Michael Lüders lebt als Publizist und Autor in Berlin. Er hat viele Jahre im Nahen Osten gelebt, als Student der arabischen Literatur in Damaskus und als langjähriger Nahostkorrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Kairo. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte“ bei C.H. Beck.
Ukraine und Afghanistan
Früh habe man in Washington gewusst, dass der Krieg gegen die Taliban nicht zu gewinnen sei - und dennoch weitergemacht, kritisiert Michael Lüders. © Getty Images / Scott Peterson
Die doppelten Standards des Westens
Der Krieg in der Ukraine und das Leiden der Menschen dort erfahren im Westen so viel Aufmerksamkeit, als wäre es "unser" Krieg. Ganz anders der Tod Hunderttausender in Afghanistan: Der wird verdrängt oder lässt uns weitgehend kalt, kritisiert Michael Lüders.
Auf einer Konferenz in Doha, Katar, wurde die frühere pakistanische Außenministerin Hina Rabbani Khar kürzlich gefragt, warum Pakistan den russischen Einmarsch in der Ukraine nicht verurteilt habe. Ihre Antwort: Pakistan erlebe wie auch seine westlichen Nachbarn seit Jahrzehnten Gewalttaten einer anderen Weltmacht – mit verheerenden Folgen für die Menschen in der Region. Sie meine offenkundig die USA, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen.
Allein der Krieg in Afghanistan habe Hunderttausende das Leben gekostet, Millionen Afghanen seien vor Krieg und Hunger nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Die Zerstörungen in Afghanistan überträfen die in der Ukraine um ein Vielfaches. Wenn die Entscheider im Westen nunmehr in Russland den großen Feind sähen, sei das deren Entscheidung. Pakistan setze stattdessen, wie auch die Türkei, auf Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges.
Das Scheitern in Afghanistan wird verdrängt
Würde hierzulande jemand Auffassungen vertreten wie Hina Rabbani Khar, wäre die Folge vermutlich ein Shitstorm sondergleichen. Im Kern aber hat sie wahrscheinlich recht: Wer in Berlin, bei der NATO in Brüssel oder in Washington interessiert sich noch für den verlorenen Afghanistan-Krieg?
Dieser Krieg begann im Oktober 2001 als amerikanische Vergeltung der USA für Nine Eleven. Zwar kamen 15 der 19 Attentäter aus Saudi-Arabien, wurden die Anschläge maßgeblich in Hamburg geplant – doch erschien es der Regierung Bush politisch opportuner, die Taliban zu stürzen, die Osama bin Laden Zuflucht gewährt hatten.
Das gelang auch innerhalb kurzer Zeit, doch scheiterte der Versuch Washingtons und seiner Verbündeten, im Rahmen der Internationalen Stabilisierungsmission ISAF und der NATO, in Kabul eine pro-westliche Regierung aufzubauen.
Der Westen wusste, der Krieg ist nicht zu gewinnen
Nach 20 Jahren Krieg, dem längsten US-Militäreinsatz aller Zeiten, unterstützt auch von der Bundeswehr, übernahmen die Taliban am 15. August 2021 erneut die Macht in Kabul. Zum großen Entsetzen der westlichen Akteure: Wie konnte das geschehen?
Obwohl die Verantwortlichen in Washington bereits 2005 wussten, dass sie den Krieg gegen die Taliban – übersetzt: Religionsstudenten – nicht gewinnen können, haben sie ihn unbeirrt weitergeführt, in der Hoffnung, ihn ohne Gesichtsverlust beenden zu können.
Stattdessen erfolgte im vorigen Sommer der übereilte Abzug. Abertausende afghanische Ortskräfte wurden ihrem Schicksal überlassen, gerade die afghanischen Mädchen und Frauen sehen erneut einer ungewissen Zukunft entgegen.
Afghanen werden in Kollektivhaftung genommen
Nirgendwo in der westlichen Politik ist die Bereitschaft zu erkennen, sich diesbezüglich einer kritischen Selbstbefragung zu unterziehen. Fast möchte man zynisch sagen: Der Krieg in der Ukraine hat die Aufmerksamkeit zur rechten Zeit in eine ganze andere Richtung gelenkt.
Zwischenzeitlich hat die US-Regierung alle Auslandsguthaben der afghanischen Zentralbank eingefroren und Afghanistan aus dem SWIFT-Bankenzahlungssystem ausgeschlossen. Damit kann die Taliban-Regierung keine Gehälter mehr auszahlen, Medikamente oder Lebensmittel importieren.
Diese Entscheidung ist maßgeblich verantwortlich für die grassierende Hungersnot, die erneut Hunderttausende Afghanen zur Flucht nach Pakistan oder in den Iran gezwungen hat. Im Februar hat Präsident Biden knapp die Hälfte der in den USA eingefrorenen afghanischen Gelder, nämlich rund 3,5 Milliarden US-Dollar, durch ein präsidiales Dekret eingezogen, um sie unter den Opfern von Nine Eleven zu verteilen. Das ist nicht allein Diebstahl, sondern nimmt gleichzeitig alle Afghanen für die damaligen Terroranschläge in Kollektivhaft.
Kriegsverbrechen bleiben ungesühnt
Womit wir wieder bei der früheren pakistanischen Außenministerin wären, dem ständigen Messen mit zweierlei Maß. So hat Washington hinter den Kulissen dafür Sorge getragen, dass alle anhängigen Verfahren gegen die USA wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Afghanistan vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingestellt worden sind.
Ob Russland dieses Privileg auch gegeben sein wird?