Adipositas

Wie sich Stigmatisierung auf die medizinische Behandlung auswirkt

28:12 Minuten
Rücken eines Jungen. Ein Mediziner betastet diesen.
Übergewichtige Menschen machen häufig negative Erfahrungen, wenn sie zum Arzt gehen. © imago images / Panthermedia / Wellphoto
Von Pia Rauschenberger · 06.02.2020
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Wer etwas mehr wiegt, wird von Ärzten oft darauf angesprochen – häufig in ziemlich diskriminierender Weise. Neue Studien zeigen außerdem, dass Menschen mit Adipositas im Gesundheitssystem benachteiligt werden. Und das mit gravierenden Folgen.
"Der Arzt fragte mich, da war ich sechs Jahre alt zu dem Zeitpunkt, fragte mich auf meinen Bauch guckend, ob ich schwanger sei. Und das waren schon Momente, wo ich dachte, irgendwas stimmt hier so nicht mit mir."
"Damals hatte ich auch mal einen Termin bei einem Arzt oder so. Da hat er auch gemeint: Sie müssen ja auch mal abnehmen. Er hat wirklich gesagt: Sie sind eindeutig zu fett."
"Es gibt auch Beispiele, dass bei Menschen tatsächlich Tumore nicht entdeckt wurden, die zum Teil schwere Tumore mit sich herumgetragen haben, weil sie nicht richtig untersucht wurden, und auch, weil ein gewisser Ekel vor dem Körperfett besteht. Man möchte sich nicht näher damit auseinandersetzen, sich das gar nicht anschauen."
"Ich hatte ein Rückenleiden, bin zum Arzt. Ein Hexenschuss am unteren Wirbel. Bin zum Arzt und er wollte mich also auch gar nicht krankschreiben, wollte mir keine Medikamente geben. Meine Freundin, sehr, sehr schlank, war bei dem gleichen Arzt, einige Tage später. Wir hatten uns da offensichtlich mit unserem Hexenschuss abgesprochen. Sie ist sehr schlank und sie hat eine ganz andere Behandlung erfahren als ich. Sie wurde untersucht. Ihr wurde zugehört. Sie hat Schmerzmittel bekommen, sie ist krankgeschrieben worden."

Ein Ringen mit Vorurteilen und Schönheitsidealen

Die Bloggerin Journelle lebt in Hamburg und ist übergewichtig. Wie viel sie genau wiegt, weiß sie nicht. Irgendwann waren es mal 90 Kilo. Sie hat jahrelange Diätprogramme hinter sich: ein zähes Ringen mit dem eigenen Körper, mit dem Schönheitsideal unserer Gesellschaft und – so wird es zumindest landläufig angenommen – mit der eigenen Gesundheit. Von Ärzten wird Journelle daher immer wieder auf ihr Gewicht angesprochen. Ganz unvermittelt.
"Das war eine gynäkologische Vorsorgeuntersuchung. Sie rechnet meinen BMI aus. Ich hatte sie auch nicht darum gebeten, sondern sie fragt mich, wie viel ich wiege und wie groß ich bin und dann sagt sie, das ist aber ein BMI, der ist gefährlich."
Wie Übergewicht sozial konstruiert wird, zeigt sich am BMI. Der Body-Mass-Index ist ein rein statistisches Maß aus dem 19. Jahrhundert. Jahrzehntelang schlummerte er in Vergessenheit; bis 1998, als sich die Weltgesundheitsorganisation den BMI vornimmt. Sie legt konkrete Grenzwerte fest, die bis heute bestimmen, ab wann Menschen als übergewichtig gelten. Von einem Tag auf den anderen werden dicke Menschen zu Problemfällen.

