Aggressionen gegen Flüchtlingshelfer

"Damit die richtig schön Angst kriegen"

Ehrenamtliche, die Geflüchteten helfen, werden immer häufiger bedroht.
Ehrenamtliche, die Geflüchteten helfen, werden immer häufiger bedroht. © picture-alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Thilo Schmidt · 24.05.2016
Drohbriefe, eingeschlagene Fensterscheiben, Beleidigungen und Verleumdungen in sozialen Netzwerken, sogar Brandanschläge auf Autos - das alles müssen Ehrenamtliche ertragen, die Flüchtlingen helfen. Und die oft sogar jene Aufgaben erledigen, die eigentlich Sache des Staates wären.
Cervigne:
"Es gab konkrete Drohungen, Andeutungen, Hinweise in Facebook, wo man mir auch deutlich gesagt hat: Das stört uns, und das ärgert uns, und man müsste dir mal die Fresse polieren … was man ja dann auch gemacht hat."
Ein warmer Frühlingstag ist es, hier, am westlichen Ende der Republik. In der evangelischen Kirche in Aldenhoven bei Aachen hat Pfarrer Charlie Cervigne den Konfirmationsgottesdienst eröffnet.
"Heute ist natürlich die große Konfirmation angesagt. Ich hab jetzt schon mal eine Bitte: Ich weiß, viele von Euch sind ganz konservativ, weil sie fast nie in die Kirche gehen. Aber wenn mir während des Gottesdienstes zu heiß wird und ich klatschnass bin, zieh ich diesen Talar aus. Weil das bringt nichts, das macht mir keinen Spaß und Euch auch nicht."
Seitdem die Steinkohlezechen im Aachener Bergbaurevier geschlossen wurden, hat die Region mit großen sozialen Problemen zu kämpfen. Und gerade in Aldenhoven, sagt Pfarrer Cervigne, gibt es besonders viele, die von Hartz IV und Sozialhilfe leben – für seine Jugendkriminalität sei Aldenhoven berüchtigt.

Ein neuer Weg für die Gemeinde

Der Pfarrer und seine Gemeinde haben sich darum vor 20 Jahren für einen neuen Weg entschieden: eine Gemeinde mit den Armen zu sein. Er betont: "mit". Nicht "für" die Armen.
"Dass wir Strukturen haben, die ihnen keine Angst, macht, wo sie sich wohl fühlen und wo sie sich sagen: Wir haben ne Institution, wo wir hingehen können mit unseren Fragen, mit unseren Sorgen, wo wir aber auch Dinge abstellen können. Und dazu gehört die Flüchtlingsarbeit, dazu gehört aber auch die Tafelarbeit, dazu gehört: kostenlose Rechtsanwälte für Sozialhilfeempfänger. Also wir haben von Anfang an alles da gehabt, die Flüchtlinge mussten nur andocken – und das ist eigentlich so die Integration, wie es uns vorschwebt."
Pfarrer Charlie Cervigne in Aldenhoven bei Aachen. Der Geistliche setzt sich seit vielen Jahren für Arme und Flüchtlinge ein.
Pfarrer Cervigne lässt sich nicht einschüchtern.© Thilo Schmidt
In den Gottesdienst sind einige Flüchtlinge – Pfarrer Cervigne nennt sie "Neubürger" – gekommen. Draußen im Schaukasten werden Flüchtlingsberatung, Migrantenfußball und Veranstaltungen des lokalen "Bündnisses gegen Rechts" angekündigt.
"Ja und wir haben abends um 19 Uhr auch ein trauriges Ereignis: Wir verabschieden eine albanische Familie, die nicht im Land hier bleiben darf. Das sind so die bitteren Stunden von unserer Flüchtlingsarbeit, dass wir am Ende von unseren Rechtsmöglichkeiten sind. Und wir wollen diese Familie so freundlich wie wir sie empfangen haben, so freundlich auch wieder verabschieden. Und wir machen ein kleines Abschiedsfest am Dienstagabend um sieben Uhr im Gemeindesaal."
Für Charlie Cervigne und die Gemeinde ist es selbstverständlich, dass sie in besonderen Härtefällen auch Kirchenasyl anbieten.
"Also Kirchenasyl wird hier von den Leuten sehr getragen. Es geht so weit, dass wir für die Flüchtlinge, die hier im Kirchenasyl leben, die ja auch offiziell das Gelände nicht verlassen dürfen, dass wir hier auf dem Gelände auch Beschäftigungsmöglichkeiten für sie haben, dass sogar Ärzte sich bereiterklärt haben, nach der Gesundheit zu gucken im Fall von Krankheiten, also die Solidarität die ist überwältigend.
Weil, da kommt natürlich auch wieder das rein, dass die Leute hier im Ort, die deutschen Leute, auch der Gemeinde vertrauen, und sagen: Wenn ihr die Leute in Euer Asyl aufnehmt, dann hat das Gründe. Ihr macht das nicht einfach so, sondern ihr habt das gut durchdacht."
Die Behörden vor Ort wissen davon, Pfarrer Cervigne ist im stetigen Kontakt mit allen zuständigen Stellen. Die kontrollieren die Aufenthalte der Menschen im Kirchenasyl nicht aktiv.
"So, Leute, ihr seid so heiß … ich zieh mir jetzt den Talar aus, aber nachher bei der Einsegnung zieh ich ihn wieder an."

