Eltern drogenabhängiger Kinder

"Ich gebe mein Kind nicht einfach so auf!"

28:42 Minuten
Ein Jugendlicher raucht einen Joint.
"Das Kernproblem des Drogenkonsums ist nicht die Droge an sich, sondern der frühe Beginn", sagt der Kinderpsychiater Ottmar Hummel. © picture alliance/dpa/Bildagentur-online/Hermes
Von Horst Gross · 25.04.2019
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Ein süchtiges Kind: Der Albtraum jeder Familie. Allein gelassen kämpfen die Eltern auch mit dem Stigma, versagt zu haben. Nicht selten wird das Drogenproblem des Kindes so zur existenziellen Krise. Professionelle Hilfe gibt es selten.
"Wir haben unseren Kindern die Drogen nicht in die Hand gedrückt."
"Ich weiß mittlerweile nicht mehr, was er nimmt… Weil wir haben nie irgendwas gerochen oder irgendwas gemerkt…"
"13 – 14, also eigentlich noch sehr jung… Der hat noch mit Legos gespielt und fängt an mit Cannabis…"
"Man hofft immer nur Augen zu und durch…"
"Wie Schuppen von den Augen ist es mir gefallen…"
"Ich glaube, da braucht man wirklich Selbsthilfegruppen."
Die lockere Atmosphäre täuscht. In dieser Berliner Elterngruppe geht es um ein heikles Thema: Ihre Kinder sind drogenabhängig. Meist ist Cannabis das Problem. Jahrelang haben die Eltern versucht, ihren Nachwuchs zur Vernunft zu bringen und sind dabei gescheitert. Auf die professionellen Beratungsangebote war da wenig Verlass. Das Drogenproblem der Kids wurde so zur Lebenskrise der Eltern.
In dieser verzweifelten Situation gründeten einige Betroffene eine Selbsthilfebewegung: die Elternkreise. Sebastian Roth gehört zum Berliner Team dieser Initiative.
"Das ist das Gute an unserem Elternkreis, dass die Eltern ziemlich schnell merken: Jede Geschichte ist zwar ein bisschen anders, aber im Grundtenor ist sie eigentlich fast immer gleich. Und man merkt: Ich bin nicht alleine. Es gibt sozusagen Menschen, die das Gleiche erlebt haben oder gerade erleben und daraus ziehen die ihre Kraft."
Ergreifende Geschichten werden hier erzählt. Sie handeln von der quälenden Hilflosigkeit, mit ansehen zu müssen, wie das eigene Kind sein Leben ruiniert – und unter Umständen die Ehe der Eltern gleich mit.
"So jetzt muss ich mal gucken… Da war er 15. Ab da würde ich sagen, ging’s dann los mit der Schule, wo er dann wirklich deutlich schlechter wurde in der Schule…"

Cannabis ruiniert so manche Schulkarriere

Brigitte Schröders Story, sie will wie alle Eltern ihren echten Namen nicht im Radio nennen, ist typisch für ein Drogenproblem, das neuerdings im gutbürgerlichen Milieu der Großstädte immer weitere Kreise zieht. Cannabis erobert die Oberstufenzentren und ruiniert so manche Schulkarriere.
Umfragen zeigen: Bereits mit 15 haben 20 Prozent aller Kinder "aus gutem Hause" Erfahrungen mit Cannabis. Im Familienalbum sieht ihr Sohn nun wirklich nicht nach Drogenproblemen aus. Ein unbekümmerter Junge. Damals, als alles begann.
"Es war nur auffällig, dass er immer mehr im Bett lag und immer lascher wurde und natürlich auch die Schule wirklich immer knapper wurde. Ja also, die Schulleistungen wurden wirklich deutlich schlechter. Dann hat er mit Ach und Krach sich da irgendwie durchgewurschtelt und es wurde eben immer schlimmer. Da hieß es dann auch: Das sei normal. Das machen alle Jungs heutzutage. Aber ich empfand ihn als verändert irgendwann."
Zu Recht. Denn ihr Junge hat damals schon regelmäßig gekifft. Doch noch war der Groschen bei den Eltern nicht gefallen. Auch nicht, als ein weiteres Symptom dazu kam.

