Joachim von Braun, 1950 in Brakel, Westfalen geboren, ist Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel. Nach mehreren Forschungsaufenthalten in Afrika, Russland und China wurde er 1997 als Gründungsdirektor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) an die Universität Bonn berufen. Im Jahr 2012 wurde er durch Papst Benedikt XVI. in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften berufen, einer Wissenschaftsakademie, der 80 Wissenschaftler aus aller Welt angehören.
"Diskussion um die Verteilung von Flüchtlingen ist bedauerlich"
Circa 3.500 Menschen sind 2014 beim Versuch, Europa zu erreichen im Mittelmeer ertrunken. Das ist haarsträubend, sagt Joachim von Braun, Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung. Statt über die Verteilung von Flüchtlingen zu diskutieren, sollten Chancen und Herausforderungen der Migration stärker betont werden.
Deutschlandradio Kultur: Joachim von Braun ist Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung an der Universität Bonn und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel. Herr von Braun, herzlich willkommen.
Joachim von Braun: Vielen Dank. Ich bin gerne da.
Deutschlandradio Kultur: Das Zentrum für Entwicklungsforschung ist ein international und interdisziplinär ausgerichteter Think Tank, also so eine richtige Denkfabrik. Die beschäftigt sich mit vielem, mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem technologischen Wandel, mit der Ökologie und dem Management natürlicher Ressourcen und mit dem politischen und kulturellen Wandel. Also sozusagen mit allem, was für die Menschheit wichtig ist?
Joachim von Braun: Ja. Die Forschungsagenda des Zentrums für Entwicklungsforschung, kurz genannt ZEF, ist ziemlich breit, aber das können wir uns auch leisten. In dem Zentrum bei uns sind ungefähr 200 Menschen tätig. Mehr als die Hälfte davon sind junge Wissenschaftler aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Die bringen enorm viel Vielfalt in das Institut, aber fordern eben auch sehr stark Themen ein, die für sie wirklich relevant sind, wie Hunger, Wasser, Hygiene, politische Rahmenbedingungen verändern, Rechtspolitik. Auch das Klimathema ist in Entwicklungsländern sehr stark nachgefragt. Wir forschen also in eine Richtung, die den Entwicklungsländern helfen soll, ihre Probleme selbst zu lösen.
Deutschlandradio Kultur: Ein Arbeitsschwerpunkt ist Afrika. Das Zentrum ist Hochschulkooperationspartner der Panafrikanischen Universität und kümmert sich auch um die Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs in Afrika – und das alles, während Europa sich seit Wochen Gedanken über einen Militäreinsatz im Mittelmeer gegen Schleuserbanden macht. – Geht das richtig zusammen? Ärgert sie das?
Joachim von Braun: Die Problematik am Mittelmeer mit den Flüchtlingsströmen interessiert und beschäftigt uns natürlich auch, auch wissenschaftlich. Aber das Bild von Afrika darf uns nicht dadurch verstellt werden, dass wir nur auf die Flüchtlingstragödie vor Lampedusa schauen. Afrika hat in den vergangenen zehn Jahren ein phänomenales Wirtschaftswachstum hingelegt. Zehn der am raschesten wachsenden Länder der Welt sind inzwischen in Afrika. Also, es ist nicht alles schrecklich in Afrika, aber die Medien dürfen davon nicht ablenken, dass es eben auch gute Entwicklungen gibt.
Deutschlandradio Kultur: Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es nicht nur so viele Flüchtlinge, vor allen Dingen auch aus Afrika, die ihr Land verlassen wollen. Das muss doch Gründe haben.
Joachim von Braun: Ja, das ist richtig, dass Flüchtlingsströme zunehmen, obwohl es in großen Teilen Afrikas wirtschaftlich besser geht, auch auf dem Lande besser geht. Also da, wo Kleinbauern nicht genug produzieren können, um sich und ihre Familien zu ernähren, da würde man ja erwarten, die laufen als erste weg. Das ist aber nicht so. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Migration ist so, dass aus den ärmsten Ländern und ärmsten Regionen nur wenig Menschen weglaufen, migrieren, und aus den reichsten Ländern auch nur wenig. Aber dazwischen spielt die Migrationsmusik. Die Kurve sieht aus wie ein umgedrehtes U.
