Afghanistans Zukunft

Taliban predigen Emirat light

28:32 Minuten
Bewaffnete Taliban auf einem Wagen in Kabul.
Die Einfahrt der Taliban nach Kabul am 16. August 2021 erfolgte ohne Gegenwehr. © imago images / SNA / Stringer
Moderation: Andre Zantow |
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Die Taliban haben in Kabul und damit in Afghanistan die Kontrolle übernommen. Sie sprechen von Amnestie und Frauen in der Regierung. Aber die meisten Menschen haben Angst und wollen weg. Dennoch hat sich das Land in den letzten 20 Jahren auch verändert.
Mahbooba Seraj ist stinksauer, als sie aus Kabul mit dem türkischen TV-Sender "TRT World" spricht: "Ich sage zur ganzen Welt: Schande über Euch! Für das, was Ihr Afghanistan angetan habt. Warum musstet Ihr das tun, was Ihr getan habt?"
Die Gründerin des Afghan Women’s Network kämpft seit den 90er-Jahren dafür, dass Frauen gleichberechtigt in Afghanistan leben können. Durch den Abzug der NATO-Truppen und den Einmarsch der Taliban sieht sie "Afghanistan um 200 Jahre zurückgeworfen". Ihr Lebensziel scheint zerstört. Und sie prophezeit einen Exodus.
Wer kann, verlässt jetzt Afghanistan. Zehntausende über den Flughafen in Kabul, die meisten vermutlich zu Fuß in die Nachbarländer. Aber von den 38 Millionen Einwohnern werden viele bleiben müssen und unter den Taliban leben.

Aus Angst zu Hause bleiben

Ashkan, der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, verlässt seit Tagen nicht seine Wohnung in Kabul. Bis Sonntag hat er noch bei einer Organisation gearbeitet, die bedürftigen Frauen, Mädchen und Menschen mit Behinderungen hilft.
"Die ist jetzt geschlossen. Wir denken an unsere Jobs und fragen uns, wie es jetzt weitergehen wird? Die Chefs sagen, wir sollen zu Hause bleiben, nicht rausgehen. Es ist jetzt wie Lockdown. Der Sprecher der Taliban meinte zwar im Fernsehen, dass sie kein Problem haben mit den Leuten, die im Büro arbeiten. Aber die Leute haben Angst. Wenn wir ins Büro gehen und sie dann plötzlich kommen und fragen: ‚Was macht ihr hier?‘ Und dann nehmen sie uns mit ins Gefängnis oder sie schießen. Die Leute haben Angst."
Aus Angst löschen jetzt Ashkan, seine Kollegen und viele andere in Afghanistan Sachen von ihren Handys – in den sozialen Netzwerken - alles, was irgendwie problematisch sein könnte, wenn die Taliban es sehen würden.
"Sie versuchen, ihre Profile zu säubern. Die Postings, die gegen die Taliban waren. Sie löschen jetzt alles auf Facebook usw. Ich auch ein wenig. Ich habe etwas geteilt, was ich jetzt wieder gelöscht habe. Und jetzt arbeite ich daran, im Internet meine Identitäten zu ändern."

Taliban-Herrschaft: Der Umgang mit den Frauen wird zur Bewährungsprobe Wie die Taliban in Zukunft mit den Frauen umgingen, sei entscheidend. So sieht es der Afghanistan-Experte Conrad Schetter und hofft, dass die Islamisten nach der Übernahme der Macht die Fehler der 1990er-Jahre nicht wiederholen.

Taliban-Kämpfer sitzen in einem Fahrzeug in Kabul einmarschiert
© picture alliance/dpa/Sputnik
Es ist so, als ob die vergangenen 20 Jahren jetzt ausradiert werden sollen – aus Furcht vor den Taliban, die in der Stadt seit Sonntag die Kontrolle haben. Wie es draußen aussieht, hört Ashkan von seinem Bruder – der noch raus geht, um Lebensmittel zu holen. Frauen sieht er dabei keine.
"Keine Frauen, keine. Nur Männer sind draußen. Als wir früher aus unsere Wohnung auf die Straße geguckt haben, war die voll - mit Frauen und Männern – jetzt nur noch Männer – aber weniger."

