Ästhetik der Koranrezitation

Die heiligen Worte körperlich erfahren

10:26 Minuten
Eine Frau liesst in der Sehitlik Moschee am Columbiadamm in Berlin-Neukölln im Koran. Sie ist schwarz gekleidet, der Teppich in der Moschee ist überwiegend blau.
Gottes Wort eine Stimme geben: Eine Muslima in der Berliner Sehitlik Moschee. © Imago / photothek
Von Julia Ley · 17.05.2020
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Muslime weltweit rezitieren täglich aus dem Koran. Sie folgen damit seit Jahrhunderten dem Propheten Mohammed. Die Rezitationskunst zu erlernen, ist harte Arbeit – vor allem für Muslime, die erst noch Arabisch lernen müssen.
Die Frauen, die hier den Koran rezitieren, heißen Sabine, Hanna, Lara. Alle drei sind in Ostdeutschland aufgewachsen und in ihren Zwanzigern zum Islam konvertiert. Einmal in der Woche treffen sich die drei Frauen, um gemeinsam den Koran auf Arabisch zu lesen und an ihrer Aussprache zu arbeiten. Diesmal sitzen sie in einem Raum in der Stadtbibliothek in Berlin-Wedding. Sabine, die älteste der drei, erklärt mit einem Koran in der Hand, wie eine Stelle richtig auszusprechen ist:
"Suduri-n-nas, ja: Nas ist der Mensch, und hier steht eigentlich richtig suduri-an-nas, aber das würde jetzt sperrig klingen, also ist hier eine Schleife quasi zu, aber hier ist es offen, das Häkchen, und hier ist es zu, und wir gehen gleich zum nun, also suduri-n-nas."

Der Koran will laut gelesen werden

Für viele Muslime ist das laute Vortragen des Korans zentraler Aspekt ihrer Glaubenspraxis. Fragt man Ömer Aslan, Dozent für die Kunst der Koranrezitation an der Goethe Universität Frankfurt, warum das so wichtig ist, dann antwortet er – ganz klassisch – mit dem Koran selbst:
"In Sure 73, Vers 4 steht - die ungefähre Bedeutung lese ich Ihnen mal vor: 'Und trage den Koran langsam und deutlich vor, indem du Geist und Seele darauf ausrichtest'. Also, das ist quasi ein Appell an alle Muslime, den Koran zu rezitieren und auch korrekt zu rezitieren."
Porträt von Ömer Aslan, Dozent für die Kunst der Koranrezitation an der Goethe Universität Frankfurt, im weißen Hemd und mit weißem Turban vor einem Mikrofon sitzend
Ansprache von Geist und Seele: Der Koran selbst enthält die Aufforderung, bewusst und laut zu lesen, sagt Ömer Aslan, der Koranrezitation an der Goethe Universität Frankfurt lehrt.© privat
Doch nicht nur, weil der Koran selbst sie dazu auffordert, rezitieren Muslime die Suren, sondern auch, weil sie damit dem Beispiel ihres Propheten folgen. Muhammad selbst konnte vielen Überlieferungen zufolge weder schreiben noch lesen. Als er im Alter von etwa 40 Jahren die erste Offenbarung empfing, gab er diese deshalb mündlich weiter.

Bemühen um korrekte Aussprache

Für die ersten Muslime war der Koran also vor allem ein akustisches Erleben: Sie lasen das Wort Gottes nicht, sie hörten es. Und sie gaben sich große Mühe, jede Sure, die offenbart wurde, perfekt auswendig zu lernen, um das Wort Gottes nicht aus Versehen zu verfälschen. Aus demselben Grund bemühen sich auch Sabine, Lara und Hanna, das koranische Arabisch möglichst korrekt auszusprechen.
"Wenn man total daneben liegt, kann das auch die Bedeutung verändern", erklärt Lara. "Das Wichtigste ist ja, wenn man heute den Koran liest, dass es dasselbe ist wie vor 500 Jahren. Dass es auch in seiner Überlieferung das Gleiche bleibt."
Es ist keine leichte Aufgabe: 28 Buchstaben hat das arabische Alphabet. Und viele davon klingen für deutsche Ohren durchaus ähnlich. "Es gibt Buchstaben, die werde ich nie im Leben richtig aussprechen, wie es jemand aussprechen kann", sagt Lara. "Dieses berühmte Ain, Rain und dann diese ganzen Tha- und Da- und Za-Laute."