Wenn die wirtschaftliche Entwicklung anspringt, gibt’s auch mehr Migration. Und das passiert zurzeit in Afrika. Das ist auch nicht nur schlecht.
Deutschlandradio Kultur: Was ist denn von Vorteil, wenn Menschen ihre Heimat verlassen?
Joachim von Braun: Wir finden es doch eigentlich schick und ein Zeichen des Erfolgs, wenn jemand aus Deutschland nach Singapur in eine Hightech-Firma geht oder ins Silikon Valley. Also, Migration ist ja nicht per se schlecht. Aber wir finden es doch überwiegend problematisch, wenn jemand aus einem armen Land zu uns kommt. Da haben wir irgendwie eine aus meiner Sicht verstellte Sichtweise.
Wenn es den Menschen in Kenia zum Beispiel besser geht, dann haben sie auch die Fähigkeit zu migrieren, haben das Geld. Denn auch legal zu emigrieren, ist ja nicht kostenlos. Dann komme die zu uns, investieren in ihre Ausbildung, senden Geld nach Hause. Daraus wird investiert. Diese Gastarbeiterrücküberweisungen, so will ich sie mal lapidar nennen, sind inzwischen größer als die Entwicklungshilfetransfers nach Afrika. Also, Migration bringt auch Entwicklung.
Deutschlandradio Kultur: Sind Migranten, die nach Europa, nach Amerika gehen, die wahren Entwicklungshelfer, weil sie das Geld in ihre Familien zurück überweisen, was sie übrig haben, und damit effektiv anlegen?
Joachim von Braun: Wir können die Emigranten durchaus als Entwicklungshelfer bezeichnen, aber da kann die staatliche Entwicklungshilfe noch mehr dazu tun, dass diese Kapitalströme – über 30 Milliarden zum Beispiel nach Afrika – besser investiert werden und nicht einfach in Immobilien und Häuser, sondern dass da draus Handwerksstätten etc. werden.
Außerdem transferieren die Emigranten Know-how nach Hause, sind besser ausgebildet.
Deutschlandradio Kultur: Oder sie bleiben hier, weil die Lebensbedingungen in Europa besser sind?
Joachim von Braun: Ja, das ist richtig. Emigranten bleiben immer länger bei uns. Auch damit müssen wir uns abfinden. Das ist Teil der Migrationsbewegung der letzten 50 Jahre. Und Migration produziert Migration. Denn Migranten emigrieren in ihre Netzwerke hinein. Sagen wir, die paar tausend Äthiopier rund um Frankfurt herum, die ziehen ihre Verwandten und Bekannten nach. Oder die aus dem Norden Bangladeschs, die in Richtung Birmingham in England seit Jahrzehnten wandern, ziehen ihre Leute nach. Das schafft mehr Sicherheit in der Migration und macht sie eigentlich auch effizienter.
Deutschlandradio Kultur: Aber interessanterweise ist es ja so, dass viele europäische Länder, wir brauchen nur mal Großbritannien nehmen oder Ungarn, die sagen: Wir wollen eigentlich gar niemanden haben, der nachzieht, wir wollen eigentlich eher die Grenzen dicht machen, weil es eben nicht diese hochqualifizierten Leute aus Afrika sind, sondern oft Bootsflüchtlinge, die zunächst mal einfach um ihr Überleben kämpfen.
Joachim von Braun: Der Anteil der Flüchtlinge, die jetzt aus dem Horn von Afrika, Eritrea, Somalia, aus dem Süden des Sudan, Syrien oder auch aus dem Kongo komme, die sind eine besonders hilfebedürftige Gruppe. Da tut Nothilfe not. Aber der Anteil dieser Flüchtlinge an dem gesamten Strom der Migranten, der ist gar nicht so groß. Die Welt hat von dieser Art Flüchtlingen über Grenzen hinweg ungefähr 16 Millionen. Migranten insgesamt, die vertrieben worden sind zum Teil innerhalb ihres Landes, haben wir 50 Millionen auf der Welt.
