Adorno und Bloch über Utopien

Inseln im Meer des Möglichen

24:53 Minuten
Illustration einer tropischen Insel aus dem Jahr 1800.
Ein besseres Leben an fernen Gestaden? - Thomas Morus, englischer Philosoph und Staatsmann der Renaissance, verortete seine fiktive Insel "Utopia" in der Südsee. © Getty Images / ClassicStock / Charles Phelps Cushing
Moderation: Catherine Newmark · 26.12.2021
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"Ach, das ist doch utopisch!" – Ist dieser Satz Ausdruck einer Zeit, die jede Hoffnung auf eine bessere Welt längst aufgegeben hat? Schon 1964 debattierten die Philosophen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch über die Chancen der Utopie in der Moderne.
In jeder Utopie steckt die Gefahr, enttäuscht zu werden. So sieht es Theodor W. Adorno, der Philosoph der Kritischen Theorie, in einer Radiodiskussion im Mai 1964: Fernsehen, Flüge ins All, Fortbewegung schneller als der Schall, all diese utopischen Träume hätten sich mittlerweile erfüllt und dabei doch "in ihrer Verwirklichung einen eigentümlichen Charakter der Ernüchterung und der Langeweile angenommen". Es komme ihm vor, "wie wenn dabei das Beste vergessen worden wäre", sagt Adorno.

Die Utopie als "Wolkenkuckucksheim"

Viele Utopien seien letztlich nicht erfüllt worden, "sondern banalisiert durch die Erfüllung", meint auch Ernst Bloch, der Autor des philosophischen Klassikers "Das Prinzip Hoffnung". Mit Skepsis, ob sie sich überhaupt verwirklichen ließen, hätten Utopien im Übrigen schon lange zu kämpfen gehabt. Der Slogan "Das ist nur eine Utopie!", mit dem alternative Gesellschaftsentwürfe "als Wolkenkuckucksheim, als Wishful Thinking, Träumerei" abgetan würden, sei sehr alt, sagt Bloch.
Porträt des Philosophen Ernst Bloch mit Pfeife, ca.1970.
"Sehnsucht ist die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen": Ernst Bloch, Philosoph des "Prinzips Hoffnung".© Getty Images / ullstein
Der Rückblick in die Geschichte der Utopien zeige, dass die Szenarien eines anderen, besseren Lebens zunächst auf entlegene Orte projiziert worden seien ("u-topos" = nirgendwo). Thomas Morus etwa habe die Anfang des 16. Jahrhunderts von ihm ersonnene Insel "Utopia" in die ferne Südsee verlegt. Gesellschaftsdenker des 18. und 19. Jahrhunderts wie Henri de Saint-Simon oder Charles Fourier dagegen siedelten ihre Utopien in der Zukunft an.

Anlass zur Hoffnung

"Es ist ein Wandel des Topos aus dem Raum in die Zeit", erklärt Bloch, und gerade deshalb Anlass zur Hoffnung. Denn Utopien an abgelegenen Orten sorgten für Frust durch Unerreichbarkeit: "Es ist fertig auf einer fernen Insel, nur ich bin nicht dort." Eine Insel in einer ungewissen Zukunft dagegen existiere zwar nicht, "aber sie ist nicht etwa Nonsens oder schlechthin Schwärmerei, sondern sie ist 'noch nicht', im Sinn einer Möglichkeit, dass es sie geben könnte – wenn wir etwas dafür tun", sagt Bloch.

Indem wir hinfahren, hebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen.

Ernst Bloch

Adorno beobachtet indessen eine "seltsame Schrumpfung des utopischen Bewusstseins". Während einzelne technische Innovationen den Eindruck eingelöster Utopien erwecken könnten, sei jede Aussicht auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen in weite Ferne gerückt. Denn die Fähigkeit, sich überhaupt vorzustellen, dass dieses Ganze auch ganz anders sein könnte, sei den Menschen völlig abhandengekommen.

Verhärtete Apparatur

Obwohl ihnen im Innersten bewusst sei, dass sie "nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst" leben könnten, "sondern auch als Freie", glaubten die Menschen nicht an Veränderung, so Adorno. Die "gesellschaftliche Apparatur" habe sich weltweit "so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmöglich präsentiert". Jedes utopische Denken werde damit im Keim erstickt, und die Menschen fingen sogar an, die Utopie wider besseres Wissen abzuwerten.
Theodor W. Adorno, im hellgrauen Sakko, mit weißem Hemd und dunkler Krawatte, schaut konzentriert auf ein Blatt Papier und schreibt.
Unfähig, das ganz andere zu denken: Theodor W. Adorno registriert bei seinen Zeitgenossen eine "Schrumpfung des utopischen Bewusstseins".© imago/Leemage

Heute sagen die Menschen universal das, was in harmloseren Zeiten wohl nur ausgepichten Spießbürgern vorbehalten war: "Ach, das sind ja Utopien!" – "Ach, das ist ja nur im Schlaraffenland möglich!"

Theodor W. Adorno

Lange Zeit zielten Utopien ausschließlich auf das größtmögliche soziale Glück, auf eine gerechtere Gesellschaft ab, sagt Ernst Bloch, was auch immer im Einzelnen darunter verstanden wurde. Auf Thomas Morus' Insel Utopia gehe es besonders liberal zu: ein Gegenentwurf zum aufstrebenden englischen Imperialismus seiner Zeit. Der italienische Philosoph Tommaso Campanella habe mit seinem "Sonnenstaat" hingegen ein Modell größtmöglicher Ordnung entworfen.

Sehnsucht als menschliche Konstante

"Es ändern sich die Inhalte", sagt Bloch, generell strebten die Sozialutopien einen Zustand an, "in dem es keine Mühseligen und Beladenen gibt", die Vorstellung eines Naturrechts wiederum sei "Konstruktion eines Zustands, in dem es keine Erniedrigten und Beleidigten gibt". Aber von allen Inhalten einmal abgesehen zeige sich, "dass die Sehnsucht die durchgehende und vor allen Dingen die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen ist."
Bloch schließt sich daher mit Nachdruck einem Urteil von Oscar Wilde an: "Eine Karte der Welt verdient nicht einmal einen Blick, wenn das Land Utopia auf ihr fehlt."

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