Heiler in Äthiopien

Altes Wissen gegen Krebs

25:58 Minuten
Der Heiler Tegistu behandelt in Äthiopien einen fünfjährigen Jungen, der an einer Pilzerkrankung leidet. Er hat seine Hand auf dem Kopf des Jungen. Daneben steht dessen Mutter. Im Hintergrund sind Gläser mit Pflanzen.
Der Heiler Tegistu behandelt in Äthiopien seine Patienten mit traditioneller Naturheilkunde. Sie reicht von Wundbehandlungen über innere Medizin bis hin zu spirituellen Ansätzen wie Geistheilung. © Kolja Unger
Von Kolja Unger · 09.03.2022
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Traditionelle Heiler geben in Äthiopien seit Jahrhunderten ihr Wissen über die einzigartige Pflanzenwelt von Generation zu Generation weiter. Ein Pharmakologe verschaffte sich Zugang und schöpft daraus jetzt neue Hoffnung in der Krebsforschung.
Weißer Schorf an mehreren Stellen. Vorsichtig tastet Tegistu die Kopfhaut seines fünfjährigen Patienten ab, während die Mutter danebensteht. Der Heiler in Bluejeans und schwarzem Jackett ist sich sicher: eine wiederkehrende Pilzerkrankung. Tegistu holt drei verschiedene Einmachgläser mit getrockneten Kräutern aus dem Regal hinter seinem Behandlungstisch hervor und mischt sie in einem gerollten Papier zusammen.
Tegistu behandelt seine Patientinnen und Patienten in der kleinen Praxis neben seinem Wohnhaus in Bahir Dar, einer Stadt im Norden Äthiopiens an der Quelle des Blauen Nils. Als traditioneller Heiler ist er Arzt, spiritueller Traditionswahrer, Psychotherapeut, Apotheker und Pharmazeut in Personalunion. Für seine Behandlungen verwendet er Kräuter, die er selbst gesammelt hat.
Auf den Hügeln oberhalb der Stadt, wo es ganz schön windig ist, pflückt er ein Blatt und zerreibt es zwischen seinen Fingern. „Diese Pflanze heißt hier S´gita. Den biologischen Fachterminus kenne ich nicht. Wir nutzen ihre Früchte und Samen gegen von Parasiten verursachte Krankheiten und Durchfall.“

Ein 300 Jahre altes Medizinbuch

Nach dem Abstieg ist Tegistu auf dem nahen Lake Tana unterwegs. Nilpferde beobachten ihn aus dem braunen Wasser. Mit einem Motorboot besucht der Heiler regelmäßig die 20 bis 30 Inseln in Afrikas höchstgelegenem See.
Hier befinden sich nicht nur buntbemalte äthiopisch-orthodoxe Klosteranlagen aus dem 14. Jahrhundert, es gibt auch eine reichhaltige Flora zu entdecken, mit verborgenen Heilkräften, meint Tegistu. „Das hier ist Azoi – sehr reaktiv. Eine mächtige Pflanze gegen verschiedene Krebsarten.“
Das Wissen der Heiler wird weitergegeben von Vater zu Sohn, mündlich und schriftlich. Tegistu holt ein altes Medizinbuch mit einem Holzeinband hervor, das er stets bei sich trägt.
Heiler Tegistu hält ein kleines Buch aufgeklappt in seinen Händen.
Von Generation zu Generation sei dieses 300 Jahre alte Buch mit traditionellem Wissen über die Pflanzen Äthiopiens weitergegeben worden, sagt Heiler Tegistu.© Kolja Unger
Das Buch habe er von seinem Vater erhalten, 300 Jahre sei es alt, beteuert er. Rote alt-äthiopische Lettern auf Pergament. Übersetzt steht da unter anderem das Rezept eines Liebestranks: „Wenn eine Frau sich verliebt, sollte sie Blüten des Roman-Baumes auftragen, wenn sie ihren Liebhaber aufsucht.“

Patientin mit "Bösem Blick"

