Das Trauma Afghanistan

Zwei Brüder, zwei Welten

30:06 Minuten
Zwei Männer laufen an einer hohen Mauer mit Stacheldraht, einer trägt ein Gewehr unter dem Arm, Afghanistan 2022.
Ein Talibankommandeur mit einem Begleiter an der Abgrenzung zum Flugfeld: Am Flughafen Kabul trennten sich nach der Machtübernahme die Wege vieler Menschen. © Deutschlandradio / Marc Thörner
Von Marc Thörner · 14.08.2022
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Der Journalist Rashid und sein Bruder haben bis vor einem Jahr in Kabul in einer Großfamilie zusammengelebt. Nach dem Einmarsch der Taliban konnte Rashid nach Deutschland entkommen. Sein Bruder, ehemals Richter, muss sich seither in Kabul verstecken.
Rashid, mein Mitarbeiter aus Kabul strahlt über das ganze Gesicht, als wir uns in Deutschland wiedersehen. „Alles gut gegangen mit der Behörde“, sagt er – und dann begrüßen wir uns, wie wir uns immer am Flughafen von Kabul zu begrüßen pflegten: mit einem eleganten, nur angedeuteten Schulterklopfen.
Rashid war mein Helfer und Begleiter, wenn ich in Afghanistan war, und ich war in den letzten 15 Jahren oft dort. Ohne ihn hätte ich viele Einblicke in das Land gar nicht bekommen und viele Reportagen wären ohne ihn nicht entstanden.

Vom Selfmademan zum Geflüchteten

Seit dem Machtwechsel in Afghanistan im August 2021 lebt Rashid in Deutschland und eigentlich heißt er anders. Aber sowohl er und seine achtköpfige Familie, als auch die Angehörigen, die noch in Kabul sind, dürfen nicht in Gefahr gebracht werden. Deshalb ein Pseudonym.
Rashid kann endlich durchatmen, nachdem er im Sommer 2022 eine Wohnung bekommen hat und aus der Flüchtlingsunterkunft ausziehen konnte.
Eigentlich sind es zwei Wohnungen auf einer Etage, erzählt er: „Ich habe sieben Kinder. Deshalb war das Thema Wohnen ein Riesenproblem für uns. Wirbrauchen ein paar Zimmer mehr als andere. Das Jobcenter – also die Regierung – zahlt für unseren Lebensunterhalt.“
Das mag sich zunächst wie eine Erfolgsgeschichte anhören – wenn man nicht weiß, wie er in Kabul lebte. Dort schien er mir stets wie ein Vorzeigebeispiel der Nach-Taliban-Generation.
Dank seiner Englischkenntnisse erfolgreich in der Medienarbeit. Ein Selfmademan. Bald international gefragt und hoch bezahlt als Kameramann und Organisator für Reportagen und für Dreharbeiten. Bis vor einem Jahr bewohnte Rashid mit der gesamten Großfamilie ein Haus mit Garten und unterhielt sein Büro im Business-Center eines Hotels.
Jetzt sitzt er in Deutschland und ist in Gedanken bei den Zurückgebliebenen.

Sie sind dort nicht sicher, besonders mein Bruder nicht. Unter dem vorigen Regime war er Richter. Jetzt hat er Angst, dass die ihn schnappen, falls ihn jemand denunziert. Seine Zukunft ist völlig ungewiss.

