Aggressionen in der Familie

Wenn Kinder ihren Eltern Gewalt antun

29:49 Minuten
Ein Mädchen schreit aggressiv in die Kamera.
Verhält sich ein Kind aggressiv, werden die Gründe oft bei den Eltern gesucht. © picture alliance/Photoshot/PYMCA
Von Claudia Schiely · 19.11.2018
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Sie beschimpfen, sie drohen, sie schlagen. Gewalt in der Familie geht nicht nur von Erwachsenen, sondern nicht selten auch von Kindern aus. Oft wird es gar nicht bekannt – aus Scham und Ohnmacht. Wie kommt es dazu? Und was können Eltern dagegen tun?
Sabine: "Unser Sohn war von Anbeginn an sehr willensstark und sehr energetisch und wild. Und man muss sagen, dass er von Anfang an Probleme hatte, Grenzen zu akzeptieren, die wir gesetzt haben und setzen. Das äußerte sich in ganz starken Wutanfällen. Die konnte man, als er kleiner war, auch eher weglächeln, weil man das ganze Kind durchaus nehmen konnte, irgendwo hinsetzen und sich quasi unter den Arm klemmen. Umso größer und eigenständiger er wurde, umso mehr er sich auch verbalisieren konnte, umso mehr wurde eigentlich die Dimension dieser Wut und dieser Unverbrüchlichkeit klar."
Anna: "Mein Sohn Paul ist fünfzehn Jahre alt. Er ist vor einem Jahr ausgezogen, nachdem ein Streit zwischen uns derart eskaliert ist, dass er mich mit einem Messer bedroht hat. Bevor er ging, hat er gedroht, alles bei mir zu zerstören. Geschlagen hat er mich und seinen kleinen Bruder auch. Als er vierzehn wurde, fing er an, regelmäßig auszugehen und jegliche Regel zuhause zu missachten. Er ist mittlerweile ein großer junger Mann. Er wirkt älter als er ist und ist ansonsten sehr charmant, klug und lebhaft. Ich hatte zwischendurch regelrecht Angst vor ihm und war extrem traurig über die ganze Situation – und fand keinen Ausweg."
Barbara: "Wir sind in einer Hinsicht nicht mit ihm klar gekommen, seine Stimmungswechsel... Also er hatte gute Laune und hat dann – zwei Minuten später – plötzlich schlechte Laune gekriegt und wurde richtig ausfallend und..."
Frank: "...teilweise aggressiv."
Barbara: "Teilweise aggressiv, genau, und hat dann auch gehauen. Und wir wussten überhaupt nicht, warum, wieso und weshalb in dem Moment."
Frank: "Es ging teilweise so weit, dass er gesagt hat: Okay, ihr seid nicht meine Eltern, ich ziehe aus, ich suche mir einen andere Familie. Ich gehe da und dahin, da habe ich mehr Ruhe und so was. Das war der letzte I-Punkt, wie man sagt, dass er gesagt hat, das geht gar nicht mehr."

Wie umgehen mit der Gewalt der Kinder?

Hilflose Eltern berichten von ihrem Alltag mit ihren heranwachsenden Kindern im Jahre 2018 in Deutschland. Anna, die uns gebeten hat, ihr Interview nachsprechen zu lassen, Sabine, Barbara und Frank. Alle Anfang Mitte 40, berufstätig, mit beiden Beinen voll im Leben, verantwortungsvolle Eltern, die ihre Rolle als Mutter und Vater ernst nehmen und die jedoch im Umgang mit ihren Kindern an ihre Grenzen stoßen und sich fragen: Wie können wir mit der Wut und der Gewalt unserer Kinder umgehen?
Therapeuten empfehlen in solchen Situationen als erstes, dass die Eltern sich eingestehen, dass sie dringend Hilfe brauchen und auch nach entsprechenden Angeboten suchen.

Hören Sie auch unsere Interviews zum umstrittenen Dokumentarfilm "Elternschule", der Eltern und verhaltensauffällige Kinder bei einem Erziehungscoaching in einer Kinderklinik begleitet. Wir haben mit dem Regisseur Jörg Adolph, mit dem Münchner Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch und mit dem Pädagogen Heinz Elmar Tenorth über den Kinofilm gesprochen.