Viel größer ist aber die Zahl derjenigen, die legal emigrieren, die wir in den Arbeitsmarkt und in unser Bildungssystem integrieren müssen. Also, wir müssen zwischen diesen Gruppen unterscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir doch vielleicht nochmal bei diesen Bootsflüchtlingen, weil die so sehr in den Medien sind in den letzten Wochen und weil sich die EU auch damit beschäftigt.
Welche Lösung sehen Sie da? Aufmachen, sagen, wenn die Leute kommen, wir nehmen sie auf, bilden sie aus, hoffen, dass sie dann ihrem Land wieder Gutes tun?
Joachim von Braun: Dass der Flüchtlingsstrom zunehmen wird, davon müssen wir leider ausgehen, solange die politischen Verhältnisse in einer Reihe von Ländern, die wir gerade angesprochen haben, nicht besser wird. Das erfordert Sicherheitspolitik und außenpolitisches Engagement. Diese Thematik erfordert internationale Kooperation.
Der UN-Sicherheitsrat ist gefordert, den Schleppern das Handwerk zu legen. Das wird nicht so einfach sein, insbesondere nicht, wenn man das vor Ort an der libyschen Küste, wo schon die IS-Schergen sich ebenfalls eingenistet haben, vornehmen will.
Ich finde es gut, dass in der Diskussion, die jetzt bei den Vereinten Nationen läuft, im Rahmen der sogenannten Nachhaltigkeitsziele, die die Staatschefs später in diesem Jahr im November verabschieden werden, es ein Ziel gibt, dass wir die Migration ordentlich, sicher, regelbasiert und verantwortungsbewusst organisieren müssen. Und darauf sollen sich die Staaten der Welt verpflichten.
Deutschlandradio Kultur: Aber wir haben doch diese Forderungen, diese Gipfel seit Jahren erlebt. Immer wieder gab es internationale Gremien, die sagten, wir müssen mehr Entwicklungshilfe machen. Wir müssen den Menschen helfen. Afrika muss auf die Beine kommen. Eine Konferenz jagt die andere. – Was haben wir im Moment? Wir haben mehr Flüchtlingsströme als je zuvor.
Joachim von Braun: Nein, nein. Die Europäische Union hat eine Flüchtlingspolitik der Art, wie sie sie jetzt gerade diskutiert, - meines Erachtens noch sehr unzureichend - vorige Woche verabschiedet. Zwar zu sehr konzentriert auf das Lösen der akuten Probleme, ohne eine langfristige Strategie, aber immerhin. Die Staatschefs und die Außen- und Verteidigungsminister haben sich mit dem Thema beschäftigt. Das ist also neu, denn unter den sogenannten Millenniumszielen, die dieses Jahr zu Ende gehen, steht kein Wort von Migration.
Endlich ist das auf der Tagesordnung. Zivilgesellschaft und die Medien müssen sich da engagieren, dass das nicht wieder von der Tagesordnung runterrutscht.
Aber nochmal zu den Flüchtlingen und den Vertriebenen, die da übers Mittelmeer kommen – im letzten Jahr ca. 3.500 Menschen ertrunken. Das ist haarsträubend. Übers Mittelmeer sind über 200.000 Menschen unter lebensbedrohenden Verhältnissen im letzten Jahr gekommen. Ja, die müssen wir aufnehmen. Und in einer Europäischen Union von 500 Mio. Menschen ist das eine verschwindend kleine Zahl. Ich finde es bedauerlich, dass sich die Staatschefs darüber Gedanken machen, wie sie jetzt gerade die nächsten 20.000 Flüchtlinge in Europa fair verteilen könnten. Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass wir Millionen Menschen eine Heimstatt geben. Wobei diese Prognose ganz schwer zu untermauern ist, aber darauf gefasst machen müssen wir uns. Das Risiko von Massenmigration ist real.
Deutschlandradio Kultur: Ich will Ihnen mal ein Zitat nennen von Gerd Müller, dem Entwicklungshilfeminister. Der fordert nämlich einen „grundlegenden Wechsel in der Entwicklungspolitik“. Und wenn er das fordert, scheint ja was schief gelaufen zu sein. Er sagt: „Wir Europäer haben wertvolle Ressourcen zu Niedrigstpreisen bekommen und den Arbeitskräften Sklavenlöhne gezahlt. Auch auf dieser Ausbeutung gründen wir in Europa unseren Wohlstand.“ – Und das sagt ein CSU-Minister. Was ist da schief gelaufen in den letzten Jahren?