Rashid

Vom Richter zum Gehetzten

Zwei aus derselben Familie. Der eine als bedrohter ARD-Mitarbeiter evakuiert. Der andere als entlassener Richter ohne irgendeine Chance, aus dem Land zu kommen.
Ein halbes Jahr nach dem Machtwechsel habe ich Rashids Bruder Rahmatullah getroffen. Ich wollte mir ansehen, wie sich das Land unter den Taliban verändert hat.
Für Rahmatullah ist meine Ankunft die Gelegenheit sich nach Monaten im Versteck zum ersten Mal wieder sicher draußen zu bewegen. Dazu schlüpft er in die ehemalige Rolle seines Bruders und gibt sich als mein Helfer und Begleiter aus.
Eine Strassenszene in Afghanistan mit Panzer neben dem Verkauf von Getränken.
Überall im Stadtgebiet sieht man an Checkpoints modernes US-Militärgerät, das von den Taliban genutzt wird.© Deutschlandradio / Marc Thörner
Ich erlebe den jungen Mann verunsichert: Gerade noch hat er Recht gesprochen, jetzt muss er jederzeit damit rechnen, verhaftet zu werden. Denn für die Taliban ist er ein Verbrecher. „Wir werden diese Richter töten, die für die republikanische Regierung gearbeitet haben.“ So steht es in den Drohbriefen, die er bekommen hat. „Es sind Ungläubige, denn sie wenden nicht die Gesetze an, die Gott uns gegeben hat.“
Zusammen fahren wir zum Flughafen, der im Leben so vieler Afghanen eine zentrale Rolle spielte, und auch für die beiden Brüder und mich ist dieser Schauplatz wichtig. Denn hier, auf ein paar Hundert Quadratmetern vollzog sich ein Zeitenwechsel. Was er bedeutet, lässt sich noch nicht ganz ermessen.

Der Taliban versteht sich als Befreier

Von hier aus kamen Rashid und seine Familie mit dem letzten Flug über Usbekistan nach Deutschland. Die Welt von Rahmatullah hingegen wurde immer kleiner. Er ging ins Versteck, wo er bis heute ausharrt.
Der Taliban-Kommandeur, der jetzt den Zugang zum Flughafen bewacht, war auch im August 2021 hier, so erzählt er uns. Den Ansturm der Ausreisewilligen hat er hautnah erlebt, bis hin zur Explosion am Zugangstor, die damals Dutzende von Menschen tötete.
Bis heute versteht er nicht, warum das alles so passieren musste. Er und seine Männer waren ja als Befreier gekommen: „Es gab keinen Grund, zu fliehen“, meint er. „Ich sagte ihnen: Es gibt keine Gefahr. Habt keine Angst vor uns, wir sind alle Muslime. Wir haben nichts gegen euch. Aber alles war umsonst, sie hörten nicht auf uns.“
Mit dem als mein Helfer getarnten Rahmatullah besuche ich das Ministerium für Finanzen. Es beantwortet alle Presseanfragen. Für die Taliban ist es das wichtigste der Ministerien – mit einem starken Bedarf an Public Relations. Denn schließlich ist ihnen daran gelegen, dass der Westen seine eingefrorenen Finanzhilfen wieder aufnimmt.
Das neue Finanzministerium ist zugleich das alte und liegt im Zentrum von Kabul. Jahrelang galt es als Inbegriff der Korruption. Milliarden an Steuereinnahmen und an ausländischer Hilfe wurden hier auf Nimmerwiedersehen versenkt. In die Taschen von Warlords, die sich als Verbündete des Westens zu Politikern erklärt hatten.

„Jetzt sind wir an der Macht“

Abteilungsleiter Ahmad Wali Haqmal lässt keine Zweifel daran, dass diese Zeiten vorbei sind. „Die ganze Welt sagt, dass wir nicht korrupt sind. Von dem Tag an, als wir die Regierungsgeschäfte übernahmen, ist die Korruption auf null gesunken. Unsere Toleranzgrenze für Korruption liegt bei null“, sagt er.
Der untersetzte Enddreißiger mit weißen Gebetskäppchen und langem Bart, scheint selbst noch nicht ganz glauben zu können, wie einfach alles war.

Ja, wir waren sicher, dass wir gewinnen und dass wir eines Tages unsere eigene Regierung haben werden. Aber so schnell? Und jetzt sind wir an der Macht. Vorher hätte niemand von uns gedacht, dass wir mal so wichtige Persönlichkeiten werden würden. Dass jemand wie ich mal Interviews zu geben hätte.