Sabine: "Es gab auch mehrmals Situationen, da war er im öffentlichen Raum, da war er ganz wütend auf uns und ist dann einfach mit dem Fahrrad gefahren, voller Wut. Und das ist in einer Stadt mit dem Verkehr von Berlin nicht witzig. Und als wir uns das vorgestellt haben in größeren Dimensionen, mit einem Kind, das nicht sieben, sondern zehn, elf, zwölf, fünfzehn ist... war uns klar, dass wir Hilfe brauchen, und die haben wir uns dann gesucht und sind so bei einem Therapeuten gelandet. Unsere Hauptfrage war: Ist das therapiewürdig oder ist das normal?"
Der siebenjährige Sohn von Sabine und ihrem Mann ist mittlerweile in Behandlung, er macht einmal pro Woche eine Verhaltenstherapie, bei der die Eltern in regelmäßigen Abständen zu Gesprächen und zur aktiven Mitarbeit eingeladen werden. Seit Beginn der Therapie vor sechs Monaten ist eine deutliche Entspannung in der Familie eingetreten.
In Großstädten stehen Eltern auf der Suche nach Hilfsangeboten in Krisensituationen viele Möglichkeiten zur Verfügung. In akuten Fällen sollten sie sich an die Krisennotdienste wenden, die rund um die Uhr zu erreichen sind und die gegebenenfalls eine Notunterkunft für Jugendliche anbieten. Neben den Erziehungs- und Beratungsstellen der Jugendämter in den jeweiligen Bezirken können Eltern bei anderen Trägern wie der Caritas oder bei privaten Praxen Unterstützung bekommen. Allerdings: Nicht immer ist eine Therapie von Erfolg gekrönt.

Die Eltern gelten meist als die Schuldigen

Anna: "Schon als er sehr klein war, fiel die Aggressivität von Paul auf, und ich habe schon sehr früh mit unserem Kinderarzt darüber gesprochen. Wir waren auch bei verschiedenen Therapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen. Als es später Situationen gab, wo er sein Leben in Gefahr brachte, wurde ich mit ihm in der Kinderpsychiatrie vorstellig. Dort wurde Paul ambulant behandelt. Später wurde ihm eine Verhaltenstherapie angeboten, die er auch zwei Jahre lang machte, die aber nur bedingt half. Es herrschte leider eine langanhaltende Konfliktsituation mit meinem Ex-Partner, und ich vermute, dass diese sich negativ auf alle Therapie-Versuche – und dementsprechend auch auf Pauls Verhalten – ausgewirkt hat."
Wenn ein Kind sich sehr aggressiv verhält, sucht man oft die Gründe bei den Eltern. Die Eltern gelten meist als die Schuldigen und Verantwortliche für dieses Fehlverhalten. In hochstrittigen Familiensituationen mag es auf der Hand liegen, dass dieses Klima das Verhalten vom Kind negativ beeinflusst. Auf der anderen Seite ist ein aggressives Kind sicherlich für viele Eltern eine solche Herausforderung, dass ihre Beziehung dadurch auf den Prüfstand gestellt wird.
Berlin, im Mai 2018. Circa 30 Therapeuten und Sozialarbeiter haben an einem heißen Morgen Platz genommen in einem geräumigen Seminarraum vom Pfefferwerk, einem freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin-Mitte. Drei Tage lang werden sie von dem israelischen Kinder- und Jugendpsychologen Idan Amiel und seinem Team vom New Authority Center in Tel Aviv in eine Therapie-Methode eingeführt, die gerade im Umgang mit sehr aggressiven Kindern eine spürbare Unterstützung für die Eltern bietet. Bekannt ist dieser Ansatz unter dem Namen "Neue Autorität". Geladen haben Christoph Klein von der Abteilung "Kooperation Jugendhilfe und Schule" vom Pfefferwerk und Melanie Hubermann vom privaten Berliner Therapiezentrum Balagan. Beide Einrichtungen kooperieren seit 2017 mit dem Center.