Manche Leute stören sich am Engagement

Es gibt jedoch Menschen, die sich am Engagement der Gemeinde stören. Pfarrer Cervigne vermutet sie jedoch nicht in Aldenhoven, sondern in der Umgebung.
"Steine wurden geworfen, auch in die Kirche hinein, mit eindeutigen Papiermantel. Wir kennen also dieses Szenario. Aber nochmal: Es ist nicht hier aus dem Ort, und die Gemeinde und die Menschen hier sind solidarisch, und deswegen können wir als Gemeinde das auch gut tragen."
Der Konfirmationsgottesdienst geht zu Ende. Ein Gottesdienst, bei dem gelacht und geweint wurde.
Wir stehen vor dem Pfarrhaus. Dort saß Charlie Cervigne am späten Abend des 13. Februar an seinem Schreibtisch, als es klingelte.
"Hab noch ein paar Sachen vorbereitet, weil, am nächsten Tag war ja Valentinstag, da wollte ich ja was Schönes für die Leute machen. Und dass es dann auch mal abends um zehn nach elf klingelt, ist nichts Außergewöhnliches, es kann auch mal sein, dass jemand keinen Schlafplatz mehr hat oder sonst was. Also bin ich dann zur Tür, hab mir dann gedacht: Ach, das könnte auch dein ältester Sohn sein, der hat wahrscheinlich wieder den Schlüssel vergessen.
Und deswegen hab ich gar keine Außenlampe angemacht, sondern hab die Tür, diese schwere Tür, aufgemacht, ich hab die Tür also nur halb aufgehabt. Und dann sauste schon so ein stockähnlicher Gegenstand auf den Kopf. Allerdings nicht voll auf den Schädel, sondern weil ich noch etwas zurückstand hat er so mein Auge und übers Nasenbein gehauen. Und gleichzeitig dann direkt Pfefferspray und dann war natürlich bei mir aus.
Und weil ich noch halb in der Tür gestanden habe, habe ich mich einfach fallen lassen, erst mal aus Schreck auch. Habe aber geistesgegenwärtig mit den Füßen die Tür zutreten können, sodass da also keine Folgehandlungen mehr kommen konnten.
Und hab mich dann halt ins Haus reingeschleppt und hab dann .. ja meine Lieben mal gerufen, dass was los ist, und die kamen dann runter und haben dann den Rettungswagen gerufen und die Polizei, und so weiter und so fort."