Ahmad Wali Haqmal

Den Exodus von Tausenden gebildeten Afghanen hält Haqmal für die Folge einer vom Westen produzierten Massenhysterie. Alles Panikmache, sagt er. Im Gegenteil: Das Land braucht Fachkräfte. Jeder, der mitarbeiten wolle, sei willkommen.
Ein Taliban am Telefon in seinem Büro.
"Vorher hätte niemand von uns gedacht, dass wir mal so wichtige Persönlichkeiten werden", sagt Ahmad Wali Haqmal.© Deutschlandradio / Marc Thörner
Während des Gesprächs mit dem Taliban Haqmal betrachte ich den ehemaligen Richter Rahmatullah aus den Augenwinkeln. Der sitzt, ohne eine Miene zu verziehen, da. Ganz reduziert auf seine neue Rolle, als Begleiter eines ausländischen Journalisten. Ich kann nur ahnen, was in ihm vorgeht.
Haqmal hat nach eigenen Aussagen in Pakistan und Indien studiert, unter anderem Menschenrechte. In seiner Überzeugung hat ihn das allerdings eher bestärkt, sagt er: „Menschen können nicht alleine ein System hervorbringen, das für alle die Probleme löst. Es ist ein System, das unser Schöpfer gemacht hat. Unser Schöpfer weiß am besten, was für uns gut ist, wozu wir in der Lage sind und wozu nicht, innerhalb der Grenzen unserer Möglichkeiten. Und schon sehr bald, inschallah, werden wir dieses System der Welt vor Augen führen.“

Der Richter ist entsetzt über die Rechtsordnung

„Sie missbrauchen die Suren des heiligen Koran, sie missbrauchen die Hadithe,“ schimpft Rahmatullah in einer kleinen Teestube, in die wir uns nach dem Gespräch zurückziehen. Sein Gesicht versteinerte sich während des Interviews im Ministerium für Finanzen immer mehr. Jetzt scheint aus ihm herauszubrechen, was er heruntergeschluckt hat.

Im Augenblick gibt es kein geltendes Recht. Sie haben sämtliche Gesetze unwirksam gemacht. Stattdessen wollen sie den Koran direkt anwenden – aber das geht so nicht.

Rahmatullah

Körperstrafen, wie im frühen Mittelalter, Folter und Exekutionen versuchen die Taliban als korrekt, als traditionell zu vermitteln. In Wirklichkeit habe das nichts mit Tradition zu tun, sagt Rahmatullah.
Sowohl er als auch sein Bruder Rashid in Deutschland, mit dem er nur noch über WhatsApp verkehren kann, sind der festen Überzeugung, dass die geistigen und ideologischen Führer der Taliban-Regierung aus Pakistan kommen.
Rashid sagte mir vor der Abreise: „Völlig klar – ohne Hilfe aus Pakistan wäre es den Taliban nicht möglich gewesen, Afghanistan unter Kontrolle zu bekommen. Unter den Taliban konnten wir Kämpfer aus Pakistan erkennen, sie sprachen Paschtu und sogar Urdu. Unsere kulturellen und geografischen Eigenheiten waren ihnen fremd. Viele von uns haben mitbekommen, dass pakistanische Ausbilder unter den Taliban waren, als sie die Regierung übernahmen.“

Beide Brüder sind aus dem Leben gerissen

Rashid samt seiner Frau und seinen sieben Kindern sind in Deutschland angekommen, er absolviert einen Deutschkurs, seine Kinder gehen zur Schule. Als Journalist und Medien-Netzwerker kann er in Deutschland wohl nicht mehr weiterarbeiten. Wahrscheinlich wird er, wenn er ausreichend Deutsch spricht, eine der Tätigkeiten annehmen, wie sie Jobcenter für ungelernte Arbeitskräfte anbietet: in der Gastronomie, auf dem Bau.
Aber die Lage für Rahmatullah ist weitaus dramatischer. Als ehemaliger Richter ist er in Gefahr.
In Deutschland hat die Ampelkoalition inzwischen neue Listen für diejenigen in Aussicht gestellt, die sich gezwungen sehen, Afghanistan zu verlassen. Menschen wie Rahmatullah. Ich habe ihm die E-Mail-Adressen gegeben, mit deren Hilfe er sich im Auswärtigen Amt auf die Liste der Bedrohten setzen lassen kann, und er hat alle nötigen Informationen losgeschickt. Vor wiederum nun einem guten halben Jahr. Doch eine Antwort hat er bisher nicht bekommen.
Seine letzte Nachricht schickt er über Whats App: „In Kabul habe ich weder physische Sicherheit, noch kann ich psychisch in Ruhe leben. Das sind die schlimmsten Tage meines Lebens. Ich kann nicht aus dem Haus, ich fühle mich nirgends sicher. Meine einzige Hoffnung, dass ich es irgendwie schaffe, aus diesem Elend rauszukommen.“
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