Antisemitismus-Vorwurf

Söder hält an Aiwanger fest

Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger und Ministerpräsident Markus Söder (von links) während einer Pressekonferenz 2018.
Ein politisches Gespann: Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger und Ministerpräsident Markus Söder während einer Pressekonferenz 2018. © picture alliance / Sven Simon / Frank Hoermann
03.09.2023
Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger bleibt im Amt. Ministerpräsident Söder spricht von „Augenmaß statt Übermaß“. Aber lässt sich das Flugblatt als „Jugendsünde“ abtun? In den 1980er-Jahren war Antisemitismus allgegenwärtig – in West und Ost.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält kurz vor der Landtagswahl in Bayern am 8. Oktober weiter an Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger fest. Dessen schriftliche Antworten auf 25 Fragen der bayerischen Staatsregierung, seine Äußerungen in der Öffentlichkeit und ein langes persönliches Gespräch hätten die Grundlage für diese Entscheidung gebildet, erklärte Söder in einer Pressekonferenz am 3. September.
Als Schüler soll Aiwanger (Freie Wähler), der auch stellvertretender Ministerpräsident ist, in den 1980er-Jahren ein antisemitisches Flugblatt verfasst haben. Er bestreitet dies, sein Bruder hat inzwischen mitgeteilt, der Verfasser gewesen zu sein. Viele bezeichnen den Vorfall als „Jugendsünde".
Der Politikwissenschaftler Gideon Botsch widerspricht dieser Deutung und verweist auf den Hass und die Gewalt, die mit solchen Hetzschriften einhergingen. Es gebe eine Kontinuität antisemitischer und rechtsextremer Hetze und Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg, betont er.

Welche Vorwürfe gibt es gegen Aiwanger und wie sind die Reaktionen?

Hubert Aiwanger, Bundesvorsitzender der Freien Wähler, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister, soll als 17-jähriger Schüler ein Flugblatt mit rechtsextremem und antisemitischem Inhalt verfasst haben. Aiwanger distanzierte sich davon, es sei „ekelhaft und menschenverachtend“, sagte er. Sein älterer Bruder, Helmut Aiwanger, hat inzwischen angegeben, die Hetzschrift verfasst zu haben.
Die "Süddeutsche Zeitung" hatte zuerst über das Flugblatt aus dem Jahr 1988 berichtet – kurz vor der Landtagswahl in Bayern am 8. Oktober. Ehemalige Mitschüler haben zudem angegeben, Hubert Aiwanger habe auch Judenwitze erzählt und den Hitlergruß gezeigt. Er bestreitet diese Vorwürfe oder kann sich nach eigenen Angaben an ein solches Verhalten nicht mehr erinnern. Nach Druck aus seiner Partei (Freie Wähler) hat sich der Politiker mittlerweile bei den Opfern des Holocaust und den Hinterbliebenen entschuldigt. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, begrüßte die Entschuldigung, kritisierte aber den bisherigen Umgang Aiwangers mit den Antisemitismus-Vorwürfen.
Der 52-jährige Aiwanger selbst spricht von einer „Schmutzkampagne“. Er solle persönlich und politisch zerstört werden. „Ich bin weder Antisemit noch Extremist, sondern ich bin ein Demokrat. Ich bin ein Menschenfreund, kein Menschenfeind“, sagte Aiwanger. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält an seinem Wirtschaftsminister fest. Auch nachdem Aiwanger 25 Fragen schriftlich beantwortet hat, die mit seinem Einverständnis auch veröffentlicht wurden.

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Die Antworten sind laut Söder „nicht alle befriedigend“. Einen Beweis dafür, dass Aiwanger das Flugblatt verbreitet hat, gebe es aber nicht. Außerdem habe sich Aiwanger seit dem Vorfall nichts Vergleichbares zuschulden kommen lassen und das Ganze sei 35 Jahre her. Eine Entlassung aus dem Amt hält Söder deshalb für „nicht verhältnismäßig“.

Warum ist das Flugblatt keine "Jugendsünde"?

Neben den Forderungen nach Rücktritt beziehungsweise Entlassung von Hubert Aiwanger halten viele zu ihm und bezeichnen sein damaliges Verhalten als „Jugendsünde“. Dem widerspricht Gideon Botsch, Leiter der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam.
So werde in dem Flugblatt neonazistische Propaganda rezipiert, es sei „nicht im luftleeren Raum“ entstanden. Vielmehr handle es sich um ein „besonderes Maß an Antisemitismus“, so Botsch. „Man muss schon sagen, dem Sprachduktus nach ist das ein Ausdruck von einem wirklich mörderischen Vernichtungsantisemitismus. Denn hier geht es ja wirklich darum, mit der Gedankenfigur des Vergasens, des Ermordens, der Massengräber zu spielen, und das Leuten an den Hals zu wünschen.“
Dieses Flugblatt sei ein "absolut heftiger Text", mit seinem hämischen, mörderischen Ton ziehe es sich durch die Geschichte des modernen Antisemitismus, sagt Botsch. So seien seit den 1970er- und 1980er-Jahren auch „Judenwitze“ auf den Schulhöfen verbreitet gewesen. Zudem weist der Historiker darauf hin, dass in Antisemitismusdebatten wie jetzt in der Causa Aiwanger oft übersehen werde, dass solche Äußerungen Menschen direkt beträfen, gefährdeten und Hass auf sie lenkten.

Welche Rolle spielt der „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten" in der Causa Aiwanger?

Es lohnt auch, sich den Kontext anzuschauen, in dem Ende der 1980er-Jahre das Flugblatt verfasst worden ist. So ist die Hetzschrift auch als Verhöhnung des „Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten“ entstanden, der Schüler und Schülerinnen damals animierte, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort auseinanderzusetzen. Etabliert wurde der Wettbewerb bereits 1973 vom damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) und dem Hamburger Unternehmer Kurt A. Körber. Bis heute gibt es diesen Wettbewerb zu wechselnden Themen.
Der Historiker Norbert Frei, der damals Jurymitglied war, war nach eigenen Angaben überrascht, mit welcher Intensität und Qualität Schüler und Schülerinnen forschten. So seien die „Zwangsarbeiter“ erst durch diesen Wettbewerb in der deutschen Gesellschaft als Thema des Krieges und der Kriegswirtschaft verankert worden, erklärt er.
Eine junge Frau sitzt auf einem Stuhl und hält eine Ausfertigung der Totenmaske von Kurt Tucholsky in der Hand.
Die Historikerin und Autorin Anna Rosmus erhielt 1987 für ihre Forschungsarbeit über den Alltag im Nationalsozialismus eine Ausfertigung der Totenmaske von Kurt Tucholsky. Von vielen wurde sie für dieses Engagement auch angefeindet.© picture-alliance / dpa / Michael Fink
Viele junge Menschen gingen damals in Kirchen- und Stadtarchive, um mehr über den Nationalsozialismus in ihrer Stadt und in ihrem Dorf zu erfahren. Dabei erlebten sie auch zunehmend Widerstände und Anfeindungen, wie die spätere Historikerin Anna Rosmus. Sie forschte in den 1980er-Jahren als Schülerin in Passau. „Die Leute waren misstrauisch, wollten nicht, dass dieses Thema wieder aufgegriffen wird“, erzählte sie in einem damaligen Dokumentarfilm. Außerdem berichtete sie von Bestechungs- und Erpressungsversuchen - bis hin zur Androhung einer Entführung.

dpa, rtr, Nadja Mitzkat, jde
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