Cervigne lässt sich nicht einschüchtern

Die Ärzte haben anfangs Angst um Cervignes Auge, das bei dem Angriff getroffen wurde.
"Nachträglich hat sich Gottseidank, ich klopf mal auf Metall, in diesem Fall, rausgestellt, dass die Verletzungen wehgetan haben, aber keine Schäden verursacht haben. Und ich hab ja dann schon am nächsten Morgen, als ich um halb vier aus dem Krankenhaus rauskam, um Viertel nach zehn meinen Gottesdienst machen können."
Die seelischen Folgen halten sich in Grenzen, sagt der 56-Jährige, der, so sagt er, schon einiges erlebt hat. War als Student in Gorleben und bei der Startbahn West und ist als Student von einem Nazi-Trupp verprügelt worden. Er kann damit umgehen. Und: Ihn trägt eine Welle der Solidarität.
"Wir haben an dem Punkt, das möchte ich auch sagen, erst mal 'ne ganz große Unterstützung von der Polizei bekommen. Die sind also hier Streife gefahren, die ganze Nacht, über mehrere Wochen. Und es hat einen privaten Sicherheitsdienst gegeben, der sich hier postiert hat, kostenlos, über mehrere Wochen hinweg."
"Und es hat mal so 'ne Bürgerinitiative gegeben, die hieß 'Spaziergang für Charlie', nennen die das. Und die sind dann das ganze Wochenende hier an der Straße entlanggelaufen, und haben die Straße beobachtet, dass da nichts Böses hier passiert. Und das trägt ja auch einen. Ne?"
Ein andernorts schwer vorstellbares Bündnis. Cervigne erzählt noch, dass er versucht, die Flüchtlinge möglichst schnell in Lohn und Brot zu bringen und fast alle Aldenhovener mitmachen, dass auf einmal die Spielplätze und Straßen wieder voll sind, und dass sich das mit dem Sozialneid auf die Flüchtlinge spätestens dann erledigt, wenn ein Bautrupp Aldenhovener Flüchtlinge bei einer alleinerziehenden Hartz-IV-Bezieherin die Wohnung renoviert.
Umso größer war auch bei den Flüchtlingen der Schock, als sie von dem Überfall hörten:
"Die Flüchtlinge haben so viel Liebe gezeigt, das ist Wahnsinn. Schon fast zärtlich. Heute noch. Also wenn ich drüben hingehe, und die sind alle dann da … die nehmen einen in den Arm, die fragen heute noch ganz tief: Wie geht es dir, geht’s dir wirklich gut? Gut dass du da bist, toll, dass deine Leute da sind.
Und das größte Kompliment, das uns ein Flüchtling sagen kann, ist, bei allen Schwierigkeiten, die Flüchtlinge haben, über Zukunftsaussichten oder nicht, und so weiter: Wir fühlen uns hier in Aldenhoven wohl. Das ist das schönste, was man hören kann."
Autor:
"Haben Sie einen Moment lang drüber nachgedacht, aufzuhören?"
"Nein. Nie. Ich denk, das wird aus dem Duktus meiner Worte klar, ne? Das ist mein Leben. Da könnte sogar noch viel mehr passieren, und ich würde nicht aufhören."
Die Täter sind bis heute nicht gefasst.
"Es wird auch nichts rauskommen. Das war immer so meine Prognose. Weil ich ja auch nichts gesehen habe. Es war dunkel. Es waren Menschen von außerhalb, die mir einfach einen Denkzettel verpassen wollten. Ganz einfach. Das passiert in Deutschland hundertfach. Ja? Und in den östlichen Gebieten passiert es dauernd. Und da werden die Leute nicht so bemitleidet, wie ich bemitleidet wurde. Die stehen also viel einsamer da."

Distanziertheit in Neuhardenberg

Neuhardenberg in Brandenburg, am anderen, am östlichen Ende der Republik. Eine kleine Gemeinde, zweieinhalbtausend Einwohner. Zwischen dem bekannten Barockschloss und dem Landschaftsgarten derer von Hardenberg und der Flüchtlingsunterkunft im Plattenbauviertel sitzt Martin Bloch, der in Wirklichkeit anders heißt, in seinem Garten.
Der pensionierte Lehrer und seine Frau sind 2012 aus Süddeutschland nach Neuhardenberg gezogen. Als 2013 die ersten Flüchtlinge kamen, war für die Blochs klar, dass sie sich im Willkommenskreis engagieren. Doch sie sind damit wesentlich einsamer als Charlie Cervigne in Aldenhoven.