Joachim von Braun: Das Zitat, das Sie gegeben haben, spricht von der Vergangenheit. Für wichtige Bereiche gilt das auch in der Gegenwart. Die Handys, die wir alle benutzen, die nutzen Rohstoffe, die unter oft menschenunwürdigen Bedingungen und halbkriminellen Verhältnissen aus Rohstofflagern Afrikas abgebaut und zu uns kommen oder in Amerika und Asien verarbeitet werden. Also, das ist eine Gegenwartsthematik.
Andererseits freue ich mich sehr über diese Erkenntnis auch des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Was die deutsche Entwicklungspolitik eingeleitet hat mit einer sogenannten Zukunftscharta im vergangenen Jahr ist meines Erachtens durchaus sehr positiv. Da stehen Ziele drin, die die Entwicklungspolitik so noch nicht formuliert hatte: menschenwürdige Zukunft, nachhaltiges Wirtschaften mit menschenwürdiger Arbeit verknüpfen, eine menschenrechtsbasierte Politik, die modernen Technologien nutzen im Interesse der Armen.
Deutschlandradio Kultur: Liest sich gut.
Joachim von Braun: Nee, nee, daran haben zivilgesellschaftliche Organisationen und dutzende von Bürgerveranstaltungen mitgewirkt. Das kam von unten und ist nicht einfach aus dem Ministerium geschrieben worden. Ich war an diesem Prozess beteiligt und kann nur sagen, Hut ab, das war absolut neu.
Wenn wir nämlich neue Konzepte nur von den Ministern angetönt bekommen und sich das nicht in unserer Bevölkerung verankert, dann kommen wir auch mit dieser Migrationsthematik nicht weiter. Meines Erachtens kommen wir aber da zurzeit weiter, denn wir haben ja schon eine Fülle von sehr lobenswerten Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich um Migranten und Flüchtlinge kümmern, sie im Haus aufnehmen und sie unterstützen. Also, wir brauchen so eine Zukunftscharta, an der wir uns auch dann wieder messen lassen, ob wir denn Fortschritte im Aufstellen menschenwürdiger Verhältnisse hier und dort geschafft haben.
Deutschlandradio Kultur: Und man hat nun den Eindruck, als ob der Westen und auch die USA irgendwie eine Mitverantwortung an den Krisenherden haben. Nehmen wir das Beispiel Afghanistan. Dort gibt’s mittlerweile viele Flüchtlinge. Nehmen wir den Irak. Nach dem Abzug der Amerikaner droht das Land im Chaos zu versinken. Tunesien hat sich sehr gefreut auf den arabischen Frühling, hat von Europa Hilfe erwartet. Die kam nicht. Jetzt gibt’s dort Schlepperbanden, die Flüchtlingen helfen, nicht, weil die ideologisch verrannt sind, sondern weil sie einfach ihre Familien ernähren wollen. – Also, da beißt sich doch die Katze auch in den Schwanz.
Joachim von Braun: Wir haben globale Verantwortung. Die Migrationsthematik ist ein Globalisierungsthema. Je stärker die Welt integriert ist und die Informationsflüsse jeden Slum und jede Hütte erreichen auf der Welt, desto stärker verändern sich auch die – wir nennen das – die Aspirationen, also der Wille, aus seinem Leben was machen zu können, bei insbesondere jungen Menschen, übrigens überwiegend noch jungen Männern. Unter den Flüchtlingen und Migranten, insbesondere unter den Flüchtlingen, sind noch relativ wenige Frauen, was uns sehr zu denken geben sollte. Denn die bleiben in der Misere stecken.
Mitverantwortung aus der akuten Situation, die Kriege ausgelöst hat wie im Irak, in Libyen, da können wir uns nicht draus wegstehlen. Aus Afghanistan ebenfalls nicht. Und ich bin froh, dass die Bundesregierung entschieden hat im Nachklang zu dem Abzug, die wirtschaftspolitische und entwicklungspolitische Kooperation in Afghanistan zu stärken. Das sind wir denen schuldig und das wird gut investiertes Geld sein.