Christoph Klein: "Was eine wichtige Botschaft ist im Rahmen der Neuen Autorität für die Arbeit mit Eltern, liegt vor allem darin, dass man mit ihnen den Rücken stärkt und deutlich macht, dass sie wichtig sind für ihre Kinder und dass es niemanden gibt, der wichtiger ist und dass selbst, wenn sie der Meinung sind, vieles noch nicht so gelungen ist, wie sie sich das gewünscht haben oder dass sie sich Vorwürfe machen, Dinge, nicht so umsetzen zu können, wie sie sich das wünschen, dass sie ab sofort damit beginnen können dazu beizutragen und Neues zu versuchen."
Melanie Hubermann: "Wir finden beide die Methode toll, wir finden das Team dahinter fantastisch und haben uns zusammengetan und haben die Israelis überredet und haben gesagt, wir müssen was zusammen machen, mit unserem Hintergrund, mit unserer Manpower, mit unseren Ideen und unserem Netzwerk, das wir hier in Berlin haben."
Es ist heiß an diesem Morgen und Idan Amiel beginnt seinen Vortrag mit einem Witz über fehlende Klima-Anlagen in Berlin. Drei Tage lang wird der kahlköpfige, energische und freundliche Mann die Teilnehmer mit der Therapie-Methode der Neuen Autorität vertraut machen, damit die von ihnen betreuten Familien davon profitieren können.
"Ich heiße Idan Amiel, ich bin der Vater von zwei Jungs, Hitam und Michael, und ich arbeite am Schneider's Children Hospital in Tel Aviv und ich werde jetzt einen Vortrag halten..."
Idan Amiel (l.) mit seinem Team (Nitsan Lipshitz, Dana Bloomberg Sadé, Galit Siegmann) vom New Authority Center in Tel Aviv
Idan Amiel (l.) mit seinem Team (Nitsan Lipshitz, Dana Bloomberg Sadé, Galit Siegmann) vom New Authority Center in Tel Aviv© Claudia Schiely
Idan Amiel erklärt, welches die Grundüberlegungen für das Konzept der Neuen Autorität waren:
  • die Feststellung, dass sich die Gewalt bei Jugendlichen im Laufe der 1990er-Jahre verdoppelt hat und dass die Kinder, die zu Gewalt griffen, immer jünger waren,
  • der Verlust einer natürlichen Autorität der Eltern,
  • die Veränderungen in der Kommunikation, da viele Eltern in der digitalen Welt weniger in der Lage sind, die Kontrolle über ihre Kinder zu behalten,
  • die Tatsache, dass viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder alleingelassen werden
  • die Tendenz, die Eltern generell zu beschuldigen, statt ihnen zu helfen
  • und letztlich: Die Schwierigkeiten vieler Eltern durch die Digitalisierung, ihre Berufstätigkeit von ihrem privaten Umfeld strikt zu trennen. Auch dies trägt auch zu einer geschwächten elterlichen Präsenz bei.

Gewaltloser Widerstand als Therapie-Methode

Idan Amiel: "Es fing damit an, dass wir auf der Suche nach Eltern waren, die Angst vor den eigenen Kindern haben. Als wir mit dem Programm begannen, waren die Kinder nicht bereit, mitzumachen. Die Kinder waren zu Hause die Chefs, richtige Könige und Königinnen. Und für sie kam es überhaupt nicht in Frage zur Therapie-Sitzung zu gehen. Und so waren wir alleine mit den Eltern: Und wir hatten Fälle, wo die Kinder sehr brutal waren und das Familienleben kontrollierten.
Im Laufe der Jahre kamen dann auch andere Eltern zu uns, aus Familien, wo die Beziehungen komplexer waren, Familien, in denen die Eltern die Kinder schlugen oder umgekehrt. Und da haben wir angefangen, darüber nachzudenken, wie wir eine Art Widerstand gegen die Gewalt aufbauen könnten. Das ist der Grund, weshalb wir uns dem gewaltlosen Widerstand widmen und darüber nachdenken, was es bedeutet."
Der Gründer der Neuen Autorität ist der israelische Kinder- und Jugendpsychologe Haim Omer. In Deutschland wurde er bekannt gemacht durch den systemischen Therapeuten und Professor an der Universität Witten/Herdecke Arist von Schlippe.
Arist von Schlippe: "Wenn wir versuchen als Familientherapeuten ein Familienproblem erst einmal als Familienproblem zu definieren, ist ja immer das Problem, dass die Eltern sich tendenziell ein bisschen angegriffen fühlen können. Haim Omer ging ganz anders an die Eltern heran, indem er eben sich symbolisch hinter die Eltern stellte und sagte, ich verstehe Eure Sorgen, die sind berechtigt und das ist richtig, dass ihr Euch Sorgen macht, und ich helfe Euch, Eure elterliche Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen, die elterliche Hilflosigkeit zu überwinden."
Um diese elterliche Hilflosigkeit zu überwinden, bekommen die betreuten Eltern im Rahmen der Therapie Werkzeuge an die Hand.