"Ich versuche es immer auf den Nenner zu bringen, dass ich sage: Neuhardenberg hat einen gut organisierten Willkommensverein, aber das heißt nicht, dass Neuhardenberg ne Willkommenskultur hat. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Ich denke, die Arbeit vom Willkommenskreis wird von der Mehrzahl der Bevölkerung hier mit einer gewissen distanzierten Akzeptanz betrachtet."
Eigentlich wollte der Willkommenskreis Patenschaften zwischen deutschen Familien und den Flüchtlingen vermitteln, die den Neuankömmlingen im Alltag und auf den Ämtern hilft. Aber außer denen, die sich sowieso im Willkommenskreis engagieren, meldete sich niemand, sagt Bloch.
Dieser VW-Bus wurde im September 2015 von Unbekannten im Vorgarten eines ehrenamtlichen Helfers in Neuhardenberg in Brand gesteckt.
Der VW-Bus eines Helfers in Neuhardenberg wurde in Brand gesteckt.© Thilo Schmidt
Auch sein Mitstreiter Johannes Lachmann drückt sich – gefragt, ob es ein gutes Miteinander gibt – vorsichtig aus.
"Gerade so nach Gesprächen mit vielen Flüchtlingen kristallisiert sich natürlich raus – also es gibt natürlich zwischen den Flüchtlingen in Berlin und hier in Brandenburg viele Kontakte, viele sind oft in Berlin. Und sie klagen halt an, oder sie mahnen an, dass das in Berlin viel natürlicher ist, dass die deutsche Bevölkerung mit den Flüchtlingen spricht. Und hier auf dem Land wollen die Leute mit den Deutschen reden, aber es gibt keinen Kontakt. Das einzige was passiert ist, sagen sie, ist, dass wir komisch angeguckt werden."

Es gibt Beispiele für gute Integration

Aber es gibt auch aus Neuhardenberg gute Beispiele dafür, dass Integration immer dann funktioniert, wenn Menschen miteinander reden, arbeiten, lernen.
Bloch:
"Wir haben vom Willkommenskreis aus einen eritreischen Flüchtling, den Emmanuel, untergebracht im sozialen Möbelhof. Und das war äußerst schwierig, also da hat es vieler Anstrengungen bedurft, dass das endlich geklappt hat. Der war etwa 'ne Woche oder zwei Wochen war der im Möbelhof tätig, hat Schränke auseinandergebaut, hat beim Transport geholfen.
Und nach zwei Wochen hat man im Möbelhof von 'unserem Emmanuel' gesprochen. Das war für mich ein sehr eindrucksvolles Erlebnis! Der konnte natürlich auch was, der hat in Eritrea bei Bulthaupt gearbeitet. Und immer wenn es schwierig wurde, hat man den Emmanuel geholt. Und das war für mich ein sehr eindrückliches Erlebnis."
Jedoch: Es gibt in Neuhardenberg viele, die kein Interesse an den Flüchtlingen haben. Und es gibt ein paar, die die Flüchtlinge befehden. Beim Herrentags-Fußballturnier im letzten Jahr luden die örtlichen Sportvereine eine Flüchtlingsmannschaft ein, mitzuspielen.
"Während des Turniers kam es dann von einer Zuschauergruppe, die erkennbar war als rechte Gruppierung, kam es dann also zu Skandierungen mit problematischem Inhalt, nach meinem Dafürhalten. Es gab auf dem Platz dann in der Weise Auseinandersetzungen, dass ein Flüchtling beschimpft wurde mit 'du dreckiger Zigeuner'.
Das ganze eskalierte dann an der Stelle, wo ich mitgekriegt hab, dass das Horst-Wessel-Lied angestimmt wurde. Die Melodie kenn' ich, über den Inhalt, welcher Text das war, konnt ich nichts sagen. Und ich hab dann die Polizei angerufen und habe gesagt, hier ist ein Fußballturnier, und ich habe den Eindruck, dass hier etwas eskalieren könnte, bisher ist es nicht eskaliert, aber ich möchte halt sagen, dass es gut wäre, wenn eine gewisse Polizeipräsenz da wäre."
Die Polizei kam und nahm die Personalien der rechten Störer auf. Das war der Auslöser, dass der Willkommenskreis von der rechten Szene Neuhardenbergs in den Blick genommen wurde, sagt Martin Bloch.