Deutschlandradio Kultur: Und was machen wir mit Syrien? Da wollten die Amerikaner eingreifen, haben es aus guten oder welchen Gründen auch immer nicht getan, die Europäer auch nicht. Jetzt haben wir Flüchtlingsströme – zwei Millionen in der Türkei, im Libanon, in Jordanien Hunderttausende.
Sollten wir nicht versuchen, dort verstärkt zu helfen, damit die Leute heimatnah die Chance haben, wieder zurückzukehren?
Joachim von Braun: Die meisten Syrer wollen auch gar nicht zu uns kommen, sondern wollen zurück in ihr Land, ihr Land wieder aufbauen. Ich bin als junger Mensch, als Student schon in Aleppo gewesen und später immer mal wieder und habe auch nebenan in Ägypten zwei Jahre gelebt und gearbeitet. Die Region ist mir vertraut. Deutsche Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel die Welthungerhilfe helfen vor Ort in den Flüchtlingslagern in der Türkei. Insgesamt sind mehr als vier Millionen Syrer inzwischen aus dem Land heraus.
Innerhalb des Landes auch noch viele vertrieben, „displaced“ nennt man das euphemistisch. Und die politische Lösung muss her. Natürlich muss man zwischendurch karitativ helfen, müssen dafür sorgen, dass die Kinder in den Flüchtlingslagern in den Kindergarten und in die Schule kommen, dass die Frauen in den Lagern Sicherheit haben. Die ganze Region, insbesondere der Libanon und Jordanien sind total überlastet von der Problematik. Also, Deutschland muss da mit Geld und guter Außenpolitik helfen.
Deutschlandradio Kultur: Herr von Braun, da gibt es ein Zitat von dem senegalesischen Präsidenten Macky Sall. Der sagt: „Investiert in Afrika, und wir teilen den Profit.“ So einfach kann das sein. Wir brauchen das ganze Gutmenschentum nicht. – Hat er Recht?
Joachim von Braun: Afrika würde enorm davon profitieren, wenn wir unsere Märkte noch weiter aufmachen und den Handel verstärken, Afrika Chancen auf unseren Märkten bieten. Insofern stimme ich dem schon zu. Handel ist auch gut für wirtschaftliche Entwicklung.
Wenn man sich allerdings daraus ableiten möchte, dass Öffnung der Märkte die Migration reduzieren würde, dann ist die Antwort nein, ein Fehlschluss. Denn wirtschaftliches Wachstum zum Beispiel im Senegal, der sich zurzeit sehr gut entwickelt, führt nicht nur dazu, dass gute Fußballspieler von da zu uns nach Europa kommen, insbesondere nach Frankreich, sondern dass die Leute auch reicher werden und den riskanten Trip mit dem wackligen Holzboot über Teneriffa nach Spanien versuchen immer mehr, weil sie sich den leisten können, und dann in den Gemüsegärten Spaniens ihren ersten Job finden und dann weiterziehen. Da sie frankophon überwiegend sind, gehen die nach Paris und sonst wohin.
Deutschlandradio Kultur: Also, es ist eine Zwickmühle?
Joachim von Braun: Nein, es ist keine Zwickmühle. Wir brauchen diesen langen Atem. Ich sprach vorhin davon, dass wirtschaftliche Entwicklung uns erstmal mehr Immigranten nach Europa bringen wird. Und erst langfristig werden das weniger werden. Und zwar ist das sehr langfristig, das ist quasi eine Gesetzmäßigkeit, die sehr sorgfältig über die letzten 50 Jahre erforscht worden ist. Wir werden in den nächsten 30, 40 Jahren deutlich Migranten aus Afrika und Nahost bekommen, nicht nur wegen der Krisen und Katastrophen, sondern aufgrund dieser ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Wenn es den Leuten besser geht, können sie sich die Migration leisten und streben auf die produktiveren Arbeitsmärkte.