Mütter werden an den Haaren gezogen, bespuckt, gekratzt

Arist von Schlippe: "Es kommen Eltern in die Beratung und sagen: 'Wir wissen nicht mehr weiter, wir haben vielleicht sogar Angst vor unserem Kind, weil es uns – in Anführungszeichen – tyrannisiert', bis hin dazu, dass Eltern erleben, dass Kinder körperlich gewalttätig werden, Mütter, die an den Haaren gezogen werden, die von den Kindern bespuckt und gekratzt werden.
Die Eltern tendieren dann natürlich dazu, ihr Kind ein Stück anzuklagen. Und dann suchen wir als erstes danach, wie können wir eine Beschreibung geben, die es ermöglicht, weder dem Kind den schwarzen Peter zuzuschieben noch den Eltern. Das ist ein ganz interessanter Begriff, den der Haim Omer eingeführt hat und das ist der der Dominanzorientierung? Wir sagen dann zu den Eltern: ‚Oh, Sie haben offensichtlich ein sehr dominanzorientiertes Kind. Dominanzorientierung ist erstmal nichts Schlechtes. Wahrscheinlich ist jede Führungskraft auf der Welt – man muss ja nicht gerade an Donald Trump denken – ein dominanzorientiertes Kind gewesen. Aber ein dominanzorientiertes Kind stellt besondere Herausforderungen an die Eltern, überfordert die Eltern auch."
Dieser Prozess ist sehr wichtig, damit die Eltern wissen, das Kind mag sie zwar malträtieren, es ist jedoch nicht krank. Nur die Situation ist krank. Nicht das Kind soll behandelt werden, sondern die Familiendynamik soll neu geregelt werden, und dafür ist die Mitarbeit der Eltern unabdingbar.
Arist von Schlippe: "Die nächste Übung wäre dann die mit den drei Körben. Man lässt sie Klagen auf Kärtchen schreiben und sagt dann: ‚Jetzt haben wir drei Körbe. Hier sind der große grüne Korb, der mittlere gelbe und der kleine rote. Und all die Klagen, wo man sagen muss, das gehört letztlich zum Kindsein dazu, darüber regen wir uns erstmal nicht mehr auf, die kommen in den grünen Korb. Ein wichtiger Moment: Wir sagen nicht, welche das sind, sondern die Eltern müssen sich darüber unterhalten."
Eine gewisse Coolness, ein Laissez-Faire ist für viele Eltern scheinbar schwer zu erlangen. Zu sehr befinden sie sich im Widerspruch mit der Erziehung, die sie selbst genossen haben und fühlen sich – wenn sie mit einem dominanzorientierten Kind zusammenleben – selber orientierungslos. Aber es ist möglich, daran zu arbeiten.

Das Konzept der Neuen Autorität

Sabine: "Also ich glaube, wir sind dabei wesentlich entspannter geworden, und dabei hilft uns die Therapie. Ich glaube, sofern wir zum Beispiel nicht das Gefühl haben, er will nicht zum Zahnarzt und es ist dringend... im Prinzip hält er die Schmerzen ja aus… Wenn er nicht bereit ist zu gehen, dann leben wir alle damit, und dann müssen wir im Zweifelsfall in die Notaufnahme, wenn es ganz schlimm wird mit den Schmerzen."
Arist von Schlippe: "Im nächsten Schritt würde man erarbeiten, dass sie – wenn sie jetzt den roten Korb haben –, dass sie als nächstes eine Ankündigung verfassen... Das, was da drin stehen sollte ist, dass die Eltern sagen: 'Wir erleben immer wieder, dass Du sehr gehässig und sehr verächtlich mit Deiner kleinen Schwester sprichst, dass du sie schlägst, dass sie sich sehr unglücklich fühlt. Und wir selber sind sehr unglücklich über die Spannungen in unserer Familie. Wir sind an einer guten Beziehung zu Dir interessiert, und wir sind entschieden, alles zu tun, dass wir die Beziehung in unserer Familie verbessern. Und dazu gehört, dass wir solche Gehässigkeiten, wie wir sie in der letzten Zeit erlebt haben, nicht mehr hinnehmen.'"

