Ágnes Heller über Populismus

"Die Geschichte wird sich nicht wiederholen"

Die ungarische Philosophin Ágnes Heller; Aufnahme vom Dezember 2011
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller; Aufnahme vom Dezember 2011 © picture alliance / dpa
Ágnes Heller im Gespräch mit Dieter Kassel |
Wie anfällig ist die Mitte der Gesellschaft in Europa für Populismus und Nationalismus? Die ungarische Philosophin Ágnes Heller meint: In der heutigen Massengesellschaft seien alle Parteien populistisch. Die Frage sei nur, mit welchen Losungen sie jeweils die Mehrheit gewinnen wollten.
Die 87-jährige Holocaust-Überlebende sieht im Nationalismus eine Gefahr für Europa. Er könne viele Menschen ansprechen, vor allem, wenn es einer Generation schlechter gehe als der vorherigen. Allerdings schätzt Ágnes Heller Westeuropa wehrhafter ein als die osteuropäischen Staaten. Dort, im früheren Einflussgebiet der Sowjetunion, habe sich keine Mitte ausprägen können.
Auf die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre sei Europa nicht vorbereitet gewesen, sagt Heller. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe man vom "Ende der Geschichte" gesprochen, alles werde nun demokratisch verlaufen. Nach Meinung Hellers sollte man aber stets auch Dystopien, eine "entsetzliche Zukunft" mitbedenken, um etwas dagegen tun zu können.
Vergleiche mit der Weimarer Republik lehnt die Philosophin jedoch ab: Die Welt sei anders geworden, die Menschen seien durch zwei Weltkriege, den Nazismus, den Holocaust gegangen: "Davon werden sie auch nicht sehr viel gelernt haben - etwas haben sie doch von dieser Situation gelernt: Die Geschichte wird sich nicht wiederholen."

"Alle Parteien sind populistisch"

Für den Begriff "Populismus" hat Heller nicht viel übrig:
"Populismus ist meines Erachtens ein schlechter Ausdruck. In der Massengesellschaft sind doch alle Parteien populistisch. Alle brauchen nämlich die Mehrheit. Die Frage ist, mit welchen Losungen sie diese Mehrheit ansprechen."
Der Unterschied bestehe zwischen Politikern, die zur liberalen Demokratie stünden, und jenen, die mit Nationalismus und Hass Wahlen gewinnen wollten: "Das ist die Frage - nicht, ob man die Wahrheit gewinnen will." (bth)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: In Köln findet gerade, auch von unserem Programm unterstützt, ein Symposium mit dem Titel "The Extreme Center" statt, zu Deutsch: die extreme Mitte, und es geht um die Frage, ob die so genannte Mitte der Gesellschaft sich inzwischen radikalisiert hat, ob sie anfälliger ist für radikale Positionen, die in der Vergangenheit nur am linken oder insbesondere auch am rechten Rand der Gesellschaft akzeptabel schienen. An einer Podiumsdiskussion nimmt dort auch die ungarische Philosophin Ágnes Heller teil. Die Holocaust-Überlebende ist inzwischen 87 Jahre alt, und ich habe mich vor dieser Sendung mit ihr unterhalten und sie gefragt, was sie eigentlich von dieser Theorie hält, es gebe eine Art radikaler Mitte, was wir uns eventuell unter dieser Mitte vorzustellen hätten.
Agnes Heller: Wir leben doch in einer Massengesellschaft, in keiner Klassengesellschaft. Was die gesellschaftliche Mitte ist, was es bedeutet, das muss man zuerst fragen. Es gibt ein Mitteleinkommen, wie viel bezahlt ist, oder welche Professionen waren bestellt, oder ob man intellektuell, auch sozusagen ein spirituelles Leben, intellektuelles Leben auch führt. Das sind ganz verschiedene Konzeptionen der Mitte. Doch glaube ich, dass heutzutage, mindestens die Politik, in die Mitte rücken wird, das heißt, die Extreme sind heutzutage verdächtiger geworden, und aus guten Gründen sind sie verdächtiger geworden. Deswegen wird die Politik hoffentlich sich in die Mitte schieben.
Das sieht man schon in Österreich, in den holländischen Wahlen, wahrscheinlich das wird auch in den französischen Wahlen passieren. Doch das ist nur in Westeuropa und Mitteleuropa, das ist nicht so in Osteuropa. In Osteuropa gehen die Bewegungen in verschiedene Richtungen. Dort verschiebt sich etwas wesentlich in die Rechte oder andere in die Linke, aber es gibt Probleme mit der Mitte, wahrscheinlicherweise, weil es überhaupt keine Mittelklasse gab. In den Ländern, die von der Sowjetunion besetzt wurden, war es keine Möglichkeit, eine Mittelklasse zu entwickeln. Ich meine nicht nur eine Mittelklasse im Einkommen, aber eine Mittelklasse in der Kultur, in Interessen.
Das hat sich in Osteuropa nicht entwickelt. So wird es große Probleme geben in osteuropäischen Ländern. Es gibt schon sehr große Probleme in diesen Ländern. Das heißt, die Entwicklung in Westmitteleuropa auf der einen Seite und Osteuropa auf der anderen Seite wird wahrscheinlicherweise in verschiedenen Schienen laufen.