Nachts brennt der VW-Bus

In der Nacht vom 18. auf den 19. September 2015 werden Martin Bloch und seine Frau nachts wach. Sie eilen vor die Tür ihres liebevoll restaurierten Häuschens. In der Einfahrt stehen zwei VW-Busse, die die Blochs auch für die Flüchtlingsarbeit benutzen. Einer brennt bereits lichterloh.
"Ja, wir haben zwei Busse auf dem Hof stehen gehabt, der eine Bus war ein Campingbus, den haben wir ein halbes Jahr vorher gekauft. Das war ein Schaden von etwa 15.000, 16.000. Das war ein Totalschaden.
Der zweite Bus, da ist die Heckklappe verbrannt. Also so Summa Summarum 20.000. Und dann natürlich: Der Boden zum Beispiel ist verbrannt gewesen. Meine Frau hat neulich umgegraben, da riechts immer noch nach verbranntem Plastik. Und solche Sachen."
Zwei Gasflaschen im Campingbus explodieren zum Glück nicht. Wären sie explodiert, sagt Martin Bloch, hätte die Giebelwand seines Hauses einstürzen können.
Nicht nur bei den Blochs brennt es in dieser Nacht. Auch das Auto einer anderen Freiwilligen des Willkommenskreises geht in Flammen auf.
"Es gibt ja ein ideellen Schaden und einen materiellen Schaden. Und der ideelle Schaden ... und der ideelle Schaden ist schon der, dass uns das doch ziemlich ... psychisch, sag ich mal, für 'ne gewisse Zeit in einen Schockzustand versetzt hat. Weil wir mit allem gerechnet hätten, aber nicht mit dem.
Aus Süddeutschland haben dann viele Freunde angerufen, waren auch gute Gespräche, und dann kam immer: 'Macht auf jeden Fall weiter'. Mittlerweile ist es so, dass wir sagen: Ja, wir haben das gehabt, das ist bei uns passiert, und das gehört bei uns dazu."
Bloch glaubt nicht, dass die rechte Gruppierung aus dem Ort hinter den Anschlägen steckt. Und dennoch: Der Hintergrund der Anschläge ist schnell erkennbar. Johannes Lachmann:
"Am gleichen Tag wurden – auch in Neuhardenberg – Aufkleber verteilt mit der Aufschrift 'Refugees not Welcome', und am gleichen Tag war auch in Neuhardenberg, aber auch in Neutrebbin – in dem Ort, in dem ich wohne – waren Hochglanzflyer im Briefkasten, wo offensichtlich Hetze gegen Flüchtlinge gemacht wurde, auf sehr primitive Art und Weise."
Martin Bloch und seine Frau haben trotz der Brandanschläge keinen Moment darüber nachgedacht, sich zurückzuziehen. Für Johannes Lachmann waren sie der Grund, sich aktiv zu engagieren.
"Mich haben sie wachgerüttelt. Davor hatte ich meine Meinung und habe sie auch kundgetan, im Freundeskreis, im Familienkreis, und aufgrund dieser Anschläge habe ich gesagt: Jetzt muss ich diese Schwelle auch noch – oder was heißt: muss ich – möchte ich diese Schwelle auch noch überwinden und bin seitdem auch aktiv. Und versuche, das zu ändern."
Die meisten Neuhardenberger hätten die Anschläge zwar bedauert, aber dennoch eine Distanz spüren lassen: Man wolle damit eigentlich nichts zu tun haben, sagt Martin Bloch.
"Also 'ne Solidarisierung war da innerhalb der Sympathisanten und im Willkommenskreis. Klar. Der stellvertretende Bürgermeister war da, ja. Aber so ne spürbare Solidarität, so dass man dann auch das Gefühl kriegt, da sagt ein ganzes Dorf willentlich und bewusst: "Nein", dagegen, die Vertreter ja. Aber das Dorf selber, das war für mich nicht spürbar."
Die Neuhardenberger wissen längst: Wo Kontakte sind zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, da geht die Angst und es kommt die Akzeptanz. Johannes Lachmann will in seinem Gartenbaubetrieb einige Neuhardenberger Flüchtlinge beschäftigen. Demnächst soll es ein Treffen zwischen den deutschen Beschäftigten und den Flüchtlingen geben.
"Man hat so die landläufige Meinung, oder man kriegt das so mit, dass dem sehr viel Skepsis gegenübersteht, und wir haben damit gerechnet, auch sehr viel Skepsis entgegengebracht zu bekommen. Und wider Erwarten war das gar nicht so.
Es gab natürlich Ängste, es haben sich aber Gespräche entwickelt. Und ich denke, dass die Skepsis da ist, aber das auch so ne gewisse Anspannung, aber auch so ne gewisse Erwartungshaltung einfach ist. Also ich bin da eigentlich voller Hoffnung."