Das Prinzip, auf dem das Konzept der Neuen Autorität beruht, ist der gewaltlose Widerstand, wie ihn Gandhi und später Martin Luther King geprägt haben. Konfrontiert mit Verhältnissen, die sie erniedrigen, ihrer Freiheit berauben oder in denen sie gar körperlich angegriffen werden, reagieren die meisten Menschen mit Gewalt. Das ist der Beginn einer Eskalation.
Arist von Schlippe: "Ich bin mit dem Begriff der Neuen Autorität nicht besonders glücklich: Die holländischen Kollegen haben einen schönen Vorschlag gemacht, sie nennen das 'Connective authority', also eine Autorität, die auf Bindung setzt und die eben nicht auf Unterdrückung setzt."
Diese Idee des gewaltlosen Widerstandes übersetzte Haim Omer im Tel Aviver Kinderkrankenhaus Schneider’s Hospital für die Elternberatung, um Eltern von gewalttätigen Kindern praktische Hinweise für den Alltag zu geben.
Ein kleiner Junge im Bildvordergrund guckt traurig, im Hintergrund liegt ein größerer Junge auf dem Sofa
Auch Geschwister leiden unter dem aggressiven, teils gehässigen Verhalten ihnen gegenüber.© picture alliance/chromorange/Iris Kaczmarczyk

Das Mantra ist: Deeskaliere! Deeskaliere! Deeskaliere!

Der israelische Kinder- und Jugendpsychologe Idan Amiel schildert, wie ein häuslicher Streit eskaliert. Die Mutter kocht in der Küche, der eine Junge macht seine Hausaufgaben, die Tochter schaut fern, der jüngste Sohn spielt Computer. Und plötzlich kommt im Fernsehen ein Song, den die Tochter sehr mag. Sie dreht den Pegel hoch. Die Mutter schreit, sie möge den Ton leiser machen. Währenddessen geht der ältere Junge zu seinem Bruder und fängt an, sich mit ihm anzulegen und ihn zu hauen, weil er jetzt Computer spielen möchte.
Idan Amiel: "Was macht die Mutter, wenn sie richtig genervt ist? Sie schreit: ‚Ich habe dir gesagt, dass Du deinen Bruder nicht hauen darfst.‘ Das ist eine Kampfreaktion, die die Eskalation befördert. Gewaltloser Widerstand kommt aus Indien, und in Indien gibt es Mantras. Das Mantra ist: Deeskaliere! Deeskaliere! Deeskaliere!
Was sollte die Mutter sagen? Die Mutter könnte dem Kind so was sagen wie: ‚Wir haben Dir gesagt, dass wir nicht akzeptieren, dass Du Deinen Bruder haust. Wir reden nachher noch mal darüber.‘ Nicht das Kind wird sein Verhalten ändern, der Elternteil muss es zuerst tun."
Im Berliner Pfefferwerk üben die Therapeuten und Sozialarbeiter in einem Rollenspiel die Methode der "Ankündigung". Ein Fall wird geschildert:
Jenny ist 15 Jahre alt und Einzelkind. Seit zwei Jahren hat sich ihr Verhalten deutlich verändert, sie verbringt immer mehr Zeit vor dem Computer oder mit dem Smartphone und akzeptiert es nicht, wenn ihre Eltern dies einschränken wollen. Sie schreit sie an, ist schon mal ihrer Mutter gegenüber gewalttätig geworden und hat sie mehrfach auf den Boden geschmissen. Danach sperrt sich Jenny in ihrem Zimmer ein und redet tagelang nicht mehr mit ihren Eltern. Die Eltern lernen, wie sie ihrer Tochter eine Ankündigung machen können.