Taliban versprechen Frieden und Vergebung für alle

Er herrscht also offenbar in Kabul ein gespanntes Abwarten, was die Taliban jetzt tun werden. Bisher geben sie sich anders als von 1996 – 2001 als sie das Land kontrollierten. Damals gab es öffentliche Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul. Mädchen durften nicht in die Schule, Frauen mussten zu Hause bleiben, Musik, Film und Sport wurden verboten. Jetzt sagte der Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid:
"Schon bald werden wir die Behörden und Ministerin öffnen. Alle Beamte und Beamtinnen können wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie werden im Namen des islamischen Rechts ihre Arbeit wieder aufnehmen können. Wir wollen auch, dass die Frauen arbeiten. Bei der Polizei. Im Gesundheitswesen. Und in anderen Bereichen. Wir brauchen die Frauen dort. Denn sie sind Teil unserer Gesellschaft."
Und der Taliban-Sprecher versprach noch mehr:
"Ich möchte Sie noch daran erinnern, dass wir allen vergeben werden. Denn nur so können wir Frieden und Stabilität zurückgewinnen. Jeder und jedem, die gegen uns waren, werden wir verzeihen."
Ashkan, der sich in Kabul nicht aus seiner Wohnung traut, glaubt diesen Worten nicht:
"Ja, natürlich. Sie sagen das. In Pressekonferenzen. Im Fernsehen. Im Radio. Sie haben sogar Autos mit Lautsprechern, mit denen sie durch die Straßen fahren und sagen, dass niemand Gewalt zu befürchten hat oder Probleme durch die Regierung. Sie sagen das. Aber die Leute glauben ihnen nicht. Die Taliban sind wie früher. Ihre Einstellung hat sich nicht geändert. Als sie vor mehr als 20 Jahren Afghanistan und Kabul erobert haben – das ist jetzt genauso – wie früher."

Die Taliban sind abhängig von internationalen Geldgebern

Sind sie dieselben Taliban wie vor 20 Jahren? Der Afghanistanexperte und langjährige Reporter im Land Emran Feroz weist daraufhin, dass die Ideologie dieselbe ist, aber trotzdem hätten sich die Taliban verändert. Durch die neue Technologie und gesellschaftliche Entwicklungen, die die Taliban auch durchgemacht hätten. Wichtig sei, dass die Taliban keine homogene Gruppe sei, es gebe verschiedene Strömungen und regionale Unterschiede im Land:
"Hier lohnt sich ein Blick in die Regionen, die seit Längerem von den Taliban kontrolliert werden. Da herrschen autoritäre Zustände. Es gab auch Racheaktionen an Menschen, die mit ausländischen Militärs zusammengearbeitet haben. Oder Mitarbeiter der Regierung, die immer noch in Haft sind. Und das könnte sich bald auch in Kabul zeigen, wenn der internationale Fokus wieder weg ist und alle evakuiert wurden."

Afghanistan: Der Westen hat alle Hebel aus der Hand gegeben Isolieren oder verhandeln – wie soll der Westen auf die Machtübernahme der Taliban reagieren? Der Journalist Thomas Wiegold sieht nur noch geringe Möglichkeiten, die Situation in Afghanistan zu beeinflussen.