"Adoptiveltern" für einen jungen Syrer

Eine Bildungsstätte in Werneuchen, östlich von Berlin. Ein Workshop der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, der sich an Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe wendet. Und die deswegen bedroht werden. Menschen, die in Ihrer Freizeit anderen helfen und nun selbst Hilfe brauchen. Projektkoordinatorin Katharina Kaesche:
"Also wir haben im letzten Frühsommer vermehrt Anfragen bekommen, wie mit Bedrohungen umzugehen ist, welche Hilfsangebote es gibt, welche Möglichkeiten, sich zu vernetzen, und das war sozusagen der Aufhänger, oder der Anknüpfungspunkt."
Einer der Referenten ist Martin Bloch aus Neuhardenberg.Er berichtet über die Anschläge im Ort. Wird gefragt, ob er ans Aufhören dachte, wie die Flüchtlinge auf die Anschläge reagiert haben oder wie die Lokalpolitik reagiert hat.
Später wird ein Rechtsanwalt erörtern, wie man mit dem Strafrecht auf Angriffe – auch in sozialen Medien – reagiert, der Verein "Opferperspektive" erörtert Hilfsangebote für Betroffene – die aus unterschiedlichen Gründen hierhergekommen sind.
Katharina Kaesche:
"Das sind zwei Sachen. Das eine ist, dass es sehr konkrete Angriffssituationen gab, die über Sachbeschädigung, über Körperverletzung, über Bedrohung gingen, aber wir haben auch festgestellt, dass es einen großen Bedarf gab, sich im Vorfeld zu informieren, was könnte mir helfen, wenn mir etwas passiert. Oder was kann ich machen, wenn ich in den Fokus, zum Beispiel in den sozialen Medien, in den Fokus von Bedrohungen gerate. Und die beiden Richtungen sind da sehr präsent."
Ein Einfamilienhaus im Osten Berlins. Anke M. zeigt einen Brief von Anas Modamani. Sie hat den 18-jährigen Syrer quasi – er ist ja volljährig – adoptiert.
"Hier liegt noch vom Muttertag … ich kriege auch zum Muttertag Geschenke von ihm, und hier krieg ich dann eben einen Brief, wo dann "Ihr Sohn Anas, allen Müttern einen liebevollen Muttertag". Das ist sehr schön gebastelt, und da hab ich mich sehr drüber gefreut."
Über Bekannte bekam Anas Kontakt zu Anke M. Sie und ihre Familie hatten sich entschlossen, einen Flüchtling bei sich aufzunehmen. Anas selbst wünschte sich einen familiären Zusammenhalt mit Deutschen. Seit Januar lebt er nun bei Anke M. und ihrer Familie. Davor lebte er in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Eine Unterkunft, die Angela Merkel besucht hatte.
"Alle merkten schon, irgendwas passiert heute, und keiner wusste aber was, und dann kam: Angela Merkel kommt. Und dann haben sie … hat er nicht alleine, haben ganz, ganz viele ihre Angie-Selfies gemacht, und dieses Bild … er ist ja ein ganz gut aussehender Mann und auch Merkel sieht auf dem Bild ganz nett aus, sie lächelt, und wirkt recht menschlich, und das hat ein britischer Journalist fotografiert."

Missbrauch eines Selfies

Das Selfie von Anas und Angela Merkel geht um die Welt. Für Anas selbst war es der Start, loszulegen in Deutschland, ein Talisman. Kurz nach den Anschlägen von Brüssel im März taucht eine Fotomontage im Netz auf. Neben einem Überwachungsfoto eines Attentäters ist Anas‘ Selfie mit Merkel platziert. Dazu der Text: Merkel machte Selfie mit Brüssel-Attentäter.
"Und das ist verbreitet worden im Lauffeuer. Und am Anfang hab ich noch gedacht: Ist ein Scherz. Das ist gar nicht ernst gemeint. Und dann gingen die Klicks hoch. Und bis zum nächsten Morgen wurde das 50.000 mal geteilt. Und dann war klar, wir müssen was machen, wir müssen einschreiten. Weil ansonsten sind wir aktuell und ganz aktiv bedroht."
Das Foto erreicht auch Anas' Mutter in Syrien. Die traut sich nicht, ihn anzurufen, weil sie glaubt, er sei vielleicht schon verhaftet, sagt Anke. Und sie braucht eine Weile, um ihr zu erklären, dass es sich um ein dreistes Fake handelt.
"Was passiert, wenn er erkannt wird, wenn wir erkannt werden, wir hatten ja auch vorher ne Reportage mit der Deutschen Welle zusammen gemacht. Da bin ich mit Klarnamen zu sehen. Wir waren zu der Zeit, als das passiert ist, die ganze Familie nicht in Berlin. Das war das einzig wirklich Positive. Wir waren an der Nordsee, Freunde besuchen, und Anas war in Sachsen-Anhalt, seinen besten Freund besuchen.
Und ich hab mir eigentlich über drei Tage nur Gedanken gemacht, was ist, wenn der irgendwo in Bitterfeld irgendwem über den Weg läuft, und die haben das gesehen und die stechen den einfach ab? Oder machen den platt?"
Dabei, sagt Anke, ist Anas nur der Kollateralschaden, und sie selbst der Kollateralschaden des Kollateralschadens. Denn die Urheber des Fakes wollten Merkel treffen.
"Ich hab schon enorme Angst gehabt, als wir zurückgefahren sind, ob unser Haus noch heile ist. Dann hing ein Ballon an der Haustür – und da hat die Nachbarin einfach nur ein Geschenk zu Ostern für meine Tochter hingemacht. Und mein erster Gedanke ist: Oh Gott, was ist da drin, was ist das? Also da ist man auf einmal komisch. Und wird auch komisch."
Zuhause versucht Anke M., den Ursprung des Postings zu finden. Sie landet in Bulgarien, vermutet die Urheber aber in Russland.
"Und im Netz kam dann, als ich dann angefangen hab, Gegenrede zu schreiben, das ist der nicht, der hat damit überhaupt nichts zu tun, dann kam eben: Terroristenfotze, und wenn er sich halt nicht in Brüssel hochgebombt hat, bombt er dich hoch, ich hoffe, er vergewaltigt dich und dein Kind, und so weiter und so fort. Das ging alles so in die Schiene."

