Ai Weiwei: „1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen“

Die Kraft der Kunst

06:02 Minuten
1000 Jahre Freud und Leid von Ai Weiwei
© Penguin Verlag

Ai Weiwei

Übersetzt von Norbert Juraschitz und Elke Link

"1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen"Penguin , München 2021

416 Seiten

38,00 Euro

Von Eva Hepper |
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In seinen Memoiren erzählt der Künstler Ai Weiwei nicht nur von seinem eigenen Werdegang, sondern auch von seinem Vater, dem Dichter Ai Qing: eine einzigartige und erschütternde Familiengeschichte vor dem Hintergrund eines totalitären Regimes.
Walt Whitman, Charles Baudelaire oder Federico García Lorca: Die Bibliothek des Vaters war exquisit bestückt. Sie bedeutete ihm die Welt. Doch 1967, als die chinesische Kulturrevolution mit ihrem mörderischen Terror begonnen hatte, stellten die Bücher eine Gefahr dar.
So schichteten der 47-jährige Dichter Ai Qing und der knapp zehnjährige Ai Weiwei ein großes Lagerfeuer auf und übergaben alles den Flammen.

Verpflichtung zur Vernunft

Es ist eine tief traurige Szene, die der heute weltberühmte Künstler Ai Weiwei in seiner Autobiografie schildert. Doch prägte sie ihn anders als seinen Vater. Dieser war so niedergeschlagen, dass ihn Selbstmordgedanken quälten.
Den Sohn hingegen erfasste „eine seltsame Kraft, eine Verpflichtung zur Vernunft, zu einem Sinn für Schönheit – diese Dinge sind unbeugsam, kompromisslos und jeder Versuch, sie zu unterdrücken, muss zwangsläufig Widerstand hervorrufen.“

„1000 Jahre Freud und Leid“ - nach einer Gedichtzeile Ai Qings - nennt Ai Weiwei seine Memoiren. Tatsächlich nimmt er nicht nur sein Leben in den Blick, sondern auch das seines Vaters und seiner Familie.

Verfolgung als „Rechtsabweichler“

Fast die gesamte erste Hälfte des Buches ist Ai Qing gewidmet, und sie liest sich ungeheuerlich. Ai Weiwei beschreibt den Werdegang des Vaters zum großen Dichter - mit prägendem Aufenthalt im Paris der 1930er-Jahre -, seine spätere Position als Redakteur und schließlich den brutalen Wendepunkt mit der Verfolgung als „Rechtsabweichler“.
Von 1967 an lebt die Familie in „Klein-Sibirien“. Ai Weiwei schildert die gemeinsamen Jahre dort so klar wie lakonisch. Allein durch die präzise Beschreibung des Lageralltags, der Zwangsarbeit und des Hausens in einem als Wohnung zugewiesenen Erdloch vermittelt sich das Unermessliche der Not.
Der Vater wurde schließlich 1979 rehabilitiert, doch fast 50 Jahre später befindet sich nun der Sohn in einer Zwangslage. Wie Ai Qing angeklagt wegen „Anstiftung zum Umsturz der Staatsgewalt“ wird der Künstler 2011 verhaftet und 81 Tage festgesetzt. Damals fällt er den Entschluss zu diesem Buch.

Reflexion des eigenen Werdegangs

Erst schreibend, so Ai Weiwei, gelingt es ihm, sich mit seiner familiären Vergangenheit zu verbinden und den eigenen Werdegang zu reflektieren. Der Künstler berichtet von seiner Orientierungslosigkeit als junger Erwachsener, von seinen Jahren in New York, wie er zurück in China zu seinen Themen findet und schließlich Weltruhm erlangt. Auch die Genese vieler seiner Werke wird hier erläutert.
Es muss viel Kraft gekostet haben, diese Erinnerungen aus der Versenkung zu heben. Das totalitäre Regime tat und tut nach wie vor alles, um „unliebsame Fragen“ und mit Tabus belegte Geschehnisse verschwinden zu lassen.
Selten waren Memoiren so fruchtbar und so erhellend! Wer glaubte, den Künstler Ai Weiwei zu kennen, wer seine Aktionen zur Flüchtlingskrise (2016) kritisierte oder seine Widerborstigkeit beklagte: Dessen Urteil dürfte jetzt milder ausfallen.
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