Eng gedrängte Flüchtende aus Afghanistan werden in einem Airbus der Bundeswehr von einem Koordinator mit Informationen versorgt.
© picture alliance/dpa/Bundeswehr/ Marc Tessensohn
Die Weiterentwicklung der Taliban, die laut Schätzungen eine Truppenstärke von 60.000 Mann haben, macht Emran Feroz auch an der finanziellen Lage Afghanistans fest:
"Die Taliban wissen, dass sie und der afghanische Staat von internationalen Geldgebern abhängig sind. Afghanistan kann ohne ausländische finanzielle Hilfe nicht überleben. Die Taliban waren in den 1990er-Jahren extrem isoliert. Es gab Hungersnöte und international waren sie extrem isoliert. Das hat sich mittlerweile geändert. Die Taliban pflegen zu einigen Regierungen mittlerweile gute Kontakte: Iran, China oder Russland sind da zu nennen. Die Taliban haben vor einigen Jahren ihr politisches Büro in Katar eröffnet und seit dem versuchen sie, den diplomatischen Weg zu gehen. Sie wollen zeigen, dass sie globalisiert sind, dass sie nicht mehr isoliert sein möchten."
Dabei gehe es den neuen Partnern auch um Rohstoffe - Afghanistan ist reich an Eisen, Kupfer, Lithium und Gold: "Natürlich lässt sich der Konflikt nicht nur auf diese Dinge herunterbrechen, aber es war Donald Trump, der sehr offen gesagt hat, dass es in Afghanistan um Rohstoffe geht und man deshalb dort präsent sei. Ich denke, die Chinesen werden da sehr schnell da sein. China ist bekannt dafür, solche Schritte schnell anzugehen. Man sieht das an mehreren afrikanischen Staaten. Jetzt ist Afghanistan vor der Tür und die chinesische Regierung hatte das auch schon länger im Auge gehabt."

Am Friedensprozess durften keine Frauen teilnehmen

Die größte Änderung in ihrem Leben werden vermutlich Mädchen und Frauen spüren. Malalai Habibi hat lange vor dieser Situation gewarnt. Sie musste in den 90ern als Kind aus Afghanistan flüchten – in den Iran. Dort schaffte sie den Aufstieg durch Bildung, studierte – kam später mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan – als die Taliban vertrieben wurden. Sie engagierte sich für Frauenrechte und Bildungsprogrammen für Kinder, sowie im Friedensprozess in Afghanistan. Heute lebt sie in den USA, arbeitet beim International Civil Society Action Network (ICAN) und ist eine gefragte Gesprächspartnerin, um zu erklären, was falsch lief in ihrer Heimat.
"Das ist ein gemeinsames Versagen der heimischen und internationalen Politik. In Afghanistan haben wir Korruption, Vetternwirtschaft und ethnische Rivalitäten. Und auf internationaler Ebene haben wir Verantwortungslosigkeit, Machtspiele, Rivalitäten zwischen Staaten, Stellvertreter-Kriege und Terrorismus. Und das begann schon vor Jahrzehnten. Afghanistan war immer ein Schlachtfeld für Stellvertreterkriege – auf dem Rücken verschiedener afghanischer Generationen.
Malalai Habibi steht im Winter mit Mantel vor einem Weihnachtsbaum.
Die Afghanin Malalai Habibi engagiert sich für Frauenrechte in ihrer Heimat. Derzeit lebt sie in den USA.© Privat
Nehmen wir als Beispiel den afghanischen Friedensprozess, der mehr ein Exitprozess war, als eine Verhandlung über den Frieden. Von Anfang an wurden viele Gruppen ausgeschlossen. Ein Desaster. Es gab keine unabhängigen Frauenvertreterinnen, keine Minderheiten saßen am Tisch, nicht mal die afghanische Regierung war da, bis die USA einen Deal mit den Taliban unterzeichnet haben. Und da wissen wir bis heute nicht, was die genau unterschrieben haben. Es gibt einige geheime Anhänge. Und wer weiß, vielleicht wurden diese Katastrophe damals schon unterzeichnet zwischen den USA und den Taliban.
Wenn Sie an Zalmay Khalilzad denken - den US-Gesandten für den Friedensprozess unter Bush und Trump. Der war ein totales Desaster. Er war unser größter Feind. Er unterschrieb diese Deals, ohne nach dem Schutz zu fragen für Zivilisten, Frauen und Minderheiten. Und er drängte die afghanische Regierung dazu, 6000 gefangene Taliban freizulassen, die dann direkt auf das Schlachtfeld zurückgingen. Und so ist das alles gekommen."
Hätte es mehr Frauen in hohen Regierungspositionen und beim Friedensprozess gegeben, hätte es anders kommen können, meint Malalai Habibi: "Absolut. Die Beteiligung von Frauen wurde immer als Projekt gesehen und nicht als etwas Nachhaltiges. Viele – auch unsere obersten Entscheider - haben Frauen nur irgendwo hingesetzt, um ein Häkchen hinter dieses Thema zu setzen, weil die Geldgeber gewisse Quoten verlangt haben. Dabei wissen wir, dass Frauen weniger korrupt sind, eher an das Allgemeinwohl denken und fairer Teilen. Aber es gab immer Widerstände dagegen, dass viele und vor allem gute Frauen auf die Top-Entscheider-Positionen kommen."