"Marine Le Pen wird nicht französische Präsidentin"

Kassel: Aber sind Sie wirklich doch relativ entspannt – so klang das für mich gerade –, was Westeuropa angeht. Sie haben Frankreich ja schon erwähnt. Da sagen die Vorhersagen, dass Marine Le Pen vom Front National die erste Runde der Wahlen gewinnen könnte, auch wenn sie dann hoffentlich am Ende nicht Präsidentin wird. Da muss es doch Menschen geben, aus welcher Mitte auch immer, die offenbar auch für solche politischen Tendenzen stimmen, die dafür anfällig sind.
Heller: Europa ist ein Kontinent der Nationalstaaten. Seit dem Ersten Weltkrieg ist Europa ein Kontinent der Nationalstaaten geworden. Nationalismus ist eine Ideologie, eine wichtige Ideologie, die sehr viele Menschen ansprechen kann. Wenn es sehr gut geht, dann hat Nationalismus keinen großen Einfluss. Wenn etwas schiefläuft, nicht so gut geht, wenn es einer Generation nicht so gut geht wie der vorherigen Generation, wenn es Konflikte gibt, wenn es Schwierigkeiten gibt, dann kann man sich immer auf Nationalismus stützen. Doch glaube ich, dass diese Gefahr besteht, aber Marine Le Pen nicht französische Präsidentin sein wird.
Kassel: Dann blicken wir nach Osteuropa: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie da meine Frage mit der Mitte eigentlich beantworten würden mit: Ees gibt in Osteuropa oft gar keine Mitte, und deshalb gibt es auch keine Politik der Mitte, die uns vor Populismus, vor Nationalismus, auch vor Rechtsradikalismus beschützen kann?
Heller: Das würde ich nicht so sagen. Es kann eine Politik der Mitte geben, auch wenn es keine entwickelte Mittelklasse gibt. Es kann zur Klugheit von Politikern kommen, die in die Mitte rücken sollen, weil sie eben zu Europa gehören wollen. Ob das passiert oder nicht passiert, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin keine Prophetin, aber ich kann hoffen, dass auch in einigen, nicht allen, osteuropäischen Ländern die Politik sich zur Mitte entwickeln wird.
Kassel: Sie sind keine Prophetin, das stimmt zwar, aber Ihr aktuelles Buch, also das letzte Buch, das in deutscher Sprache erschienen ist, der Essay "Von der Utopie zur Dystopie", da geht es ja um die Frage der Zukunft und wie wir uns Zukunftsszenarien ausmalen, und man darf Sie da, glaube ich, nicht missverstehen. So wie ich dieses Buch, diesen Essay verstanden habe, sagen Sie ja nicht, wir sollten uns eine Dystopie, also eine schreckliche Zukunft wünschen, sondern wir sollten sie uns ausmalen, damit wir wissen, was möglicherweise auf uns zukommt. Was malen Sie sich für Osteuropa, für ganz Europa denn im Moment aus?