Strenge Regeln für die Rezitation

Erst wenn sie das arabische Alphabet beherrschen, beginnen Muslime die komplizierten Tajwīd-Regeln zu erlernen: Welcher Buchstabe wo im Mund geformt wird, welche Buchstaben beim Rezitieren verlängert werden und wo eine Pause eingelegt werden soll. Ömer Aslan erklärt:
"Die Tajwīd-Wissenschaft, wo man halt bestimmte Regeln beachten muss, die ist eigentlich später entstanden. Zu der Zeit des Propheten gab es das nicht. Zu der Zeit des Propheten gab es keine Video- und Audioaufnahmen. Da es damals diese Medien nicht gab, hat man versucht, über die mündliche Überlieferung Regeln aufzustellen, um die Rezitation zu vereinfachen – quasi genauso es nachzuahmen, wie der Prophet es gemacht hat."
Aslan selbst hat jahrelang bei verschiedenen Lehrern studiert. Seine "Ijāza" – also Lehrbefugnis – erhielt er schließlich von einem ägyptischen Rezitator. Auf der Bescheinigung ist die komplette Überlieferungskette der Rezitatoren namentlich aufgeführt: Die Liste reicht zurück bis zum Propheten Mohammed. Sie gilt als Beleg dafür, dass sein Wissen authentisch ist.

Die Sprache soll spirituelle Kraft haben

In der islamischen Tradition gilt schon allein die Schönheit der koranischen Sprache als Gottesbeweis. Denn welcher irdische Dichter hätte solch einen Text erschaffen können? Die islamische Tradition ist voll von Überlieferungen, in denen Menschen allein aufgrund der sprachlichen Schönheit des Korans zum Islam konvertierten.
Nun ist die Schönheit des koranischen Arabisch für Nicht-Muttersprachler schwer nachzuvollziehen. Doch es gehört auch heute noch zur Mystik des Islams, dass dem Koran eine spirituelle Kraft zugeschrieben wird, die über die reine Verstandesebene hinausgeht.
"Ich war auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer in Hanau, ich habe da auch eine Rezitation gemacht", berichtet Ömer Aslan. "Es war erstaunlich: Nach der Rezitation kamen Deutsche auf mich zu und sagten, obwohl sie jetzt gar nichts verstanden haben, haben sie Gänsehaut bekommen, weil einfach die Töne sie so tief im Herzen getroffen haben."

Konvertiert, weil sie den Koran gehört hatte

Auch Sabine, die älteste der drei Konvertitinnen in Berlin, sagt, sie habe über die Schönheit der Rezitation zum Islam gefunden:
"Ich habe das gehört in einem Studentenheim, von ganz ferne. Und ich habe gedacht, das ist wie ein Magnet, was mich zieht. Das ging mir durch alle Blutadern, und ich wusste überhaupt nicht die Bedeutung, ich wusste nicht mal, was das ist."
Jahre später, als die Mauer bereits gefallen war, besorgte sie sich Kassetten, um den Koran zu hören. Eine Sure hatte es ihr besonders angetan. Wieder und wieder spielte sie die Stelle ab – und beschloss dann zu konvertieren. Seither gehört das Koranlesen zu ihrem Alltag, erzählt Sabine:
"Wenn wir dieses Rezitieren lernen, lernen wir nicht gleich die Sprache automatisch. Wir lernen aber, einzelne Wörter zu entziffern. Und dann hat man ja immer die Übersetzung dabei – was heißt 'man', ich weiß nicht, wie es andere machen. Aber wenn ich etwas rezitiere im Gebet, dann möchte ich gerne wissen, was ich da sage, ja, und insofern lern ich natürlich die Bedeutung gleich mit."

