freie Sklaven, Indios, also mehr oder weniger dunkelhäutig - war weitgehend recht- und machtlos. Bis der Sklavenaufstand und die Unabhängigkeit in Haiti 1804 ihren immer wieder aufflammenden Rebellionen Nahrung gab. Die Pardos, so Zeuskes These, waren es, die letztlich die Unabhängigkeit erkämpften - nachdem Bolívar schließlich eingesehen hatte, dass ohne oder gar gegen sie kein Krieg zu gewinnen war. Sein Anliegen war primär die Unabhängigkeit, die Gleichheit strebte er nicht an, er nahm sie politisch in Kauf. Der erste Präsident des republikanischen Venezuela war ein Pardo.

Im zweiten Teil löst Zeuske, akribisch und schichtweise, die Geschichte der Unabhängigkeitskriege in Venezuela (1810 bis 1823) von der Bolívar-Legende. Und bezweifelt auf der Grundlage höchst einleuchtender Quellenkritik sogar den Wahrheitsgehalt eines zentralen Mythos: dass die Begegnung mit Alexander von Humboldt 1804 Bolívar zum politischen Akteur erweckt habe. Die angeblich so lange Freundschaft der beiden bestreitet er.

Ebenso gründlich stellt er die unterschiedlichen Ausprägungen des Bolívar-Mythos vor. Er unterscheidet den national-konservativen vom fortschrittlich-liberalen Diskurs und diese wiederum vom oral tradierten volkstümlichen Kult - aus dem sich schließlich sogar eine marxistische und –aktuell – die chavistische Variation entwickelte. In dieser Hinsicht ist diese Abhandlung wahrlich erschöpfend.

Aber Lesern, die nicht auf die Geschichte des Bolivarismus spezialisiert sind, enthält er in schönster akademischer Selbstbeschränkung vieles vor: zum Beispiel eine zumindest grobe Darstellung des Verlaufs der Unabhängigkeitskämpfe im damaligen Groß-Granada, der wechselnden Bündnisse oder der faktischen, nicht-mythologischen Rolle Bolívars dabei.

Zudem sind die Gebiete außerhalb der Grenzen des heutigen Venezuela, jenseits der Anden, so gut wie gar nicht berücksichtigt. Empfehlenswert ist dieses Buch also eher für Leser, die schon eine Bolívar-Biografie hinter sich haben.

Besprochen von Katharina Döbler

Michael Zeuske: Simón Bolívar. Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos
Rotbuch Verlag ,Berlin 2011
176 Seiten, 12,95 Euro
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