Afrikanische Unabhängigkeit

Die langen Schatten der Kolonialherrschaft

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Undatierte Aufnahme des ghanaischen Politikers Kwame Nkrumah
Kwame Nkrumah ist der erste frei gewählte Präsident Ghanas, das 1957 als Vorreiter für die Unabhängigkeitsbestrebungen Afrikas gilt. © picture-alliance / dpa / Uta Ludecke
Von Oliver Ramme · 13.01.2021
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Afrika war der letzte Kontinent, der im 19. Jahrhundert kolonisiert wurde. Da hatten die europäischen Mächte ihre Ausbeutungsmechanismen schon perfektioniert. Bis zur Unabhängigkeit war es ein weiter Weg. Abgeschlossen ist sie bis heute nicht.
Heute die Unabhängigkeit Afrikas und morgen die Vereinigten Staaten von Afrika: das sind die Visionen von Kwame Nkrumah beim Sprung seines Landes in die Unabhängigkeit.
Nkrumah ist der erste frei gewählte Präsident Ghanas. Sein Land ist der erste Staat südlich der Sahara, der sich aus der Kolonialherrschaft löst. Ghana gilt 1957 als Vorreiter für die Unabhängigkeitsbestrebungen Afrikas. Ein paar Jahre später, 1960, werden 17 Staaten Afrikas in die Unabhängigkeit entlassen. Ein Grund zum Feiern?
"Die meisten Kolonien, die 1960 unabhängig wurden, sind französische Kolonien, und die Franzosen haben dann vorgezogen, das in einem geordneten Prozess schnell über die Bühne zu bringen. Die Länder sind dann - abhängig vom Besuchsprogramm des französischen Außenministers - unabhängig geworden: also im 4-Tages-Rhythmus", sagt Thomas Bierschenk, Professor für Kulturen und Gesellschaften Afrikas an der Universität Mainz.

Heuchelei der Kolonialmächte

Einige Jahrzehnte zuvor haben die europäischen Großmächte noch begierig den Kontinent unter sich aufgeteilt. England, Frankreich, Portugal, Belgien und Deutschland wollen 1885 bei der Berliner Kongokonferenz ein möglichst großes Stück von Afrika abbekommen.
Als reine Heuchelei erscheinen die Worte im Schlussdokument, der sogenannten "Kongo-Akte". In erster Linie wollen sich die Kolonialmächte um das Wohl des Afrikaners bemühen:
"Sie werden ohne Unterschied der Nationalität oder des Kultus alle religiösen, wissenschaftlichen und wohlthätigen Einrichtungen und Unternehmungen schützen und begünstigen, welche zu jenem Zweck geschaffen und organisiert sind oder dahin zielen, die Eingeborenen zu unterrichten und ihnen die Vortheile der Civilisation verständlich und werth zu machen."
Die Kongokonferenz ist nur ein Meilenstein in der Jahrhunderte währenden europäischen Ausbreitung in Afrika.
"Afrika war der letzte Kontinent, der kolonisiert wurde, Ende des 19. Jahrhunderts. Da hatten die Kolonialherren in gewisser Hinsicht ihr Instrumentarium der Ausbeutung schon verfeinert und entwickelt. Es gibt Historiker, die sagen dass es auf keinem Kontinent so brutal und entwicklungsfeindlich zuging wie in Afrika", sagt Thomas Bierschenk.

Ausbeutung kostet Kraft und Geld

Die perfektionierte Ausbeutung kostet Geld und Kraft. Und beides schwindet den europäischen Kolonialmächten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist die Zeit der Weltkriege.
Den Afrikanern wird immer klarer, dass die Europäer zwar über mächtiges Kriegsgerät verfügen, aber nicht unbesiegbar sind und vor allem keinen homogenen Block darstellen – sie bekriegen sich gegenseitig. Die Peiniger entlarven Schritt für Schritt ihre Schwächen, das Selbstbewusstsein der Afrikaner hingegen steigt.
Viele in Frankreich und England glauben nach Ende des 2. Weltkriegs noch an eine dauerhafte Zukunft des Kolonialismus. Vielleicht noch 30, 50 oder gar 100 Jahre. Das Ende kommt schneller als gedacht.
Die Vereinigten Staaten, die im Unterschied zu England und Frankreich gestärkt aus dem 2. Weltkrieg hervorgehen, diktieren – gemeinsam mit den Briten - in die Atlantic Charter: Die Sieger "…respektieren das Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen; und sie wünschen zu sehen, dass bei jenen Völkern Souveränitätsrechte und self-Government wiederhergestellt werden, die ihrer gewaltsam beraubt wurden."
Der britische Premierminister Churchill beeilt sich allerdings festzustellen, dass mit dem Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen nicht die kolonisierten Völker Afrikas gemeint seien.