Hinzu kommt, dass Afrika bis 2050 rund eine Milliarde mehr Menschen haben wird. Ende dieses Jahrhunderts wird Afrika noch eine Milliarde mehr haben. Das sind die unteren Prognosen der Vereinten Nationen – Afrika zu Ende dieses Jahrhunderts drei Milliarden Menschen. Wir in Europa konstante halbe Milliarde. Natürlich werden davon viele zu uns kommen.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja auch andere Player in Afrika, die auch Entwicklungshilfe oder wie man das nennen mag, machen. Das sind die Chinesen, Brasilianer, es sind Inder, die vor Ort investieren, die genau das tun, was Senegals Präsident gesagt hat: „Investiert in Afrika und wir teilen den Profit“– Machen die die intelligentere Entwicklungspolitik?
Joachim von Braun: Nein, nach meiner Wahrnehmung nicht. Was mir gut gefällt im chinesischen Engagement in Afrika, ist die starke Betonung der Verbesserung der Infrastruktur. Die westliche Entwicklungspolitik hatte auch mal ein starkes Augenmerk in den 70er und 80er Jahren auf Infrastruktur. Das ist gut gewesen. Infrastruktur sind nicht nur Straßen, Wasserleitungen, Telefon und Elektrizität, sondern auch das damit zusammenhängende, was wir Softinfrastruktur nennen, also die Information, die Märkte, die dann darum sich bilden etc. Alles das dient der Integration der Armen auf dem Lande, die von Landwirtschaft leben. Und das ist nun mal die Mehrheit der Armen in Afrika.
Andererseits gibt es natürlich auch ausbeuterische Tendenzen, die an das erinnern, was Europa über Jahrhunderte mit Afrika gemacht hat, insbesondere konzentriert auf den Energiesektor. Aber inzwischen sind afrikanische Zivilgesellschaften und auch politische Führungsschichten doch sehr viel sensibler damit und auch mächtiger. Also, die Chinesen haben zum Beispiel in Sambia schon mal mächtige Kritik einstecken müssen, als sie sich dort vor Ort nicht sensitiv genug verhalten haben und Arbeiter ausgebeutet haben.
Deutschlandradio Kultur: Westliche Hilfsorganisationen haben immer auch Menschenrechte, Demokratie, soziale Projekte im Sinn. Die Chinesen sehen das anders und sagen: Wir wollen uns nicht in innere Angelegenheiten einmischen. Das, was ihr da mit den Menschenrechten macht, das interessiert uns nicht.
Joachim von Braun: Die Chinesen sind sehr sensibel gegenüber den sozialen Menschenrechten, also Zugang zu Trinkwasser, zu gesunder Ernährung, während wir vielleicht die bürgerlichen Menschenrechte stärker betonen auch in unseren zivilgesellschaftlichen Organisationen, Zugangsrechte, Partizipation etc.
Es wird ja sehr oft davon gesprochen, dass die Chinesen nun Land aufkauften in Afrika, sogenanntes Landgrabbing betreiben. Da hat es solche Tendenzen gegeben, die aber keineswegs stärker waren als das, was Europa in Afrika in diesem Bereich macht. Und inzwischen ist das meines Erachtens von den meisten Ländern unter Kontrolle gebracht worden – bis auf sehr kleine, sehr arme Länder, wie zum Beispiel Sierra Leone, wo das tatsächlich ein ernstes Problem ist.
Deutschlandradio Kultur: Also müsste man sagen, Demokratie ist doch kein Luxus, auch nicht für afrikanische Länder, sondern notwendige Voraussetzung für Wachstum?
Joachim von Braun: Demokratie hat einen Eigenwert und ist nicht nur ein Instrument für langfristiges wirtschaftliches Wachstum. Insbesondere junge Menschen in Afrika fordern sie ein. Sehen Sie sich die letzten Wahlen im Senegal an oder in Nigeria. Die sind relativ solide und ordnungsgemäß über die Bühne gegangen. Natürlich können Sie immer wieder Gegenbeispiele anführen, aber wenn Sie sich das Gesamtbild von Qualität von Governance, so nennen wir das im Fachjargon, in Afrika ansehen, hat sich deutlich verbessert und ist einhergegangen mit verstärkter wirtschaftlicher Entwicklung.
Deutschlandradio Kultur: Herr von Braun, jetzt könnte man denken angesichts dieser Flüchtlingstragödien im Mittelmeer, über die wir hier ständig berichten, dass alle Afrikaner Richtung Europa wandern. Das stimmt aber gar nicht. Es gibt ganz viele Menschen, die Richtung Südafrika gehen, weil dort die wirtschaftliche Lage besser ist. Und auch das belastet dieses Land extrem. – Droht da eine neue Gefahr?
