Identität

Die europäische Seele erforschen

Anlässlich des Europafestes halten Kinder ein Bild mit Händen in den deutschen und polnischen Farben in Frankfurt an der Oder hoch.
Anlässlich des Europafestes halten Kinder ein Bild mit Händen in den deutschen und polnischen Farben hoch. © picture alliance / dpa / Foto: Patrick Pleul
Von Jochen Stöckmann · 10.06.2014
In Zeiten des Eisernen Vorhangs hatten die Westeuropäer Europa, die Osteuropäer glaubten daran. So fasst der englische Historiker Timothy Garton Ash seine damalige Wahrnehmung zusammen. Was Europa heute ist, darüber diskutierte er mit dem Literaturprofessor Karl Heinz Bohrer.
Schön war’s mit der Generation "Euro-Rail“, die Mitte der Siebziger zumindest zeitweise in den Genuss jenes kulturellen Privilegs kam, das der Literaturprofessor Karl Heinz Bohrer auf Dauer genießt – und das ihm die derzeitigen Debatten über Europa verleidet:
Karl Heinz Bohrer: "Warum eine so kritische Haltung zu dem Wort ´Europa als Einheit`, zu dem Konzept? Das liegt einfach daran – und nun wird es ein bisschen paradox – weil ich Europa so liebe. England und Frankreich, da habe ich nicht nur ganz früh mich entschieden, dorthin zu fahren, sondern in beiden Ländern für immer zu leben. Ich war so überwältigt von der Differenz, dass es mich geradezu ungeheuer fasziniert hat."
Wohl dem Manne, der zwei oder gar drei Wohnsitze hat: Er ist gefeit vor den Gefahren jener literarischen oder philosophischen Europa-Utopien, denen insbesondere Linksintellektuelle anheimfallen, weil sie nach den schlechten Erfahrungen mit dem "Modell Deutschland“ nun ihr Heil in einer neuen, umfassenderen Einheit suchen:
"Es gibt auch quasi Identitätsmenschen und Differenzmenschen. Hegel war bestimmt ein Identitätsmann, ähnlich wie Habermas. Ich bin ein Differenzmann, ich liebe nur Differenzen. Das war auch mein allmählich böse werdender Instinkt, als ich die Obsession in deutschen Kreisen mit Europa merkte, vor allem bei Leuten die keine private Erfahrung in den verschiedenen Ländern haben und keine Achtung vor der Differenz."
Da teilt Bohrer, der Ästhet, durchaus etwas mit jenen Linken, die den Umgang Deutschlands etwa mit den Nachbarn in Südosteuropa kritisieren – wenn auch nicht mit diesem Distinktionsvermögen und Stilempfinden:
"Dass wir ihnen kein Geld geben, das ist ganz richtig. Aber diese Leute in ein Modell zu zwingen, was nicht ihre kulturelle Vergangenheit ist, das finde ich abstoßend."
Damit war für den englischen Historiker Timothy Garton Ash, der wie Bohrer auch in Stanford lehrt, die Gelegenheit gekommen, seinem Kontrahenten zumindest auf dem Berliner Podium Einhalt zu gebieten.
Zuhause im Ausland
Timothy Garton Ash: "Man fühlt sich zuhause im Ausland. Das ist etwas spezifisch europäisches und wie ich finde kostbares. Ich gebe Ihnen völlig recht, es gibt keine Nur-Europäer. Jeder hat seine eigne Prägung."
Es folgten einige semantische Klügeleien, gipfelnd in Ashs Erinnerung an seinen polnischen Freund Bronislaw Geremek, für den Europa so etwas wie eine "platonische Essenz“ gewesen sei. Dagegen bot Bohrer mit Vico, Ortega y Gasset und Paul Hazard drei Philosophen auf, die bezeichnenderweise nach einer Krise oder einem Krieg um 1920 Grund sahen, ein vereintes Europa zu denken. Sie wollten zum inneren Wesen Europas vordringen, die europäische Seele erforschen. Auch damals schon: Kulturelle Phantasmen, weil politische Konzepte fehlten.
Karl Heinz Bohrer: "Wenn die eigentlichen institutionellen, ökonomischen Argumente ausgehen und man auf diese Art von – ich muss es dann doch so sagen – Phraseologie zurückfällt."
Eben diese Phraseologie aber griff Timothy Garton Ash auf, als er zustimmend den ukrainischen Ministerpräsidenten Petro Petroschenko mit seinem in Paris abgegeben Credo zitierte: "Das europäische Projekt liegt im Herzen unserer nationalen Identität.“ Ein Glaubenssatz, der dem britischen Historiker immer wieder begegnete, als er noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in der Ukraine unterwegs war.
Timothy Garton Ash: "Zwischen Westeuropa und dem, was man damals Osteuropa nannte, bin ich zu dem Schluss gekommen: Europa ist tatsächlich zweigeteilt – zwischen denjenigen im Westen, die Europa haben und denjenigen im Osten, die daran glaubten." (Seufzer)
Keiner glaubt mehr an Europa
Heute "haben“ alle Europa – und glauben nicht mehr daran. Deshalb der vernehmliche Seufzer vom Moderator, dem Theologen Christoph Markschies. Auch für Ash ist die "Glaubenskrise“ kein empirischer Befund, er – der früher so intensiv vor Ort recherchierte – leitet seine Einschätzung aus den Umfragen des "Euro-Barometers“ ab. Und fragt eher rhetorisch nach Gründen für den Verlust der mit "Europa“ verknüpften Hoffnungen. Eine kokette Frage, findet Bohrer: die Währungsunion hätte eben nur dauerhaft Früchte tragen können, wenn eine politische, administrative Union gefolgt wäre.
Heinz Bohrer: "Diese Situation ist nicht von uns hier lösbar. Eigentlich ist nur zu bedauern, dass die Argumente nicht schärfer formuliert werden, sondern innerhalb der Politik durch Pragmatismus doch weitgehend verdeckt."
Soweit, so stichhaltig. Aber dann ging auch Bohrers polemischer Elan zur Neige – und die ganze akademische Runde im Stammtischgelächter baden – auf Kosten jenes europäischen Parlamentspräsidenten, der immerhin die Kärrnerarbeit in den Ebenen der Brüsseler Politik geleistet hat:
Karl Heinz Bohrer: "Wir sind kein Demos, es gibt keinen europäischen Demos. Es gibt nur die Addition, die Akkumulation von Völkern. Und deren Glaube ist nicht identisch mit dem, was Juncker und – wie heißt er noch mal? – ich habe es vergessen. Ich habe mir Sätze von ihm aufgeschrieben, das ist dann die letzte Banalisierung. Schulz, ja Schulz ... um Gottes willen."
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