Joint, Tabak, Feuerzeug: Utensilien für den Marihuana-Konsum.
Wenn ihre Kinder Drogen konsumieren, suchen Eltern die Schuld meist bei sich.© picture alliance/dpa/Foto: Geisler-Fotopress
"Und ich hatte auch immer so ein Problem: Ich, ich meinte immer, er hätte so große, weite Pupillen. Und ja dann habe ich ihn da manchmal angesprochen. Und er sagte, so ein Quatsch. Und dann sage ich: Jetzt gehen wir mal zum Augenarzt. Das gibt es doch nicht. Aber es war alles mehr auf der spaßigen Seite. Mami geht immer gleich zum Arzt. Und die Kinder sagen: Ach Quatsch. Das braucht es nicht und so."
"Aber einmal kam er dann doch sehr torkelig nach Hause und lallte auch so eigenartig und kicherte so komisch. Also, da fand ich ihn so auffällig. Und da meinte mein Mann dann auch: Ja, jetzt ist er breit. Also jetzt hat er was konsumiert. Und er hat es dann auch zugegeben und wollte aber nicht groß drüber reden. Und er sagte: Na ja mal und so, zwischendurch."

Eltern suchen die Schuld meist bei sich

Die Eltern waren geschockt. Ihr eigenes Kind und Cannabis! Wie war das möglich? Ein dunkler Schatten lag über der Familie. Hatten sie in der Erziehung versagt? Den Jungen überfordert? Eltern suchen die Schuld meist bei sich. Das ist typisch.
Doch damit liegen sie in der Regel falsch, meint der Berliner Kinderpsychiater Ottmar Hummel von den DRK-Kliniken Westend. Er arbeitet eng mit den Elternkreisen zusammen.
"Jugendliche hören oft mit 13, 14 mit ihren bisherigen Aktivitäten auf, von sich aus. Und wollen das nicht mehr. Wollen pubertär sein. Wollen sich mit ihren Kumpels treffen. Wollen chillen. Die meisten Jugendlichen, die ich kenne, fangen an, Drogen zu konsumieren aus Langeweile oder weil die Peergroup sich irgendwo trifft, Musik hört. Und dann kommt Cannabis und dann kommt vielleicht die Partydroge. Es ist oftmals die Suche nach Spaß in der Gruppe, das Hauptmotiv."
"Irgendwann wurde von anderen Kumpels aus dem Park gesprochen. Es war immer: Ich bin draußen und es ist so schönes Wetter und dann kam immer der berühmte Begriff chillen. Wir sind Chillen. Aber ich war da sehr blauäugig. Und ich konnte mir das alles nicht so richtig vorstellen, wie das abgeht. Ich kannte ja auch das Milieu gar nicht."
Plötzlich war die Versetzung in Gefahr. Alarmstimmung bei Brigitte Schröder und ihrem Mann: Alle möglichen Hebel wurden in Bewegung gesetzt: Fachärzte, Jugendfürsorge und die Drogenhilfe sollten den Jungen zur Vernunft bringen.
"Der Einzige, der mir wirklich, als Erstes wirklich, geholfen hat, war die Drogenhilfe. Weil die sehr klar sagte: Der ist noch nicht volljährig. Sie können jetzt noch einen Urintest machen. Dann können sie es mal nachweisen. Damit ist das wenigstens mal vom Tisch in der Familie. Dass einer dann immer sagt: Nö ist ja nicht.
Und dann sind wir zusammen zum Urintest gegangen. Das war auch eine bittere, erniedrigende Erfahrung. Mit seinem Kind dahin zu fahren, um den praktisch zu zwingen, da Urin abzugeben. Und der war ja positiv. Er hat was im Urin gehabt. Und dann war auch ganz klar: Jetzt brauchen wir nicht mehr zu diskutieren. Er konsumiert das und wir wollen das nicht. Und jetzt ist der Konflikt da."