Das Kind soll die Präsenz der Eltern spüren

Zuerst sprechen sie mit einem Therapeuten und spielen alle möglichen Reaktionen ihres Kindes durch. Das Wichtigste dabei: Die Eltern wollen ihrem Kind in Ruhe mitteilen, dass sie mit einigen seiner Verhaltensweisen Probleme haben und nicht mehr bereit sind, diese zu akzeptieren. Aber auch, dass sie ihr Kind damit nicht alleine lassen. Es kommt nicht darauf an, ein schnelles Ergebnis zu erzielen. Wichtig ist, dass das Kind die Präsenz seiner Eltern spürt.
Dana Bloomberg-Sadé vom Tel Aviver Center for New Authority: "Wie macht man das? Man sucht sich eine Verhaltensweise aus, die man als inakzeptabel in den ‚Roten Korb‘ reingetan hatte. Man wartet auf einen ruhigen Moment, geht in das Zimmer des Kindes, setzt sich auf den Boden und sagt: ‚Wir akzeptieren die Gewalt, mit der Du gestern Deine Mutter angeschrien hast, nicht mehr. Wir wollen, dass Du eine Lösung vorschlägst und werden hier ganz ruhig für eine Stunde bleiben und danach dein Zimmer verlassen‘.
Es ist keine Strafe, sondern Widerstand. Es ist nicht gewalttätig, denn, wenn man auf dem Boden sitzt, ist man nicht gewalttätig. Lasst uns probieren..."
Jenny: Was macht ihr hier? Ich mache meine Hausaufgaben, haut ab!
Mutter: Jenny, wir wollen Dir eine Ankündigung machen: Wir akzeptieren dein gewalttätiges Verhalten nicht mehr.
Jenny: Oh, Gott, hat euch der Lehrer geschickt oder was? Es interessiert mich nicht...
Mutter: Wir werden hier bleiben und darauf warten, dass Du Vorschläge machst.
Jenny: Haut ab, ich mache meine Hausaufgaben. Fickt euch, haut ab!!
Ein Junge zeigt den Stinkefinger, im Hintergrund ist verschwommen ein erwachsener Mann zu sehen.
In der Konfliktsituation selbst ist es schwierig, die Wogen zu glätten.© imago/photothek
Die Teilnehmerin, die Jenny spielt, lässt sich alles Mögliche einfallen, versucht mit den Eltern zu verhandeln, sie zu erpressen, beschimpft sie immer wieder. Denjenigen, die die Eltern spielen, fällt es sichtlich schwer, beharrlich und ruhig zu bleiben, sich nicht in eine Diskussion reinziehen zu lassen.
Nach zehn Minuten ist der Ton schon viel leiser geworden. Jenny hat ihren Eltern keinen Vorschlag machen können, wie sie ihr Verhalten ihnen gegenüber ändern könnte, aber sie hat die massive Präsenz – und das Interesse – ihrer Eltern deutlich gespürt.
Arist von Schlippe: "Wir nennen das die Kraft des Schweigens, die Kraft des positiven Schweigens. Eine Form des Schweigens, die sagt, ich bin hiermit nicht einverstanden, ich komme später darauf zurück, aber jetzt rede ich darüber nicht weiter. Eine ganz andere Art von Schweigen, eine, die kraftvoll und positiv ist. Und das erarbeiten wir mit den Eltern auch in dem Sit-in. Sie setzen sich in dem Zimmer, sagen, womit sie nicht zufrieden sind, sagen, dass sie auf Vorschläge warten und schweigen."
Für die Eltern, die tagtäglich mit dem nervenaufreibendem Verhalten ihres Kindes leben müssen, besteht wahrscheinlich darin die größte Aufgabe. Die Neue Autorität spricht davon, Eltern mögen ‚das Eisen schmieden, wenn es kalt ist‘, sprich: Die erziehende Maßnahme nach der Krise angehen.
Sabine: "Das klingt so leicht, klar ist das Kind eher bereit Erziehung anzunehmen und Korrektur zu erfahren im Sinne von Kritik, wenn es selber nicht mehr wütend ist. Das muss man nur auch selbst erstmal schaffen, aus dieser Wut und aus dieser Überforderung herauszukommen, die aufbrodelnde Situation tatsächlich runterkochen zu lassen, klaren Kopf zu bewahren und sich vorzunehmen, wenn alles ruhig ist, drüber zu sprechen. Das klingt so einfach, das klingt so banal aber wenn man das selbst in seiner Erziehung anders erlebt hat, kann man da gar nicht so einfach drauf zurückgreifen. Im Prinzip korrigiert unser Kind uns mit."