Joachim von Braun: Die Wanderungsbewegung, einschließlich Flüchtlinge und Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Südafrika emigrieren, ist tatsächlich eine Belastung für das Land. Südafrika hat kein sehr gutes Wirtschaftswachstum. Es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit, um die 25 Prozent. Deswegen kann man sich vorstellen, dass die dortige Regierung, der ANC, nervös ist. Und es hat ja Ausschreitungen gegeben gegen Migranten, die inzwischen teilweise in ghettoartigen Verhältnissen leben.
Die meisten kommen nach Südafrika aufgrund politischer Probleme, die hausgemacht sind, zum Beispiel Simbabwe oder aus dem Kongo, in dem im Osten ja seit Jahren Kriege herrschen. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Wir brauchen also neue Allianzen zwischen Europa und Teilen Afrikas, um mit der Migration und den Flüchtlingsthemen gemeinsam umzugehen. Wir sitzen gewissermaßen auch schon in dem gleichen Boot mit denen.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt hat Südafrika Konventionen zum Schutz von Flüchtlingen unterzeichnet. Ist das ein Bumerang, der jetzt auf das Land zurückfällt?
Joachim von Braun: Ja, also, sehr komplizierte Situation: Die über Jahrzehnte abgelaufenen Konflikte innerhalb und zwischen Ländern in Afrika haben zu einer schrecklichen Verbreitung von ganz viel Waffen geführt, die natürlich üblicherweise in die falschen Hände gekommen sind. Dasselbe gilt zum Beispiel für Kenia. Große Teile des ländlichen Raums in Kenia sind nicht mehr sicher.
Ich war neulich in Nairobi und es ist so traurig festzustellen, dass alte Freunde, die den Bezug zu ihrem kleinen Bauernhof erhalten wollen, das aufgeben müssen, weil, wenn da irgendetwas zu stehlen ist, schwer bewaffnete Diebe an allen Ecken und Enden inzwischen auftreten können.
Also, wir brauchen auch zu dieser Sicherheitsthematik, und die belastet Menschen in Südafrika auch sehr, Konzepte. Diese Gemengelage, die Migration mit Sicherheitsthemen verbindet, führt dann zu chauvinistischen fremdenfeindlichen Reaktionen, obwohl es oft gar nicht die Fremden sind, wie wir jetzt zum Beispiel von den schrecklichen Vorkommnissen in Kenia wissen, der Überfall auf die Schule, über hundert Kinder ermordet. Die kamen gar nicht aus Somalia, aber trotzdem wird das dann instrumentalisiert und es wird dann Hetze auf die Migranten gemacht.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es kurz angesprochen, Waffen, die in Umlauf sind. Jetzt könnte man natürlich auch fordern: keine Waffen nach Afrika, keine Kleinwaffen, nicht aus Europa, nicht aus Amerika und scharfe Kontrollen, um das zumindest einigermaßen in Griff zu kriegen. – Ist das realistisch?
Joachim von Braun: Das muss realistisch werden. Dafür gibt es auch inzwischen Programme, Anreizprogramme, die Waffen abzuliefern, nicht nur den Waffenhandel nach Afrika einzudämmen. Aber das ist inzwischen auf einem solchen hohen Verbreitungsniveau, die Kleinwaffenbewaffnung in Afrika, dass wir da meines Erachtens neu drüber nachdenken müssen.
Deutschlandradio Kultur: Wie könnte das denn geschehen? Man könnte ja sagen, wir wollen Schleuser kontrollieren, alles Mögliche. Wir könnten ja auch sagen, wir wollen in einer großen Aktion versuchen, Waffenlieferungen nach Afrika zu verhindern. Das wäre schon ein Schritt, der vielleicht nachhaltig wäre und sinnvoll.
Joachim von Braun: Ja, das wäre ein vernünftiger Schritt. Den müssen wir austesten, müssen experimentell vorgehen, um die Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Das tun wir ja nach jedem Bürgerkrieg. Also, da gibt’s Konzepte der Sicherheitsforscher. In Bonn gibt’s das Bonn-Zentrum für International Conversion. Die machen solche Studien, ein Schwester-Institut unseres Instituts in Bonn.
