Akademie der Wissenschaften diskutiert

Europa im Selbstfindungsprozess

Eine europäische Fahne weht unter blauem Himmel.
Auf dem Akademie-Podium war zwar von europäischen "Betriebsproblemen", nicht aber von einer Sinnkrise die Rede. © Rene Ruprecht, dpa
Von Jochen Stöckmann · 21.09.2015
"Die EU zwischen Dauerkrise und leiser Supermacht" - das stand in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Diskussion. Dabei zeigte sich: Die nationalen Mentalitäten sind im Fluss.
Wäre Europa tatsächlich jene "stille Supermacht", die auf dem Podium in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Diskussion stand, "Solidarität" müsste ihr unverbrüchlicher Grundwert sein. Daran, an dieser moralisch-ethischen Norm hätten alle politischen Entscheidungen nicht nur in Brüssel, sondern vor allem in den jeweiligen Hauptstädten der Mitgliedstaaten sich auszurichten. Das hört man – meist folgenlos – in Sonntagsreden. Das hätte aber, ernst genommen, erhebliche Konsequenzen:
"Man kann sich nicht eine schlechte Politik erlauben und dann hinterher den Versuch machen, alle daraus resultierenden Lasten auf die Europäische Union aufzubürden."
Für den Völkerrechtler Christian Tomuschat widersprechen sich derzeit der Anspruch, Einfluss im globalen Maßstab auszuüben – mit der Geschlossenheit Europas als Voraussetzung – und die Bewältigungsversuche der aktuellen Krisen. Und auch Milos Rezník, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, sieht bei der Bewältigung der griechischen Finanzprobleme und vor allem im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen die Politik zu übereilten, unbedachten Entscheidungen gedrängt. Eine Art Blanko-Schecks auf eine ungewisse Zukunft:
"Dass man mit Quoten Blanko-Prinzipien einführt, über deren Folgen man sich noch nicht im Klaren sein kann. Weil man nicht weiß, wie sich die Flüchtlingskrise entwickeln wird in den nächsten Monaten und Jahren."
Was fehlt, wäre eine Politikberatung. So etwas wie die kultursoziologische, das jeweilige gesellschaftliche Klima in feinsten Verästelungen beobachtende Prognose. Für viele Staaten der Gemeinschaft in Südosteuropa etwa konstatiert der Historiker eine Art von verschobener Wahrnehmung:
"Diese Selbstidentifizierung als die armen Länder Europas, das finde ich interessant und problematisch, weil man immer noch nicht bereit ist zu merken, dass alle diese Länder – Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen – relativ zu den reichsten zählen."
Italiener entdecken Gemeinsamkeiten mit den Griechen
Die Mentalitäten sind also im Fluss: Während die Osteuropäer sich arm reden, entdecken beispielsweise die Italiener ihre enge Nachbarschaft zu den Griechen. Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom:
"Die alltäglichen Verbindungen zwischen Italienern und Griechen sind sehr, sehr eng. Und nicht ideologisch überformt, wie das in den europäischen Medien in der einen wie in der anderen Form passiert. Merkwürdigerweise entsteht so etwas wie ein südeuropäischer Erfahrungsraum, den es in dieser Form vorher nicht gegeben hat."
Auf der anderen Seite beobachte Baumeister aber auch sogenannte "Experten" oder Medienintellektuelle, die weiterhin ihre schlichte Weltsicht verbreiten, damit populistischen und antieuropäischen Strömungen Vorschub leisten:
"Von den 'PIGS', Südländern, die ihre Hausaufgaben nicht machen. Auf der anderen Seite die protestantischen Nordeuropäer, die den neoliberalen Kapitalismus zur Führungsideologie der Europäischen Union deklariert haben. Das sind ganz merkwürdige Verkürzungen, die halte ich für sehr gefährlich."
Zumindest direkt reagierte der Historiker Baumeister dann allerdings nicht auf die völkerpsychologisch krude These von Christian Tomuschat:
"In der Finanzpolitik zeigt sich das Wesen eines Volkes. Bin ich hartherzig, preußisch, drehe ich den Taler dreimal um, nicht wahr? Oder werfe ich das Geld mit großer Geste heraus. Ich nenne jetzt keine Namen, aber diese Mentalitätsunterschiede gibt es. Sie haben sich in Griechenland massiv widergespiegelt."
Europäische Sicht auf Deutschland verändert sich
Seine Festschreibung unterschiedlicher nationaler Mentalitäten verstand der Völkerrechtler zwar mit Angaben über die Verschuldung des griechischen Staatshaushalts zu belegen. Aber entkräften dürre Statistiken und nackte Zahlen politische Zukunftsentwürfe, an moralisch-ethischen Werten orientierte Europa-Visionen? Zumindest, so Tomuschat, darf man diese Einwände nicht beiseite wischen:
"Nicht jede kritische Stimme kann dann gleich abgewehrt werden als rechtsextremistisch oder so etwas. Sondern das sind Nachdenkensprozesse, die notwendig sind. Und wo man sich irgendwie zusammenraufen muss."
Diesen Prozess des Zusammenraufens hätte man – wenn auch nur rhetorisch, auf dem Akademie-Podium – gerne en detail, genauer gesehen, beziehungsweise gehört. Aber Berlin ist nicht der Nabel Europas – und die europäische Sicht auf Deutschland ändert sich derzeit grundlegend. Martin Bauermeister berichtet aus Italien:
"Wie sich Diskussionskulturen verschieben können: Wenn ich mich erinnere an die neunziger Jahre, wo 'Das Boot ist voll' alles determiniert hat und jetzt hat man da ein völlig anderes Bild als das, was noch im Juli dominiert hat: des bösen, hegemonialen Schuldeneintreibers."
Auch Milos Reznik sprach Deutschland in einer bis dahin nicht erwähnten Krise – dem Ukraine-Konflikt – eine "Wegweiser"-Funktion zu. Und der Historiker aus Warschau resümierte, dass Europa, solange es nur darüber streitet, ob eine Million Flüchtlinge zu verkraften oder die griechischen Schulden irgendwann einmal abzuzahlen sind, allenfalls "Betriebsprobleme" habe, aber durchaus keine Sinnkrise durchleide.
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