"Man ist hilflos"

Barbara: "Man ist hilflos, weil man möchte ja gar nicht, dass er so austickt, dass er sich so reinsteigert, weil er ja dadurch für sich auch, sag ich mal, schlechte Energie aufbaut und die nicht so schnell los wird. Wenn man merkt, er blockt gleich wieder ab, sollte man das lassen. Also wir haben gelernt, das zu lassen. Und vielleicht nächsten Tag dann in Ruhe darüber sprechen, weil er es dann noch weiß. Und das ist einfach so, dass man meinetwegen bis 10 zählt oder bis 100, um sich selber runterzubringen, damit man ruhig bleibt."
Arist von Schlippe: "Bei der Ankündigung, da kann es auch sein, dass die Eltern auch Bedauern über eigenes Fehlverhalten ausdrücken. Bedauernde Eltern über eigenes Fehlverhalten ist auch ein ganz wichtiger Aspekt, der für das Kind ganz hilfreich sein kann, weil dann vielleicht das Kind das Gefühl hat, ihr seid doch genauso doof zu mir, und ihr behandelt mich auch schlecht. Das ist eine Geste, eine Geste der Wertschätzung, eigenes Fehlverhalten zuzugeben und zu sagen, da bin ich auch nicht mit einverstanden."

Wenn Sie mehr zum Thema wissen wollen – hier eine Auswahl an Büchern:

Bücher von Haim Omer
Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Mit Philip Streit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016
Stärke statt Macht. Mit Arist von Schlippe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012

Bücher von Arist von Schlippe
Frühkindliche Lebenswelten und Erziehungsberatung. (Hrsg. gemeinsam mit Gisela Lösche und Christian Hawellek) Münster 2001
Werkstattbuch Elterncoaching. Gemeinsam mit Michael Grabbe herausgegeben. 3. Auflage, Göttingen 2012

Buch von Barbara Ollefs
Die Angst der Eltern vor ihrem Kind. Gewaltloser Widerstand und Elterncoaching. Göttingen 2017

Bei der Methode der Neuen Autorität geht es für die Eltern aber auch darum, sich Unterstützung durch ein eigenes Netzwerk zu holen. Das können Familienmitglieder sein oder Lehrer, Freunde oder Nachbarn. Diese werden in die Familiensituation eingeweiht, sollen sich einmischen und ebenfalls Präsenz beim Kind zeigen.
Die kann ganz unterschiedliche Formen haben: Personen können gebeten werden, physisch zu intervenieren. Das wird zum Beispiel empfohlen, wenn die Situation schon vor einer Ankündigung droht zu eskalieren. Auch kann die reine Präsenz eines Dritten im Hause schon dazu beitragen, dass das familiäre Klima ruhig bleibt. Oder aber ein Verwandter meldet sich ab und an beim Kind und unternimmt etwas mit ihm.
Wichtig dabei ist, dass alles transparent verläuft. Die Eltern sollten dem Kind mitteilen, dass sie sich Hilfe von anderen holen werden.

Große Hürde: Die Eltern müssen sich öffnen

Arist von Schlippe: "Alles ganz offen, dem Kind sagen: ‚Ich habe gar keine Lust, es ist eher anstrengend, wenn ich mit den Eltern von deinen Freunden rede. Das ist nur, weil ich nicht weiß, wo du bist.‘ Klar sagen: ‚Ich bin als Elternteil entschieden, wieder eine Rolle in Deinem Leben zu spielen, und das werde ich auch tun. Aber ich habe kein Interesse, Dich zu besiegen. Ich habe kein Interesse, dich irgendwie zu demütigen, auch nicht vor Deinen Freunden Dich bloßzustellen‘."
Um sich ein Netzwerk aufzubauen, muss allerdings eine große Hürde genommen werden: Die Eltern müssen sich öffnen, müssen bereit sein, über ihre schwierige Familiensituation zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Melanie Hubermann vom Balagan, dem Berliner Privatzentrum für Therapie, hat im Frühling 2018 eine Elternambulanz gegründet, die Familien in solchen Situationen berät:
Melanie Hubermann: "Ich glaube, das ist das Thema, dass Eltern der Meinung sind, also das Gefühl bekommen haben, wenn sie es nicht alleine schaffen, dann kriegen sie es nicht hin. Und deswegen ist es so schambesetzt dieses Thema. Und es ist ein großes Thema in unseren Sitzungen zu sagen: ‚Sie sind großartig, das zeigt Stärke, dass Sie sich Hilfe suchen, bei uns aber auch in Ihrem Umfeld.‘ Das ist – gebe ich auch ehrlich zu –, das ist auch immer wieder ein Grund, warum Familien auch abbrechen und lieber in die Elternberatung gehen bei uns und sagen: ‚Ich gehe den leichteren Weg und arbeite an mir.‘ Ich sage mal an der Stelle ist das der leichtere Weg, denn es bleibt trotzdem bei uns, in der Privatsphäre."
Sabine: "Unsere Familien sind mit dem Verhalten unseres Sohnes, sofern sie das sehen, relativ überfordert. Die versuchen verständnisvoll zu sein, aber die können nicht helfen. Wir kommen aus konservativen Familien, wo auch mit Strafen erzogen wurde. Die können sich nicht vorstellen, dass Strafen nicht funktionieren bei einem Kind. Aber wir waren so mit dem Kind konfrontiert..., wir wohnen im 3. Stock…, dass er im Streit gesagt hat, 'wenn ihr das nicht macht, springe ich aus dem Fenster'. Die Situation war dramatisch, er hat auch das Fenster geöffnet, und uns war klar, jetzt müssen wir was machen. Verständnis haben wir dafür im Freundeskreis gefunden. Aber das äußert sich im Gespräch. Da ist niemand, der uns wirklich mit Taten zur Seite stehen könnte."

"Einige Verwandte sind auch eine große Stütze"

Anna: "Ich habe die Gewaltexplosionen von meinem Sohn immer wieder als eine absolute Niederlage von mir erlebt. Ich war nicht nur körperlich angegriffen worden, sondern auch seelisch. Weil das Gefühl in mir aufkam, komplett versagt zu haben. Erschwerend hinzu kam für mich, dass mein Ex-Partner sich über mich lustig machte und mich mit dieser Problematik völlig alleine ließ.
Ich habe zum Glück einen sehr guten Therapeuten gefunden, der mich in dieser schwierigen Situation sehr gestärkt hat. Ich habe viel gelernt. Einige Verwandte sind auch eine große Stütze – auch wenn ich ihnen nicht immer alles erzählt habe, was bei uns passierte. Ich habe – auch in den dunkelsten Zeiten – nie den Kontakt zu meinem Kind abgebrochen. Wir haben uns nach der Krise mehrere Monate nicht gesehen, aber ich habe ihm regelmäßig Nachrichten geschickt. Mittlerweile sehen wir uns ab und zu, und ich habe den Eindruck, das Schlimmste ist hinter uns."
Melanie Hubermann: "Schule und Kindergarten sind eigentlich die größten Verbündeten. Aber auch das ist schambesetzt. Stellen Sie sich vor, wenn die Eltern selbst einen akademischen Beruf haben, lassen sie sie ein Arzt, ein Anwalt, ein Lehrer sein, und der soll in die Schule gehen und sagen, ich kriege mein Kind nicht in Griff… Dann ist das tatsächlich die Hürde, die wir auch als Therapeuten nehmen müssen, ihnen Sicherheit zu geben: ‚Das ist gar nicht schlimm, das zu sagen.‘ Und ich glaube, das ist wieder was Gesellschaftliches: Wir erwarten von uns und vom Gegenüber 180 Prozent. Wir müssen perfekt sein, uns muss alles gelingen, wir müssen super sein. Die Idee, dass man das als Gruppe vielleicht besser schaffen kann, die ist nicht da oder nicht präsent."
Dieser Gedanke prägt die Methode der Neuen Autorität, die gerne das afrikanische Sprichwort zitiert: ‚Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen‘, und die Großstadt-Eltern ermutigt, selbst aktiv zu werden und im Freundes- und Familienkreis nach Alternativen für das Dorf zu suchen.
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