Zurück in seiner Praxis: Im Wartezimmer hängen neben einem Hyänenfell mehrere bebilderte Tafeln zu verschiedenen Krankheiten. Tegistu gibt einen Überblick über die Philosophie hinter seiner Heilkunst.
Ganzheitliche Naturheilkunde. Sie reicht von Wundbehandlungen über innere Medizin bis hin zu spirituellen Ansätzen wie Geistheilung. Tegistu erzählt von einer Patientin, die am "Bösen Blick" erkrankt in diesen Raum gewankt ist: „Sie wurde bewusstlos und fiel hin. Ich legte sie auf das Hyänenfell und mischte verschiedene Pulver zusammen. Ich befragte sie, was ihr denn fehle. Sie fing an zu weinen und schilderte dann das Problem. Ich fragte nach ihrem Namen. Aber sie sagte ihn nicht. Sie sagte stattdessen den Namen einer bösen Person und meinte: Ich bin Abbaba. Und als Abbaba, schilderte sie mir, was passiert war. Dann gab ich ihr das Pulver zu riechen, sie wachte auf, aber wusste nicht, was mit ihr geschehen war.“
Die traditionellen Heiler Äthiopiens behandeln ihre Patient*innen vor allem in ländlichen Regionen, wo man oft Stunden unterwegs wäre zum nächsten Krankenhaus. Und ihre Behandlungen sind recht günstig. Somit schließen sie eine Versorgungslücke. Und sie sind inzwischen auch organisiert: Viele haben sich in der „Natural Herbal Medicine Organisation“ zusammengeschlossen. Eine Art Bündnis – auch zum Schutz ihres Hunderte Jahre alten Wissens.

Pharmakologe will Naturheilkunde erforschen

Das interessiert auch äthiopische Wissenschaftler wie Solomon Tesfaye, der am Anfang seiner Laufbahn den Heiler Tegistu kontaktiert: „Mein wichtigstes Ziel ist eine gute Ausbildung in der Pharmaforschung. Anhand verschiedener traditioneller Pflanzen aus Äthiopien möchte ich Lösungen für gesundheitliche Probleme finden.“
Der Pharmakologe Solomon Tesfaye ist ein gemütlicher Typ, der auch im Labor unter seinem Kittel Sneaker und Sweatshirt trägt. Selbst auf den lauten Straßen von Addis Abeba umgibt ihn eine Ruhe. Dennoch kann er seine Leidenschaft nicht verbergen, wenn es um die Pflanzen seines Landes geht. Die haben ihn bereits als Kind sehr interessiert:
„Ich wollte neue Entdeckungen machen", erzählt er. "Pflanzen mit Kohle und Asche mischen und herausfinden, wie sie aufeinander reagieren. Damals ging es mir noch nicht so sehr um den medizinischen Nutzen, mehr darum, Sachen in die Luft zu jagen. Das hat mich glücklich gemacht. Ich bin in Addis Abeba aufgewachsen. Und obwohl es eine große Stadt ist, wachsen dort überall Pflanzen, wie die Vernonie, die bittere Scheinaster. Menschen in Äthiopien nutzen ihre Blätter seit Ewigkeiten als Putzmittel. Nun, da ich weiß, dass Vernonien antibakteriell wirksam sind, frage ich mich, wie die Menschen das damals herausbekommen haben.“
Der äthiopische Pharmakologe Solomon Tesfaye trägt ein weißes Polohemd und eine blaue Weste. Er vor einem Gebäude und lacht in die Kamera.
Der äthiopische Pharmakologe Solomon Tesfaye forscht heute am Institut für Pharmazeutische Biologie an der Universität Greifswald zur Bekämpfung von Krebs.© Kolja Unger
Tesfaye hat in Äthiopien und Indien studiert, wo er viel über die traditionelle Heilkunst Ayurveda gelernt hat. Ayurveda bildet einen wichtigen Pfeiler des staatlichen Gesundheitssystems in Indien, vergleichbar mit der traditionellen Chinesischen Medizin.
In Äthiopien ist die traditionelle Heilkunst rechtlich nicht ins Gesundheitssystem integriert. Der Hauptgrund dafür: Sie ist zu wenig erforscht. Das möchte Solomon Tesfaye ändern. Gleichzeitig möchte er aber auch kranke Menschen vor Scharlatanerie und unvorhersehbaren Nebenwirkungen bewahren: „Dieses Wissen wurde über Jahrhunderte hinweg angewendet, um verschiedene Krankheiten zu kurieren. Traditionelle Heiler haben für sich in Anspruch genommen, alle Krankheiten behandeln zu können", sagt er. Es gebe auch einige Zeugnisse von Patientinnen und Patienten, die geheilt werden konnten. "Einige der Kräuter sind allerdings auch bekannt für ihre Genotoxizität – also eine Schädigung des Erbguts von Zellen. Wenn wir jetzt die Praxis der Heiler wissenschaftlich überprüfen, bedeutet das auch, dass wir ihre Patientinnen und Patienten vor möglichen Vergiftungen schützen.“