Lassen Sie mich aber doch auch, da Sie jetzt auf Fragen der Problemlösung zu sprechen gekommen sind, noch etwas anderes anmerken:
Einer der wichtigsten Gründe, warum insbesondere junge Menschen sich auf den gefährlichen Weg machen, ist nicht nur einfach einen Job zu kriegen in Europa, sondern die sind auf der Suche nach Bildung und Weiterbildung, weil sie wissen, wenn sie ausgebildet sind, dann können sie überall auf der Welt, insbesondere auch in ihrem Heimatland einen ordentlichen Job kriegen.
Wir müssen aus dieser Not der Menschen eine Tugend machen. Diejenigen, die zum Beispiel da in Libyen warten, bis sie übersetzen können, warum stellen wir denen nicht eine Bildungschance in Aussicht? Warum geben wir denen nicht einen Bildungscoupon, mit dem sie umdrehen können und an einer afrikanischen Universität oder College eine Ausbildung machen und dann ihrem Land dienen können? Das wäre für mich ein neues Anreizsystem, das im Interesse der Migranten wäre. Das sind nämlich ganz überwiegend hochintelligente initiativreiche Leute. Es sind nicht die der Armen, die da sitzen und warten. Und das würde dem afrikanischen Kontinent dienen. Denn Bildung und Weiterbildung ist das A und O für das Wachstum.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie vielleicht schon mal mit der Bundesregierung, mit dem Entwicklungshilfeminister, mit dem Wirtschaftsminister geredet, Vorschläge gemacht?
Joachim von Braun: Es war eine Anhörung im Deutschen Bundestag, die fand ich ganz gut, im Herbst letzten Jahres zum Thema Migration. Diese Art Vorschläge verbreiten wir zunehmend auch im Kontext der Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Denn unseres Erachtens muss Europa in Sachen Migration und Entwicklungskooperation mit einer Stimme sprechen und muss die entwicklungspolitischen Chancen und Herausforderungen, die in der Migration stecken, viel stärker betonen und nicht nur das akute Bekämpfen von den Notfällen durch etwaige Zerstörung von Schlepperbooten als das Hauptthema der Politik erklären.
Deutschlandradio Kultur: Das war ein schönes Schlusswort.
Herr von Braun, ich habe noch eine Frage an Sie persönlich. Sie wurden 2012 vom damaligen Papst Benedikt XVI. in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften berufen. Das sind 80 Akademiker aus aller Welt, die hier in dieser ältesten Wissenschaftsinstitution der Welt vereint sind. Einer der ganz frühen Mitglieder war Galileo Galilei. – Vatikan und Wissenschaft, geht das irgendwie zusammen?
Herr von Braun, ich habe noch eine Frage an Sie persönlich. Sie wurden 2012 vom damaligen Papst Benedikt XVI. in die Päpstliche Akademie der Wissenschaften berufen. Das sind 80 Akademiker aus aller Welt, die hier in dieser ältesten Wissenschaftsinstitution der Welt vereint sind. Einer der ganz frühen Mitglieder war Galileo Galilei. – Vatikan und Wissenschaft, geht das irgendwie zusammen?
Joachim von Braun: Ja, der Akademie hören der Papst und seine Berater sehr sorgfältig zu, ist meine Erfahrung der letzten drei Jahre. Das war sowohl bei Papst Benedikt der Fall, als auch jetzt bei Papst Franziskus. Der hat uns in der Akademie schon zweimal besucht und uns gerade zu Themen, wie wir sie heute angesprochen haben, konsultiert. – Also, die Problematik von Hunger und Armut, das Flüchtlingsproblem, die Zukunft von jungen Leuten ist ein Thema unserer nächsten Akademiesitzung. Dieser Papst versteht sehr gut, wie die Welt funktioniert. Er wünscht sich ja eine Kirche der Armut und in Armut.
Ich habe mich als deutscher Protestant gefreut, dass der Papst seine erste Reise nach seiner Wahl nach Lampedusa gemacht hat zu der Probleminsel mit den Flüchtlingen.
Deutschlandradio Kultur: Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch.