"Manche starben im Gottesdienst"
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Aids verbreitete sich anfangs vor allem in schwulen Communities – ein furchtbarer Einschnitt, nachdem nur wenige Jahre zuvor queere Menschen endlich Freiheiten erkämpft hatten. In San Francisco veränderte Aids auch das religiöse Leben.
"Die historisch gewachsenen schwulen Communities wie Castro, Polk Street und South of Market waren sofort viel leerer, weniger Menschen waren auf der Straße, die Leute blieben daheim – klingt das nicht irgendwie vertraut? – und auch hier in Sha‘ar Zahav wurden manche krank und verstarben", erzählt Marc Lipschutz. Marc Lipschutz ist der Präsident von Sha‘ar Zahav, einer progressiven jüdischen Gemeinde in San Francisco.
Heute findet man sie auf der anderen Straßenseite der San Francisco Mission. Aus dem Fenster weht die Regenbogenfahne. Lipschutz kam im Mai 1980 in die "City by the Bay", als im Castro-Distrikt, dem homosexuellen Viertel der Stadt, die Welt noch in Ordnung war.
"Die Gemeinde wurde von drei schwulen Männern gegründet – und das zu einer Zeit, als viele jüdische Organisationen keine schwulen Juden haben wollten", erinnert sich Lipschutz. "Wir waren aber Teil der jüdischen Gemeinde und wussten sofort, ganz, ganz früh in der Epidemie, dass wir reagieren mussten."
Von der Politik und konservativen Kirchenkreisen geächtet
1980 wurde ein Patient in San Francisco mit dem Hautkrebs Kaposi-Sarkom behandelt. Nur wenige Monate später, 1981, erklärte das Center for Disease Control diesen Fall rückwirkend als den ersten Aids-Fall in der "City by the Bay". Angst und Ungewissheit machten sich breit. Niemand wusste genau, wie man sich anstecken konnte. Hinzu kam, dass betroffene HIV-Positive und an Aids-Erkrankte, eigentlich die gesamte Gaycommunity geächtet wurde. Von der Politik genauso wie in konservativen Kirchenkreisen. Die Rede war vom "Schwulenkrebs", von der "Rache Gottes".
In einer Pressekonferenz im Weißen Haus, vom 15. Oktober 1982, wurde das ganz deutlich. Aids war für die Regierung unter Ronald Reagan kein Thema, sagt Marc Lipschutz: "Mir kommen die Tränen und es macht mich wütend, wenn ich daran denke, dass der Präsident damals erst nach sechs oder sieben Jahren seiner Präsidentschaft das Wort ‚Aids‘ aussprach."
Die Pastorin Peggy Nixon ergänzt: "Weißt Du, es ist eine Sache, in einer Krise zu arbeiten. Es ist etwas ganz anderes in einer Krise zu arbeiten und dann auch noch von anderen Kirchenführern und Politikern als Abschaum hingestellt zu werden oder zu hören, dass es Gottes Fluch ist. Es kostete enorme Kraft, die Menschen starben, die Wissenschaftler fanden kein Vakzin oder eine Heilung. Und in den ersten Jahren interessierte es niemanden, denn es waren ja nur ein Haufen Schwuler, die starben."
"Unsere Kirche sah eher wie eine Krankenhauskapelle aus"
Peggy Nixon kam in den frühen 1990er-Jahren als Co-Pastorin zur "Metropolitan Community Church" auf der Eureka Street, im Herzen des Castro-Distrikts, zu einer Zeit, als Aids seinen traurigen Höhepunkt am Golden Gate erreichte. 1992 starben fast 1200 Männer in San Francisco an Aids, es war die Haupttodesursache für Männer im Alter zwischen 25 und 44 Jahren.
Im Castro-Distrikt von San Francisco wusste man, dass man auf sich allein gestellt war. Auf den Straßen sah man abgemagerte und gezeichnete Kranke in Rollstühlen und mit Infusionen. Die Community rückte zusammen und das mit der Unterstützung von Synagogen, wie Sha‘ar Zahav und protestantischen Kirchengemeinden, wie der "Metropolitan Community Church". Jim Mitulski kam Mitte der 1980er-Jahre nach San Francisco und war 15 Jahre lang der Pastor der MCC, wie sie genannt wird.
"Manchmal sah es in unserer Kirche eher wie in einer Krankenhauskapelle aus. Es waren so viele Kranke da. Manchmal übergaben sie sich. Über das Jahr verteilt verstarben immer ungefähr ein halbes Dutzend Männer während des Gottesdienstes, das war sehr schwer", erinnert sich Mitulski und ergänzt: "Ich erzähle das aber nicht, um zu schockieren, eher, um zu betonen, dass wir die Menschen einluden, Teil unserer Gemeinschaft zu sein – egal, in welchem Stadium sie waren."