23 Pflanzen setzen Heiler bei Krebs ein

Und so begleiten Solomon und sein Kollege, der Biologe Melaku Wondafrash, Tegistu und andere Heiler bei ihrer Arbeit. Sie sammeln mit ihnen Heilpflanzen und versuchen, so viel wie möglich über ihre Anwendung zu erfahren. Was recht schwierig sei, erzählt Solomon: „Es war nicht leicht, die traditionellen Heiler zu knacken, um an ihr Wissens über Heilpflanzen und deren Anwendung zu kommen. Die erzählen dir gar nichts. Es ist ihr Geschäftsmodell, ihr Wissen zu schützen.“
Manche Heiler sind bereit, ihm Bruchteile ihres Wissens für eine gewisse Summe zu verkaufen. Es gibt aber auch Heiler wie Tegistu, die sich inhaltlich für Solomons Arbeit interessieren, die in die Wissenschaft und ihre Heilkunst vertrauen und wollen, dass Solomon ihre überlieferten Erkenntnisse validiert und evidente Erklärungen findet: quasi das Beste aus beiden Welten.
Solomons Kollege Melaku Wondafrash ist ein älterer Herr, dessen Rücken und Augen man viele übers Mikroskop gebeugte Jahre ansieht. Er leitet das Herbarium der Universität Addis Abeba. Die Pflanzen-Sammlung befindet sich auf einem Flur mit dem naturkundlichen Museum, bewacht von ausgestopften Hyänen, Warzenschweinen, Raubkatzen und Nilpferden.
Das Herbarium besteht aus Tischen mit Mikroskopen und riesigen Aktenschränken mit gepressten Pflanzen. Hier werden die auf den Exkursionen gesammelten Kräuter klassifiziert und eingeordnet, erklärt Leiter Wondafrash. „Die Einteilung basiert auf Flora-Morphologie – der Gestalt der Pflanzen. Viele Blätter sehen erst einmal gleich aus, also müssen wir mit dem Mikroskop nach den Schlüsseleigenschaften suchen. Um so die Pflanzen zu identifizieren, die Solomon für seine Forschung benötigt.“
Solomon Tesfaye konzentriert sich dabei auf 23 Heilpflanzen aus verschiedenen Landesteilen Äthiopiens, die von den Heilern bei krebsähnlichen Symptomen eingesetzt werden. Hier liegt sein Forschungsschwerpunkt: die toxischen Wirkungen der Pflanzen auf gesunde und auf Krebszellen. Aber zur genauen Untersuchung fehlt es in der Hauptstadt an passenden Laboren: „Es gab keine Einrichtung, um die toxischen Aktivitäten in den Zellen in Addis Abeba zu prüfen.“

Deutsches Labor untersucht äthiopische Pflanzen

Also haben sie die Pflanzen einfach in der Hoffnung gesammelt, sie in besser ausgestatteten Laboren in Europa oder den USA zu untersuchen. Nach vielen Anläufen gelingt ihm dies in Deutschland. Solomon Tesfaye arbeitet inzwischen an der Ostsee – am Institut für Pharmazeutische Biologie an der Universität Greifswald. Mit dem Otto-Bayer-Stipendium untersucht er hier die Wirkung der äthiopischen Heilpflanzen unter Laborbedingungen auf menschliche Zellen.
Unterstützt wird er dabei vom Institutsleiter Sebastian Günther, der sich brennend für Solomons Forschung interessiert. Äthiopien sei in Ostafrika als vermutliche Wiege der Menschheit und einer langen Kultur ohne westlichen Einfluss ein Glücksfall: „Äthiopien war nie ein Land, das kolonisiert worden ist, hat einen riesigen Arzneistoff und hat eine riesengroße Biodiversität", sagt er. "Diese Pflanzen hatten über Jahrmillionen eine Ko-Evolution mit Proteinen von Wirbeltieren. Deshalb ist dieser Ansatz auch so schön, weil er perfekt zeigt – und das ist das interessante und schöne an Solomons Daten: Wir sehen selektive Toxizität. Wir denken, das ist definitiv ein Grund, da weiterzumachen.“
Selektive Toxizität: Das bedeutet, dass die Kräuterextrakte nur bestimmte Zellen angreifen, aber nicht alle. Das birgt die Hoffnung in der Krebstherapie, dass die Kräuter ebenso effizient gegen Krebs sein können, aber weniger Nebenwirkungen verursachen als eine Chemotherapie, die auch gesunde Zellen angreift.