Wettbewerbe um den besten Vortrag

Mindestens fünf Mal am Tag, in jedem Gebet, rezitieren Muslime Verse aus dem Koran. Die Koranrezitation gehört also zu den Grundkompetenzen. Zugleich ist sie mittlerweile auch eine Art Sport. Weltweit werden Koran-Rezitier-Wettbewerbe veranstaltet, teilweise mit mehreren Tausend Teilnehmern. 2019 etwa schrieb Saudi-Arabien einen globalen Online-Wettbewerb aus. Der erste Preis: Fünf Millionen Riyal – mehr als eine Million Euro.
Die drei Frauen in Berlin können mit so offen zur Schau gestellter Spiritualität nur wenig anfangen:
"Man soll es ja um Gottes Willen rezitieren", betont Sabine. "Es wird ja immer davor gewarnt, die Gelehrten, dieses englische Word ‚showing off‘ – also nur zu rezitieren, damit die Menschen sagen, guck mal, was er für eine schöne Stimme hat. Wenn er es nicht um Gottes Willen tut, dann soll er es lassen."

Nicht alle Verse sind schön

Nichtmuslimen, die eine Koranrezitation hören, fällt oft die musikalische Ästhetik auf. Doch wie in allen religiösen Texten gibt es auch im Koran Stellen, die sich nicht nur mit Schönem befassen: Es geht um Höllenqualen, um das Ende der Welt – und manchmal auch um Gewalt. Wie rezitiert man solche Stellen? Ömer Aslan meint:
"Auch wenn es schwierige Textpassagen gibt im Koran, auch wenn man jetzt Laie und der arabischen Sprache nicht mächtig ist, hat man ja immer die Möglichkeit, zuerst in die ungefähre Bedeutung reinzuschauen. Und darüber hinaus kann man dann natürlich in der Koranexegese auch detailliert schauen, in welchem Kontext eine Sure herabgesandt worden ist."
Wer eine Sure im Kontext der Offenbarung liest, für den stellt sie sich manchmal ganz anders dar als beim ersten, oberflächlichen Lesen. In der Praxis falle es ihm deshalb nicht schwer, auch schwierige Passagen zu rezitieren, sagt Aslan.

Koranrezitation gilt nicht als Musik

Die intensive Beschäftigung mit dem Koran und ein gewisses musikalisches Können sind also zentral für eine gute Rezitation. Und dennoch hatten – und haben – manche islamische Gelehrte ein eher angespanntes Verhältnis zur Musik. So schrieb schon im 9. Jahrhundert der Gelehrte Imam Shafi’i:
"Das Singen ist eine Spielart, die verpönt ist und dem ähnelt, was falsch ist; wer sich viel damit beschäftigt, hat nur geringe Kenntnis und daher sollst Du seine Bekundungen zurückweisen."
Auch heute noch gibt es Strömungen im Islam – darunter Hardliner in Saudi-Arabien oder im Iran – die Musik als grundsätzlich verboten ablehnen. Andere Gelehrte wie der berühmte Theologe al Ghazali im 12. Jahrhundert hatten dazu eine andere Meinung:
"Die Musik hat die Kraft, den Glauben zu intensivieren. Das heißt, wenn im Herzen Glauben ist, dann kann die Musik das in die Höhe treiben."

Ein langer Weg zum geglückten Vortrag

Eben weil Musik unter Muslimen verschiedener Glaubensrichtungen noch immer umstritten ist, ist es wichtig, dass die Koranrezitation nicht als Musik zählt. Bis heute ist es deshalb nicht üblich, die Koranrezitation mit Instrumenten begleiten zu lassen. Im Fokus soll allein die Schönheit der Sprache stehen. Und die Kunst des Rezitators.
Es ist eine Kunst, die Profis wie Ömer Aslan jahrelang studieren. Auch für Sabine, Hanna und Lara ist der Weg bis heute manchmal beschwerlich – aber oft auch sehr beglückend.
"Ich hab das Gefühl, dass ich da schon noch weit weg bin", sagt Lara. "Ich hab immer noch dieses Jubelgefühl, wenn ich ein Wort verstehe: Ja, das habe ich gut gemacht! - Aber dann, die nächsten zehn Wörter versteh ich wieder nicht und denke so: Mist! Und das ist halt so, da will ich immer noch weiterarbeiten. Also, es ist eine Straße, die geht nie zu Ende."
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