Négritude-Bewegung betont Werte Schwarzer Kultur

Als Replik auf die vorenthaltenen Rechte gewinnt im frankophonen Westafrika die Bewegung der Négritude große Bedeutung, die auf die Diskriminierung und politische Unterwerfung durch die Weißen mit einer bewussten Betonung der Werte der Schwarzen Kultur antworten.
Die führenden Köpfe der Négritude-Bewegung sind die Schriftsteller Léopold Sédar Senghor – er wird später Präsident Senegals - und Aimé Césaire. Er verfasst den "Discours sur le Colonialisme".
Césaires Hauptthese: Der europäische Kolonialismus vernichtet brutal und aus reinem Egoismus an sich entwicklungsfähige Kulturen in Übersee, er degradiert die Überlebenden politisch und materiell, um sie anschließend durch den Rassismus als permanent minderwertig zu brandmarken.
Der Druck der Afrikaner, die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber dem Kolonialismus, die Stärkung der USA, die Gründung der Vereinten Nationen und ihrer Menschenrechtscharta - all das zwingt die Kolonialregime zum Umdenken ihrer Strategien.
"Die Politik zuvor war ja, dass sich die Kolonien selbst finanzieren müssen. Die Kolonien müssen ihre eigene Ausbeutung und Unterwerfung selbst finanzieren. Das durfte die metropolitanen Staatshaushalte nicht belasten. Im Zuge des 2. Weltkriegs gab es ein Umdenken: Wir müssen gehörig in Infrastruktur und Schulbildung, in den Aufbau einer leistungsfähigen lokalen Bürokratie investieren, um Entwicklungsprozesse in Gang zu setzten", erklärt Thomas Bierschenk.
Das ist ein teures Unterfangen. Trotzdem, von ihren Kolonien wollen die europäischen Mächte noch nicht lassen.

Risiken des Unabhängigkeitsprozesses

Dass sich der Kolonialismus überlebt hat, muss Ende der 1950er-Jahre auch Präsident Charles de Gaulle feststellen: "Wir haben all jenen, die von uns abhängig waren, das Recht auf Selbstbestimmung zuerkannt. Es ihnen zu verweigern hieße, unseren Idealen zu widersprechen, eine Serie endloser Kämpfe zu entfachen und den Unmut der Welt auf uns zu ziehen."
Paris erreicht 1960 immerhin: Der Übergang der westafrikanischen Staaten in die Unabhängigkeit verläuft einigermaßen geordnet und friedlich. Grand Kalles Kongo-Lied "Independence Cha Cha" wird in dieser Zeit zu einem Gassenhauer in ganz Afrika. Es ist die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Kongo mit seinem fröhlichen Lied eine der tragischsten Unabhängigkeitsgeschichten schreibt.
Besonders der Fall Demokratische Republik Kongo offenbart die Risiken des Unabhängigkeitsprozesses.

"Die europäischen Mächte haben Afrika nie verlassen"

"Das war und das ist die größte Herausforderung in Afrika, dass wir immer noch mit der Aufgabe beschäftigt sind, einen Staat aufzubauen", sagt Elisio Macamo vom Zentrum für Afrikastudien an der Universität Basel.
"Und dann natürlich eine Gesellschaft zu integrieren, die oft willkürlich zusammengesetzt worden ist durch die Kolonialherren. Das ist keine leichte Aufgabe gewesen, und es ist immer noch eine Aufgabe."
Vielleicht nicht nur eine Aufgabe, es ist ein Jahrhundertwerk.
Nein, meint zumindest der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka.
"Die Wahrheit, der wir ins Auge schauen müssen, ist: Sie sind niemals gegangen. Die europäischen Mächte haben Afrika nie verlassen. Die Briten, Franzosen und Portugiesen haben nach ihrem Rückzug ihre Statthalter hier gelassen, um ihr – wie ich es nenne – internes koloniales Abenteuer fortzusetzen", sagt Wole Soyinka.
"Diese Statthalter haben ihre eigennützige Politik weiter fortgesetzt, natürlich hübsch verpackt. Die afrikanischen Führer durften mit ihren dicken Limousinen und ihrer ausufernden Entourage herumziehen. Es wurde der Eindruck erweckt, man begegne sich auf Augenhöhe. Aber, das stimmte nicht."
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