Vielversprechende Tests mit Guinedia

Besonders wirksam ist eine Pflanze, die auch der Heiler Tegistu verwendet, erklärt Solomon: „Die Guinedia. Eine Pflanze, die traditionell in Äthiopien für die Behandlung von Melanomen und Brustkrebs verwendet wird. Wir klären nun die Strukturen auf von neun Komponenten, die wir in der Pflanze als möglicherweise wirksam ausgemacht haben.“
Der Simien Berg in Äthiopien
Der Simien Berg in Äthiopien: Die Natur des Landes birgt zahlreiche medizinische Pflanzen.© picture alliance / Mary Evans Picture Library / Robyn Stewart
Hinter einer Sicherheitstür geht es zum Labor in Greifswald. Hier bringt Solomon die isolierten Guinedia-Extrakte aus Äthiopien mit verschiedenen Zellkulturen zusammen. Die Ergebnisse sind vielversprechend: „Gebärmutterhalskrebs gehört zu den am schnellsten wachsenden Karzinomen. Dennoch, bei Probe 7 sehen wir schon bei 1µg pro ml einen Effekt. Ab 3µg findet kein Wachstum des Tumors mehr statt. Das kann man wohl als sehr potentes Mittel gegen Krebs bezeichnen.“
Dieses Ergebnis stimmt den Pharmakologen sehr hoffnungsvoll. Auch mit Blick auf seine Heimat: In Äthiopien ist nicht nur die Krebsvorsorge schlecht, auch eine ordnungsgemäße Behandlung findet oft nicht statt. Wenn ein Tumor mal rechtzeitig erkannt wird, dann können sich die Patientinnen und Patienten in den meisten Fällen keine Chemotherapie leisten.

Gewinne sollen auch an Heiler gehen

Und der seit November 2020 herrschende Bürgerkrieg im Norden des Landes und die Corona-Pandemie haben zu weiteren ökonomischen und gesundheitlichen Versorgungsengpässen beigetragen. Herkömmliche Krebs-Behandlungen sind in Äthiopien schwer und nur gegen viel Geld erhältlich. Das muss in Zukunft aber nicht zwangsläufig ein Todesurteil für Krebspatient*innen bedeuten, meint Forscher Solomon: „Wenn unser Projekt erfolgreich ist, können wir diese Extrakte für Patienten zugänglich machen, die sich keine Chemotherapie leisten können, oder an welche, die eine Komplementär-Behandlung wünschen.“
Falls sich die neue Krebstherapie aus äthiopischen Pflanzen als erfolgreich herausstellt, bedeutet das aber nicht, dass der Forschungsort – die Uni Greifswald – die Lorbeeren und Tantieme für die Grundlagenforschung, die die Heiler in Äthiopien geleistet haben, alleine einheimst, erklärt Institutsleiter Sebastian Günther: „Wir haben, wenn wir aus einem anderen Land Pflanzenmaterial bekommen, immer das Nagoya-Protokoll zu beachten. Das besagt, dass jeglicher Gewinn immer geteilt werden muss mit dem Ursprungsland und denjenigen Wissenschaftlern, die daran gearbeitet haben.“
Solomon findet, dass ein Teil an den Zusammenschluss der Äthiopischen Heiler gehen sollte. Nur leider ist das nach äthiopischem Recht schwer zu bewerkstelligen. Es fehlt ein Gesetz wie in China oder Indien, das die traditionelle Heilkunde staatlich schützt und eine Ausschüttung sicherstellt. Daher hat Solomon mit den traditionellen Heilern, mit denen er zusammengearbeitet hat, Einzelverträge mit Gewinnbeteiligungen abgeschlossen.
Heiler Tegistu aus der Stadt Bahir Dar – an der Quelle des Blauen Nils – vertraue Doktor Solomon, wie er sagt: „Wenn er Resultate bekommt, bin ich an der Behandlung von Patienten interessiert, die an Krebs leiden. Solomon ist ein guter Mensch. Er wird mich nicht vergessen.“

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