Glauben und leben mit den Erkrankten
Aids traf die Castro-Community mit voller Härte. Die inoffizielle Hauptstadt der Homosexuellenbewegung, in der das Anderssein, das offene Leben als Schwuler und als Lesbe gefeiert wurde, war im Mark erschüttert. Es ging, so Jim Mitulski, nicht darum, als Christ Armen, Kranken und Schwachen zu helfen:
"Unser Ansatz war, wir bieten nicht einen Service an, wir arbeiten zusammen. Wir machten nicht etwas für die armen Menschen mit Aids. Wir waren die Leute mit Aids und die Leute ohne Aids. Wir machten alles zusammen, für und miteinander. Es war mehr eine Begleitung als ein Fürsorge- oder ein Wohltätigkeitsangebot, wie es Organisationen oder andere Kirchen machten. Unsere Kirche bekräftigte die Homosexualität, unsere Kirche feierte die Sexualität. Wir waren die Leute mit Aids und die ohne, wir gingen gemeinsam, Arm in Arm, in Solidarität miteinander. Es war ein ganz anderer Ansatz. Unsere Kirche war der Ort, zu dem die Leute kommen konnten."
Berührt werden trotz Aids
Nicht alle Glaubensgemeinschaften, Kirchen und Synagogen stellten sich dieser Herausforderung. Doch die, die sich im Castro-Bezirk befanden, wussten, dass sie handeln mussten. Ein Viertel der Mitglieder der jüdischen Gemeinde Sha‘ar Zahav waren selbst von einer HIV-Infektion und Aids betroffen. Man war da füreinander, kochte, ging einkaufen, putzte Wohnungen, organisierte Besuche im Krankenhaus und man berührte sich gegenseitig, denn gerade davor hatten viele in den Anfangsjahren der Aids-Krise Angst.
Marc Lipschutz zeigt auf eine Namenstafel an der hinteren Wand des großen Saals von Sha‘ar Zahav:
"Die Schwulen- und Lesben-, Divers- und Multi-Gender-Community antwortete durch Liebe. Ja, wir wussten, es könnte jemand von uns sein, für mich war jeder weitere Tag ein Geschenk Gottes. Ich erinnere mich noch an diese frühen Tage, wenn jemand, der sehr, sehr krank war, mit einem Rollstuhl durch die Castro Street geschoben wurde. Das war Mitte der 1980er-Jahre... überall diese Flecken, eingefallene Wangen, sie waren sehr, sehr dünn, kaum fähig zu laufen, viele wurden von einem Freund gestützt. Und wir nahmen sie wahr, sagten Hallo, erkannten, dass sie den letzten Spaziergang oder die letzte Rollstuhlfahrt durch die Castro machten. Es ging darum, sie zu erkennen, sie nicht zu übersehen."
Jim Mituslki ergänzt: "Das Anfassen ist Teil unserer Kirche, gerade in Kalifornien, sich umarmen, sich spüren. Aber das nahm während Aids nicht ab. Ganz im Gegenteil, es nahm noch zu, es wurde betont. Gerade dann, als wir wussten, es gibt keine Gefahr durch die Berührung. Die Leute mit HIV beschrieben die Krankheit immer als Berührungsentzug oder Berührungsisolation. Das Berühren bedeutete also sehr viel."
Überlebt, aber gezeichnet fürs Leben
Jim Mitulski sitzt bei diesem Gespräch in seiner Wohnung in Oakland und erzählt. Er berichtet von jenen Jahren, in denen er Hunderte Freunde, Bekannte, ihm nahestehende Menschen beerdigen musste. Er redet gerne über diese Zeit – er muss darüber reden, wie er selbst sagt:
"Ich bete viel, noch immer. Es hat einen persönlichen Tribut gekostet. Ich selbst habe auch Aids. Und durch Glück habe ich überlebt, um die Geschichte zu erzählen. Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe und andere nicht. Das ist nie weg, das ist immer da. Es ist ein Teil von mir. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke. Ich musste es einfach für mich akzeptieren, und ich bin noch immer in Therapie. Ich habe Freunde, die meinen Aids-Geschichten einfach zuhören. Ich muss es einfach erzählen, dafür bin ich den Freunden sehr dankbar."
Auch für Seelsorgerin und Pastorin Peggy Nixon waren diese Jahre eine Herausforderung, die sie an ihre Grenzen führte: "Ich erinnere mich daran, dass ich mich nicht wohlfühlte und zur Ärztin ging. Sie untersuchte mich gründlich und meinte dann zu mir: ´Du musst mal richtig weinen.` Ich meinte: ´Und dafür hast Du acht Jahre Medizin studiert?‘ Und sie sagte: ´Ja, genau.`"
Die Aids-Krise hat sie alle verändert, tief getroffen und berührt. Oft half ihnen ihr Glaube, gab ihnen die Kraft, diese Krise selbst durchzustehen und zu überleben.