Die Bedrohung wächst

Anke hat sich längst damit abgefunden, dass ihr Engagement nicht allen passt. Aber: Die Bedrohungen werden massiver, bis ins Unerträgliche.
"Man regt sich ja schon gar nicht mehr auf, wenn man irgendwie beschimpft wird … das ist irgendwie schon so: Ja, komm, mach mal. Ich hab mal schon … da hat einer, wie hat er mich genannt? "Linksgrün-versiffter Gutmensch-Antifant". Das fand ich dann schon fast niedlich, und hab gesagt: Super, das adoptier ich, das bin ich dann eben. Aber dieses: Wir hauen die Fresse blau, die sollen die KZs wieder aufmachen, also die Verrohung der Sprache, die hat schon im letzten Jahr wahnsinnig zugenommen …"
Anke hilft Flüchtlingen schon viel länger, als sie Anas kennt. Schuftet in Kleiderkammern oder an der Essensausgabe. Ehrenamtlich. Neben ihrer Vollzeittätigkeit. Oft bis tief in die Nacht. Neun Millionen Deutsche, so wird geschätzt, tun es ihr gleich. Gleichzeitig werden ehrenamtlichen Helfern zunehmend Autoreifen zerstochen, Fenster eingeschlagen. Sie erhalten Morddrohungen. Versammlungsräume werden zerstört, Hetzkampagnen im Internet gestartet.
"Das erinnert mich auch tatsächlich ein bisschen an '33, dass halt erst die Sprache sich verändert. Und wenn die Sprache sich verändert, verändert sich die Moral. Und wenn die Moral sich verändert, ist der Weg zur Eisenstange, der Weg zum Molotowcocktail nur noch ein relativ kleiner moralischer. Weil der Gedankengang sich vorher abgespielt hat.
Es ist eben in dem Fall in der virtuellen Welt geblieben. Aber es hätte real werden können. Und das ist das, was gefährlich ist. Und es macht übrigens gar keinen Unterschied, ob man real bedroht wird oder virtuell bedroht wird. Die Angst ist nämlich exakt dieselbe. Und Angst hatte ich."
Selbst in Berlin, wo Flüchtlinge und Einheimische vielerorts gemeinschaftlich und friedlich zusammenleben, bittet sie Anas, manche Bezirke nicht alleine aufzusuchen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Bedrohung, die sie und auch Anas bisher nur virtuell erlebt haben, real wird.
"Es gab 'ne Facebook-Gruppe, jetzt zu Silvester: "Wir treffen uns zum Knallen vor dem Asylantenheim, damit die richtig schön Angst kriegen. Das ist eben raus aus der virtuellen Welt, hin zu: Wir zünden Knaller. Wie weit ist der Weg dann zu: Ich baller' die Knaller dann auch mal ins Haus rein, und es entsteht ein Feuer, oder ich mach einen Molotowcoktail draus? Ich glaub, dass der Weg dahin sehr klein ist."
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