Eine entsetzliche Zukunft ist möglich

Heller: Furcht und Hoffnung sind schlechte Eigenschaften, wie es schon Goethe sagte. Die Utopien stützen sich auf Hoffnung als eine Leidenschaft, und wenn man sehr viel hofft, dann wird man sich täuschen, und Enttäuschung ist das schlimmste, was in der Politik überhaupt geschehen kann. Dystopien, sie sagen nicht, dass wir eine solche entsetzliche Zukunft haben werden, wir zeigen, dass eine solche entsetzliche Zukunft in unserer Möglichkeit ist, es ist möglich, und warnen uns, sie warnen uns, damit wir uns gegen eine solche Zukunftsmöglichkeit wehren sollen.
Es gibt keine Notwendigkeit, es ist immer eine Art der freien Wahl geblieben, aber man muss doch zeigen, welche Gefahren sind, um sie vermeiden zu können. Das war eben das Problem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Ganz Europa sagte, wir erleben jetzt das Ende der Geschichte, alles wird demokratisch verlaufen, alles wird gutgehen. Sie sahen überhaupt keine Möglichkeit, dass noch einmal ein entsetzlicher Platz sein kann, und deswegen war Europa ganz unvorbereitet für die Entwicklungen der letzten zehn Jahre und besonders des letzten Jahres. Es ist gut, wenn Dystopien uns auf solche Entwicklungen vorbereiten. Wenn man vorbereitet ist, kann man doch etwas dagegen tun.
Kassel: Auf was müssen wir uns denn vorbereiten Ihrer Meinung nach? Es gibt ja Menschen, die die Situation in Europa, diesen Nationalismus, die populistischen Parteien, den Verlust des Glaubens an die Demokratie in einigen Ländern, die das vergleichen mit der Weimarer Republik. Bei Ihrem Lebenslauf, ist das ein Vergleich, wo Sie sagen, ja, den können wir inzwischen anstellen oder halten Sie das für völlig falsch?

"Der Vergleich mit der Weimarer Republik stimmt nicht"

Heller: Dieser Vergleich mit der Weimarer Republik stimmt doch nicht, denn die Weltsituation ist verschieden geworden, und die Menschen sind doch durch eine geschichtliche Periode durchgegangen. Zwei Weltkriege, ein Nazismus, Holocaust und so weiter – davon werden sie auch nicht sehr viel gelernt haben, etwas haben sie doch von dieser Situation gelernt: Die Geschichte wird sich nicht wiederholen. Andere Gefahren können wieder passieren, aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir können nur etwas gegen eine drohende Zukunft machen, wenn wir realistisch unsere Zeit sehen und die Möglichkeiten und die Gefahren in unserer Zeit sehen oder sie mindestens sehen wollen, dazu bereit sind.
Kassel: Hat – und das zum Schluss, Frau Heller –, hat Vernunft und Nachdenklichkeit heute noch eine Chance? Ich habe manchmal das Gefühl, dass man in der Politik in Europa – ich sehe es in Deutschland, ich sehe es in Frankreich, vielleicht auch anderswo – Populismus von rechts, wenn überhaupt, eher mit so einer Art Populismus von links bekämpfen kann. Vernunft, Nachdenklichkeit, Erklärung – hat das im Moment eine Chance?
Heller: Populismus, meines Erachtens, ist ein schlechter Ausdruck. In der Massengesellschaft sind doch alle Parteien populistisch. Alle brauchen nämlich die Mehrheit. Die Frage ist, mit welchen Losungen sie diese Mehrheit ansprechen. Das ist die Differenz zwischen Menschen, die zur liberalen Demokratie stehen, oder die die Menschen mit extremem Nationalismus, Hass gewinnen wollen. Das ist die Frage, nicht, ob man die Mehrheit gewinnen will. Wir sind doch alle Populisten geworden, aber es gibt gute und schlechte Populisten, um mich so primitiv ausdrücken zu können.
Kassel: Die ungarische Philosophin Ágnes Heller hat sich so ausgedrückt in einem Gespräch, das ich vor der Sendung mit ihr schon geführt habe. Ágnes Heller ist eine der Teilnehmerinnen an einem Symposium zum Thema "radikale Mitte", das gerade in Köln stattfindet und das zur dort noch bis übermorgen stattfindenden "Pluriversale 6" gehört.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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