Ihr Sohn hatte sich entschieden

Alle Maßnahmen blieben erfolglos. Ihr Sohn hatte sich entschieden: Kiffen war sein Ding und das ließ er sich nicht mehr nehmen. Das Problem sei sowieso Brigitte mit ihrer übertriebenen Fürsorge. Das sind die Momente, in denen eine Mutter das Vertrauen in ihr Kind verliert.
"Dann habe ich auch meine Nachbarin angesprochen: Was macht er? Oder: Siehst du ihn? Ich suche ihn. Oder: Ich weiß nicht, wo er ist. Und dann sagte sie mir von sich aus: Ja, ich sehe ihn manchmal rauchen, unten. Und da bin ich auch manchmal im Abstand hinterher gegangen. Im Regen. Heulend. Das weiß ich auch noch. Mit dem Regenschirm. Ja, ich hab ein bisschen geguckt immer. Aber ich hab… jetzt einen Dealerring sprengen konnte ich nicht."
Die üblichen Erziehungstricks, mit denen man ein Kind dazu bringt, seine Hausaufgaben zu machen und das Zimmer aufzuräumen, sind ungeeignet im Kampf gegen eine Abhängigkeit. Nur hatte das den Eltern offenbar niemand erklärt.
"Wir wollten ihm immer Anreize schaffen, nicht mehr zu konsumieren. Aber das ging halt bei uns wirklich sehr schwierig, weil mein Mann auch immer viel, viel sanftmütiger war. Also, ich wurde dann immer restriktiver und mein Mann immer softer. Na ja, dann haben meistens eher mein Mann und ich uns darüber unterhalten: Was machen wir denn jetzt? Und im Grunde genommen haben wir dann immer nichts gemacht."
Hummel: "Und das ist für die Eltern sehr schmerzhaft. Sie sehen die Gefahr, sehen die Schule wird immer schlechter. Vielleicht schafft ihr Kind die Schule nicht mehr. Und der Jugendliche sagt: 'Uff. Du bist spießig, verstehst mich überhaupt nicht. Das ist alles kein Problem.' Und beleidigt die Mutter. Geht einfach los mit Freunden. Und das ist für Eltern der Moment, wo sie ihre Hilflosigkeit spüren und merken: Sie können nichts tun. Obwohl sie das Elend eigentlich sehen. Ja! Das ist eigentlich das Hauptproblem. Dieses Gefühl, nicht handeln zu können."
Roth: "Man versucht ja wahrscheinlich, bevor man zum Elternkreis kommt, bestimmte Dinge alleine hinzubekommen, sozusagen. Also okay, dann gebe ich eben halt 20 Euro mehr Taschengeld. Weil oft sind die Mechanismen sehr fürsorglich. Ich mache noch mehr anstatt weniger. Und deswegen raten wir erst mal, sozusagen ein Stück zurückzugehen, ein bisschen weniger zu machen. Klar, für Außenstehende klingt das drastisch. Aber ich glaube, jeder, der das selbst erlebt hat, der weiß, dass umso weniger ich mache – zum Beispiel weniger Geld gebe – umso mehr helfe ich meinem Kind."
Sebastian Roth, vom Team der Berliner Elternkreise, berichtet gerne aus seiner eigenen Biografie. Er war als Jugendlicher selbst cannabisabhängig und hat seine Eltern entsprechend tyrannisiert. Erst, als die konsequent durchgriffen, kam er zur Vernunft.
"Meine Eltern haben mich irgendwann rausgeschmissen. Und wo ja jedes andere Elternteil, der damit zu tun hat, erst mal denkt: Wie kann ich das machen. Aber für mich war es die Erlösung sozusagen. Weil dadurch hab ich wirklich erst kapiert, auf welchem Weg ich mich befinde. Ich glaube, manche drastische Schritte wecken einen halt auf."
Brigitte Schröder und ihr Mann sind diesen Weg nicht gegangen. Ihr Sohn, der die Schule zwar noch geschafft hat, ist nun erwachsen und kifft weiter. Das Studium hat er abgebrochen. Trotzdem hoffen die Eltern weiter, dass er irgendwann schon noch vernünftig wird.
"Es kann ja sein, dass sich in zwei bis drei Jahren das alles erledigt. Aber im Elternkreis hört man eben auch von anderen Lebensläufen. Auch dieses harmlose Kiffen, dass es eben sehr lange den Jungen sehr ausbremst."