Aus Wut ein Pflaster auf den Mund geklebt

Beim Blick auf ihre Heimat in diesen Tagen sei sie frustriert und traurig: "Ich weine viel. Bin müde. Ich bin sicher, Sie haben die Videos gesehen von den Leuten, die auf das Flugzeug am Flughafen geklettert sind und dann runterfielen. Viele haben gefragt, warum machen die das? Aber ich verstehe die komplett. Sie wollen einfach jede Möglichkeit nutzen für ein besseres Leben. Wir wollen alle in unserem Land bleiben. Wir wollen Sicherheit und ein normales Leben, wie andere Leute auf der Welt auch. Aber leider können wir nicht im Land bleiben und unser ganzes Leben verschwenden – unsere Kindheit, unsere Jugend.
Ich weiß, dass in Deutschland viele Afghanen leben. Ich möchte nur, dass alle verstehen: Ehrlich, wir haben keine andere Chance. Das ist eine sehr harte Zeit. Niemand von uns will sein Land und seine Lieben hinter sich lassen. Aber die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre. Natürlich wollen sie nicht in einem Land leben, wo sie keine Musik hören dürfen, sich nicht frei bewegen dürfen draußen, keine freie Bildung erhalten. Das ist unser Recht!"

Afghanische Theateraktivisten auf der Flucht: Der Flughafen von Kabul wird zur Falle Afghanische Theateraktivisten warten an Toren zum Flughafen Kabul unter Lebensgefahr darauf, in einen der rettenden Flieger zu steigen. Sie stehen auf Evakuierungslisten: Doch niemand lässt sie auf das Flughafengelände.

© privat
Aus Wut über die Tatenlosigkeit vor der Machtübernahme der Taliban, klebte sie sich live in einem BBC-Interview ein Pflaster auf den Mund:
"Weil wir soviel gerufen haben, gewarnt haben vor dieser Situation. Wir haben gesagt, dass diese Dinge passieren werden. Wir haben von den Jüngeren im ganzen Land gehört, dass die Lage nicht gut ist, die Taliban mächtiger werden. Wir haben nach internationaler Hilfe gefragt, nach politischen Vereinbarungen, aber niemand hörte uns zu. Keine Medien, kein Politiker, kein Land. Niemand wollte unsere Stimmen hören.
Und jetzt bekomme ich ständig Interviewanfragen. Und deshalb bin ich so enttäuscht. Was soll ich jetzt sagen, was ich nicht schon vorhergesagt habe. Deshalb war ich in diesem Moment so wütend, dass ich einfach nur noch still sein wollte, um der Welt zu sagen: ‚Hey, wir wollten sehr viel mit Euch reden, aber ihr habt nicht hingeschaut und jetzt rede ich nicht mehr.`"
Beim Blick auf die Zukunft Afghanistans wird Malalai Habibi kämpferisch: "Diese Generation – und ganz Afghanistan ist jetzt anders. Die Taliban wissen das. Wir werden nicht still sein. Die Leute haben Bildung bekommen in den vergangenen 20 Jahren, ein Handy, Zugang zu sozialen Medien, zum global village, sie sind sich ihrer Rechte bewusst, wissen, was auf der Welt los ist. Sie werden nicht einer düsteren, frauenfeindlichen Gruppe erlauben, sie zu regieren. Die Taliban sollten das wissen!"
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