Eltern unterschätzen die Wucht von Cannabis

Dass Eltern an Abhängigkeitsproblemen ihrer Kinder verzweifeln, ist kein Zeichen von Inkompetenz: Sie unterschätzen schlicht die Wucht, mit der etwa Cannabis in die Entwicklung eines Heranwachsenden eingreift. Der Berliner Kinderpsychiater Ottmar Hummel.
"Das Kernproblem des Drogenkonsums ist nicht die Droge an sich, sondern der frühe Beginn. In der Pubertät löst sich der Jugendliche vom Elternhaus und geht eigene Wege, entwickelt eine eigene Motivationalität, sein Leben zu gestalten, und das wird durch Drogen verändert."
Cannabisabhängige Kinder werden häufig lethargisch und es besteht die Gefahr, dass sie in der Schule versagen. Internationale Studien belegen diesen Zusammenhang. Das liegt nicht an den Eltern, sondern am Wirkprofil der Substanz.
Eine Hand hält einen Joint.
Die Cannabis-Substanz macht Menschen antriebslos.© clemens fait / photocase.de
"Cannabis ist eine Droge mit einer sehr langen Halbwertszeit. Die Halbwertszeit ist bei drei bis fünf Tagen. Der Stoff reichert sich an. Die Patienten werden immer träger. Das Gedächtnis lässt nach und es tritt so eine Antriebsarmut, die dazu führt, dass sie morgens nicht mehr aus dem Bett kommen. Nicht mehr zur Schule gehen. Keine Hausaufgaben mehr machen. Keine Prüfungen vorbereiten und dann scheitern.
Und weil sie durch den Stoff so abgedämmt sind, merken sie auch die sozialen Folgen nicht. Also ich habe häufig Cannabiskonsumenten gehabt, die haben zweimal die Klasse wiederholt und fanden das vollkommen in Ordnung. Hatten gar kein Problem. Die hätten auch dreimal die Klasse wiederholt."
Erst vor kurzem hat Brigitte Schröder den Weg zu den Elternkreisen gefunden. Zu spät, um Grundsätzliches zu ändern. Trotzdem war für sie, als Mutter, dieser Schritt besonders wichtig. Sie hat ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen.
"Ja, ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen, dass womöglich was an mir liegt und ich das nicht merke. Und das hat mir auch geholfen, ein bisschen Distanz zu kriegen. Vor allen Dingen, weil ich mich von meinem Mann auch so wenig unterstützt fühlte. Deshalb bin ich ja so sehr in die Elternkreise dann gegangen. Es ging uns allen schlecht. Und ich merkte dann, dass viele Mütter sich um ihr eigenes Leben kümmerten und eigentlich dadurch besser mit der Situation umgehen konnten."

Es geht darum, die Eltern zu stärken

Roth: "Beim Elternkreis geht's ja nicht um den Süchtigen, sondern es geht darum, einfach die Eltern zu stärken. Dass sie auch wieder Spaß am Leben haben und Kraft haben, die Dinge Stück für Stück anzugehen. Aha! Ich muss mich mehr um mich kümmern und dadurch helfe ich meinem Kind. Wir sagen jedem Elternteil, dass sie nicht schuld sind. Weil derjenige bewegt sich in die Situation selber rein."
Für viele Kids gilt: Ein bisschen zugedröhnt lässt sich der Stress mit Schule und Eltern besser ertragen. Eine Mentalität, die sich auch in den Hip-Hop-Charts und in YouTube Videos wiederfindet. Bis zu einem Drittel der Schulpflichtigen in deutschen Großstädten hat mittlerweile Erfahrungen mit Cannabis. Ein Viertel aller Szene-Party-Gänger kifft täglich. Andere Drogen spielen in diesem Alter praktisch keine Rolle.
Dass das eigentlich verboten ist, stört da kaum noch. Chillen und Kiffen ist heute Teil des jugendlichen Mainstreams.
Doch da ist auch die andere Seite der Medaille: Da sind die Hunderttausende Eltern, die mit dieser Lebenseinstellung ihres Kindes nicht klar kommen. Denn es bleibt nicht immer nur bei harmlosen Schulproblemen. Manchmal wirft Cannabis einen Heranwachsenden komplett aus der Bahn. So wie im Fall von Sigrid Mohr, einer weiteren Mutter aus dem Berliner Elternkreis. Patchworkfamilie und bürgerliches Milieu – trifft am besten ihren sozialen Hintergrund.
Sigrid Mohr, auch ihre Name wurde geändert, ist eine resolute Frau. Erziehungsprobleme geht sie offensiv an. Sechs ihrer sieben Kinder hat sie so heil durch die Pubertät gebracht. Warum dann der eine Sohn komplett aus der Rolle fiel? Sie rätselt bis heute.
"Also mir ist aufgefallen, dass er nicht mehr zur Schule gegangen ist. Dass er raus aus dem Haus gegangen ist, aber nie angekommen ist, wo er gesagt hat. Ob das Schule war, ob das Sport war, ob das etwas anderes war, als er gesagt hat. Dann haben wir gemerkt, dass er tatsächlich auch zu tun hat mit Cannabis. Mit 13, 14. Also eigentlich noch sehr jung. Ja, typisches Alter, aber eigentlich noch viel zu jung."

Die Lage eskalierte

Und dann ging alles Schlag auf Schlag. Der Junge verlor schnell die Kontrolle über seinen Drogenkonsum. Die Lage eskalierte.
Mohr: "Da stehen einem alle Haare zu Berge. Sie versuchen, jedes Register zu ziehen, um den da wegzukriegen. Ja, sie fangen an andere Sportarten zu wählen. Sie spendieren ihm ein Fitnessstudio. Sie wechseln noch mal die Schule. Ich hab eine Reise mit ihm gemacht und bin gewandert, stundenlang. Damit er sich selbst spürt. Wir haben Familientherapie gemacht."
Die ganze Palette der offiziellen Hilfsangebote hatte Sigrid Mohr durch. Alles umsonst. Ihr Sohn verweigerte jede Therapie. Wieso auch? Das Problem waren doch seine spießigen Eltern. Der Umgangston wurde rauer.
"Wir haben uns auch angebrüllt. Wir sind aneinandergeraten. Es gab körperliche Auseinandersetzungen. Dass ich ihm gesagt hab: Und du gehst heute Abend nicht weg. Ich will nicht, dass du Drogen nimmst. Also man versucht, eine Position einzunehmen, indem Sie sagen: Ich versperre jetzt einem 14-Jährigen den Weg. Der geht heute nicht raus. Aber da ziehen Sie den Kürzeren. Sie schaffen es nicht. Wir konnten ihn nicht halten. Er ist gegangen.
Und da kommt es zu sehr unschönen Situationen, wo sie überlegen: Rufe ich jetzt die Polizei? Wie schütze ich das Kind? Wie schütze ich das Kind, dass es jetzt nicht rausgeht?"
Immer häufiger wurden die Eskapaden ihres Sohns zum Fall für Polizei und Justiz. Ein ganzer Berg von Strafanzeigen hat sich bei den Eltern angesammelt.
"Ich hab hier einen ganzen Packen vor mir. Alles irgendwelche Briefe vom Amtsgericht Tiergarten, ja. Mit Beschlüssen und eingestellten Verfahren. Und dahinter steht immer, dass er unter Drogen und Alkohol, ja da hat er Sachbeschädigung gemacht und dagegen getreten. Die haben randaliert und dann sind die festgenommen worden. Also, wir haben das dann nachher nur noch gesammelt."

Keiner half den Eltern

Alle Verfahren verliefen im Sand. Denn für das eigentliche Problem ihres Jungen, seinen Drogenkonsum, war niemand zuständig. Keiner half den Eltern und die Lage spitzte sich zu.
"Sie schlafen nicht, wenn Ihr Kind nicht mehr zu Hause ist. Sie gucken, ob es noch im Zimmer ist. All diese Sachen, die zehren unglaublich. Eine Beziehung leidet unheimlich darunter. Man macht sich selber Vorwürfe. Man versucht rauszukriegen: Warum, warum? Was habe ich falsch gemacht? Man hat Schuldgefühle. Man fängt an, auch gegenseitig, sich Schuldvorwürfe zu machen. Und steht letztendlich schon sehr alleine da, ja. Erst mal mit gesundheitlichen Problem. Sie schlafen nicht mehr richtig. Das ist nervlich… das ist schon eine große, große Belastung."
Sigrid Mohr liebt ihre Kinder und zeigt ihnen das auch. Doch gegen die Macht der Abhängigkeit hatte sie keine Chance.
"Wenn er dann an so einen Punkt gekommen war, wo es ihm wirklich schlecht ging, wo er gesehen hat, dass er damit eigentlich nicht wirklich glücklich wird… Dann kam er. Und dann konnte man ihn in den Arm nehmen. Dann hat er einem erzählt, wie er das alles macht. Und dass er aufhören will und dass er auch sein Leben ändern will. Und es kam auch so, dass man immer dachte… Wir haben immer wieder gedacht: wir schaffen das, wir schaffen das.
Und es war immer so: In diesen Momenten war er zugänglich und am nächsten Tag, wenn er wieder Drogen genommen hatte oder wenn es ihm besser ging, spielte sich dieselbe Nummer weiter ab. Und er entglitt uns immer mehr."
Es blieb nicht bei Cannabis. Härtere Drogen kamen dazu. Blanke Verzweiflung bei den Eltern.
"Der hatte mich voll in der Hand. So ein Kind hat sie in der Hand. Und die setzen es ein. Wenn Sie Angst um das Leben ihres Kindes haben, setzen diese Kinder das ein. Die haben Macht über Sie. Und das loszuwerden… Ich musste mir selber Hilfe holen, dass ich das aushalten kann und dass ich mich vor meinen Sohn stelle und sage: Ich gehe jetzt und wenn du aus dem Fenster springen willst, dann wirst du es tun. Ich kann und will dich nicht 24 Stunden beaufsichtigen. Du musst das entscheiden. Es ist dein Leben.
Und das machen Sie mal als Mutter. Das ist nicht einfach. Da stehen Sie dann schon an einer Grenze, wo Sie eben wirklich… Sie fangen an, sich um sich selbst kümmern zu müssen, weil Sie es sonst nicht aushalten, ja."

Irgendetwas musste geschehen

Eine ausweglose Situation. Irgendetwas musste geschehen, aber was? Ihr abhängiges Kind war dabei, nicht nur sich selbst, sondern gleich die ganze Familie mit in den Abgrund zu stürzen.
Hummel: "Ich glaube, da braucht man wirklich Selbsthilfegruppen. Also Mütter, die jahrelang versucht haben, durch Hilfe was zu verbessern und das Gefühl haben, sie machen es immer schlimmer. Die das den anderen Müttern sagen: Ich hab das jahrelang probiert, was du da tust, aber es wurde immer schrecklicher. Mein Sohn wird dabei immer aggressiver. Umso mehr ich für ihn tue, umso mehr hasst er mich."

Menschen sitzen in einem Stuhlkreis (Illustration).
Reden mit Menschen, die ähnliches erfahren haben, hilft vielen Betroffenen. © imago/Ikon Images
Eher zufällig hat Sigrid Mohr die Elternkreise für sich entdeckt. Der Beistand und der Rat, den sie hier durch die anderen Eltern erfahren hat, hat ihr Leben grundlegend geändert. Denn die Lage war gar nicht so aussichtslos, wie es schien. Allerdings war konsequentes Handeln gefragt.
"Wir haben angefangen, an uns zu arbeiten, Position zu beziehen, ihm kein Geld mehr gegeben. Wir haben Schmuck weggeschlossen. Wir haben ihn nachher auf die Straße gesetzt. Wenn man sein Kind liebt, muss man plötzlich Wege gehen, die gegen das, was das Herz eigentlich einer Mutter und eines Vaters wollen, was ganz dagegen läuft. Ja, wer setzt sein Kind schon auf die Straße? Das macht man nicht einfach. Ja, das sind Folgen, die sie machen, wenn sie anfangen sich selbst zu entwickeln. Und dann fangen sie an, andere Schritte zu gehen."
Und dazu gehört dann eben auch, den eigenen Jungen aus der Wohnung zu werfen. Der Familie Mohr blieb keine Alternative. Es ging um ihre Existenz. Natürlich war da immer noch die Hoffnung, dass er irgendwann mal zur Vernunft kommt. Nur hat sich das leider nie bewahrheitet.
"Ich habe mit ihm zum Beispiel an seinem 18. Geburtstag telefoniert. Und ich hab vorher jahrelang von ihm nicht den Satz gehört, der mich sehr gerührt hat. Er hat gesagt: Pass gut auf dich auf, Mama, und komm gesund wieder! Das war schon besonders, ja. Ein Kind, wo Sie immer ganz viel Sorgen haben, dass sich plötzlich einmal Sorgen um Sie macht.
Und jetzt habe ich zum Beispiel eine Situation, wo er mir nicht mehr guten Tag sagt. Weil ich ganz klare Position beziehe. Und ich merke, dass er in so einem… Er braucht uns, er will diesen Kontakt und andererseits kommt er noch nicht zurecht, dass wir sozusagen wirklich auch akzeptieren, dass er sich für ein Leben mit Drogen entschieden hat."

Zwei Millionen Mütter und Väter sind betroffen

Statistisch gesehen müssen in Deutschland bis zu zwei Millionen Mütter und Väter mit den Drogenproblemen ihres Kindes zurechtkommen. Das Hilfsangebot der Elternkreise bleibt da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Begrenzt auf einige Großstädte.
Auch die Drogenberatungsstellen sind für das Leid der Eltern prinzipiell nicht zuständig. Wie alleine man dann ist, hat Anja Stein aus Solingen leidvoll erfahren.
"Mein Sohn hat durch diese Drogensucht eine Psychose bekommen. Und wissen Sie, wie mein Sohn damals aussah mit 14? Wie ein Elfjähriger. Der hat noch mit Legos gespielt und fängt an mit Cannabis."
In ihrer Not geht Anja Stein einen ungewöhnlichen Weg. Unter dem Titel "bittere-traenen.de" startet sie ein Internettagebuch mit Diskussionsforum. Ungeschminkt protokolliert sie ihren verzweifelten Kampf.
"Ich habe auch gekämpft mit mir, weil ich konnte über meine Gefühle bei anderen nicht reden. Sie haben’s nicht verstanden. Sie waren nicht in der Situation, wie ich. Aber ich wollte reden. Und dann habe ich angefangen: Das setzt du mal selber ins Netz. Und je mehr Eltern ich erreicht habe, umso weniger habe ich mich auch allein gefühlt. Für mich war es auch eine Art Selbsthilfe."
Über zehn Jahre hat sie ihr Internet-Tagebuch geführt, hier einige Auszüge.

"Er wohnt jetzt in einem Obdachlosenheim. Das ist das Letzte, was man seinem Kind wünscht. Wir sind in einer Nacht und Nebelaktion hingefahren. Wollten ihn nach Hause holen. Aber er hatte offenbar Halluzinationen und fühlte sich bedroht. Helfen lassen wollte er sich nicht. Wir waren machtlos. Ich hab dann mit der Sozialarbeiterin im Obdachlosenheim gesprochen. Er hat wohl eine schizophrene Psychose, meinte die. Ausgelöst durch den Drogenmissbrauch."

Ihr Sohn widersetzte sich vehement jedem Hilfsangebot. Eine Zwangseinweisung lehnte die Psychiatrie ab. Angeblich stellt er in seinem Zustand keine Gefahr dar. Weder für sich, noch für andere. Ohnmächtig muss Anja Stein mit ansehen, wie ihr Junge durch halb Deutschland vagabundierte.

"Ich weiß mittlerweile nicht mehr, was mit ihm los ist. Sind es die Drogen oder ist es die Psychose. Der Junge ist einfach nur durchgeknallt. Er hat einfach keine Krankheitseinsicht, nimmt weiter Drogen. Er ist ein ganz armes Schwein, zu krank, um sich selbst zu helfen, zu krank, um einzusehen, dass er krank ist."

Die Mutter ist am Ende. Die Angst um ihr Kind, wird übermächtig. Nachts das stundenlange Grübeln, tagsüber die Panik bei jedem Anruf. Wieder eine neue Hiobsbotschaft?

"Heute bin ich dann zur Arbeit gegangen. Ich habe wirklich gedacht, es lenkt mich vielleicht ein bisschen ab. Da bekam ich dann einen Weinkrampf. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Man fuhr mich zum Arzt. Im Wartezimmer: Weinkrämpfe. Beim Arzt: Weinkrämpfe. Jetzt bin ich erst mal krankgeschrieben. Ich glaube, jetzt muss ich nach mir und dem Rest der Familie gucken. Wir müssen alle zur Ruhe kommen. Endlich wieder versuchen zu leben."

Ihr Kind wohnt jetzt nicht mehr zu Hause, sondern irgendwo. Die Schule abgebrochen. Der Kontakt zu den Eltern: nur sporadisch. So gerne würde Anja ihrem Jungen helfen, aber sie weiß nicht wie. Und auch ihr hilft niemand.

"Die Arbeit fällt mir heute besonders schwer. Ich arbeite im Einzelhandel. Da wird von mir intensive und freundliche Beratung verlangt. Aber es gibt Tage, da habe ich richtig Panik, meinen Job nicht mehr zu schaffen. Ich habe einfach nur noch Angst um mein Kind."

So gerne hätte sie mit jemanden über all das geredet. Ihr Herz ausgeschüttet. Doch da war niemand. Nur der Chat mit anderen Betroffenen.

"Viele Menschen, selbst in der eigenen Verwandtschaft, verstehen seine Krankheit nicht. Sie können damit nicht umgehen. Man sieht ihm ja körperlich nichts an. Es gab da so einige blöde Bemerkungen, die mir sehr wehgetan haben. Aber vielleicht hätte ich ja früher selbst so reagiert."

Dann endlich gelingt die Einweisung in die Psychiatrie. Wahrscheinlich zu spät.

"Wie oft habe ich mir gewünscht, dieses Internet-Tagebuch irgendwann einmal beenden zu können, vielleicht sogar mit etwas Positivem. Eben auch, um anderen Eltern, die das hier lesen, Mut zu machen. Mut, den man braucht, um nicht aufzugeben. Stattdessen sehe ich, wie mein Sohn immer mehr von seiner Persönlichkeit verliert. Er ist nicht mehr der Junge, der er mal war… Und ich,… ich bin einfach zu müde. Es ist halt leicht gesagt: Ich soll mich von meinem Kind trennen. Ich kann es nicht. Er ist ja mein eigen Fleisch und Blut. Für mich steht fest: Ich gebe mein Kind nicht einfach so auf!"

Cannabis verdoppelt das Psychose-Risiko bei Jugendlichen

Leider gibt es für Anja Stein und ihren Sohn kein Happy End. Ihr mittlerweile erwachsenes Kind bleibt dauerhaft in der Psychiatrie: der bittere Preis für seine frühe Bekanntschaft mit der Welt der Drogen.
Ein Preis, den immer mehr Jugendliche bezahlen müssen. Denn Cannabis beeinträchtigt nicht nur die Pubertät, sondern verdoppelt bei Jugendlichen das Risiko, an einer Psychose zu erkranken. Zudem konsumieren immer mehr Jugendliche synthetische Cannabisabkömmlinge. Deren Gefahrenpotenzial ist noch weitgehend unbekannt.
"Es hat mir geholfen, dass ich trotz allem noch sehr, sehr viele Menschen erreicht habe. Sehr, sehr viele Betroffene, Eltern, Großeltern, Schwestern, Brüder. Ich hatte anfangs einen Besucherzähler. Es waren wirklich – ich kann Ihnen sagen – bis jetzt, wenn ich grob schätze, na bestimmt 500.000 drauf."
Wenn über eine halbe Million Menschen einen solchen privaten Blog mitlesen, dann zeigt das: Brigitte, Sigrid und Anja und ihre Kinder sind keine Einzelfälle. Und: Viele Eltern wissen sich nicht zu helfen, sie werden allein gelassen – auch von einer Gesellschaft, die immer noch glaubt: Cannabis sei doch nicht so schädlich! Kids müssten sich eben ausprobieren dürfen – und echte Drogenprobleme bei Kindern gebe es nur in zerrütteten Familien.
Stimmt eben nicht immer. Vielleicht steckt hinter diesen Argument auch immer ein Stück Verdrängung? Aber stände es einer Gesellschaft, in der so heftig und emotional für die Legalisierung von Cannabis gestritten wird, nicht ganz gut an, sich um die Probleme zu kümmern, die man damit in die Welt setzt? Die betroffenen Eltern warten schließlich auf angemessene Hilfe. Und die käme auch ihren abhängigen Kindern zu Gute.
Erstsendedatum: 30.08.2018
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