Der Body-Mass-Index: ein willkürlicher und ungenauer Wert

"Das hat auch dazu geführt, dass in den USA, wo zuvor noch etwas laxere BMI-Werte gab, dass die dann angepasst wurden, dass über Nacht 35 Millionen US-Amerikaner, die davor normalgewichtig waren, übergewichtig wurden durch diese Senkung."
Friedrich Schorb forscht zu Gesundheitswesen an der Universität Bremen. Menschen mit einem Body-Mass-Index über 25 gelten als übergewichtig – solche mit einem Wert über 30 als adipös, also fettleibig.
"Das führt dazu, dass wir heute davon sprechen, dass in fast allen westlichen Industrieländern, die Mehrheit der Bevölkerung tatsächlich mindestens übergewichtig ist, also eigentlich in eine Risikokategorie fällt, obwohl die Lebenserwartung ja kontinuierlich angestiegen ist."
"Es gibt eine größere Literatur dazu in der Tat, dass der BMI nicht so gut geeignet ist in vielen Fällen, weil er nicht zwischen Fett und Muskelmasse oder überhaupt anderer Masse unterscheidet. Und dann kann es sein, dass Sie ein Hochleistungssportler sind, ein Diskuswerfer oder Gewichtheber, und praktisch nur aus Muskeln bestehen, aber trotzdem einen BMI haben, der sie als hoch adipös klassifizieren würde, irgendwo um die 40 herum beispielsweise."
Mathias Gerl will eine bessere Methode entwickeln: Algorithmen, die Krankheiten genauer vorhersagen. Er identifiziert Lipidmoleküle, die wesentlich mehr Informationen über Adipositas enthalten als der BMI. An diesem Verfahren arbeiten Wissenschaftler der Universität Dresden zusammen mit der Lipotype GmbH, einer Ausgründung des Max-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik.
"Was Lipotype macht, kennen Sie von dem, was Sie auf Ihrer Öl-Flasche haben. Sie nehmen Ihre Flasche Olivenöl, schauen da drauf und sehen: Da ist so und so viel Fett enthalten – und es enthält so viel gesättigtes Fett und so viel ungesättigtes Fett. Das ist eine relativ grobe Art und Weise, wie man die Fette, die auch Lipide sind, klassifizieren kann. Das heißt, wie ungesättigt dieses Fett ist. Oder Sie haben bestimmt auch schon gehört, dass es eben Omega-3- oder Omega-6-Fettsäuren gibt. Und das – noch in einer größeren Komplexität – ist das, was wir bei Lipotype messen. Das heißt, wir messen letztendlich Lipide, Moleküle und deren Zusammensetzung."
Der Lipidomik-BMI zeigt zum Beispiel, wie groß die Menge des viszeralen Fettgewebes ist. Das ist eine Form von gesundheitsschädlichem Fett. So können die Wissenschaftler präziser ermitteln, wer später an Herzkrankheiten leiden wird, um zum Beispiel Herzinfarkten vorzubeugen. Solche Verfahren erfordern aber komplizierte Technik. Es ist noch ein langer Weg, bis sie bei Hausärzten einsetzbar sind. Sie werden aber gebraucht, weil Fettleibigkeit tatsächlich gefährlich für die Gesundheit sein kann.

Wie ungesund ist Übergewicht wirklich?

Laut einer Studie der OECD vom Oktober 2019 werden viele Menschen an ihrem Übergewicht oder dessen Folgen sterben. In den nächsten 30 Jahren mehr als 90 Millionen – und das nur in den Industrie- und Schwellenländern.
In Deutschland, wie in den meisten OECD-Ländern, ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig.
Veronika Hollenrieder ist Internistin und arbeitet am ambulanten Diabeteszentrum in München-Unterhaching. Sie ist tagtäglich mit den Folgen der Adipositas konfrontiert.
"Klar ist: Adipositas ist ein Problem für die Gelenke. Jedes Gelenk leidet unter dieser Last, die es jeden Tag mit sich herumschleppen muss. Klar ist auch: Adipositas ist ein Risikofaktor für Stoffwechselstörungen wie zum Beispiel Diabetes."
Gelenkprobleme, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, selbst im Gehirn zeigen sich die Folgen der Adipositas.
"Im Alter, ich würde jetzt nur mal über Probanden oder Patienten sprechen, die älter sind als 60 Jahre, ist ein höherer Body-Mass-Index mit einem reduzierten Volumen der grauen Substanz korreliert und auch mit einer Veränderung in der Mikrostruktur der weißen Substanz."
Frauke Beyer forscht am Max-Planck-Institut in Leipzig zu Demenz. Bisher deuten Studienergebnisse darauf hin, dass Adipositas Demenz begünstigt.
"Querschnittsstudien und aber auch Längsschnittsstudien konnten das auch für gewisse Regionen wie zum Beispiel den Hippocampus bestätigen, dass ein höherer BMI mit stärkerer Abnahme des Volumens dieser Region assoziiert ist. Das Hippocampus-Volumen kann man als ein Indikator sehen für die Gedächtnisleistung und eben auch als eine Region, wo man in der Alzheimer-Demenz eine starke Volumenreduktion sieht."

Alarmismus bezüglich Adipositas

Laut der OECD-Studie werden in Deutschland in den nächsten 30 Jahren elf Prozent der Gesundheitsausgaben für Krankheiten verwendet, die mit Übergewicht zusammenhängen. Die Daten zeigen, dass jeder Dollar, der für die Prävention von Adipositas ausgegeben wird, sich sechsfach auszahlt. Eine Säule der Präventionsarbeit, die die OECD vorschlägt, ist Werbung für Sport und Bewegung. Das liegt in der Hand des Gesundheitsministeriums.
In Belgien ist seit fünf Jahren eine übergewichtige Frau Gesundheitsministerin. Als sie 2014 ihr Amt als Gesundheitsministerin antritt, wird in den USA gerade Michelle Obamas Anti-Adipositas-Kampagne kritisiert und als großer Misserfolg bezeichnet, da es immer noch so viele übergewichtige Kinder gibt.
Die belgische Gesundheitsministerin Maggie De Block während einer Parlamentsdebatte.
Musste sich einer öffentlichen Debatte über ihr Körpergewicht stellen: die belgische Gesundheitsministerin Maggie De Block.© picture alliance / Belga / Nicolas Maeterlinck
In Europa ist laut Eurostat vor fünf Jahren schon nahezu jede sechste Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, adipös. Überall schrillen die Alarmsignale, wenn es um Adipositas und Übergewicht geht. Dicksein wird als schleichende Bedrohung für die Bevölkerung dargestellt und mit Viruserkrankungen verglichen. Die damalige Ernährungsministerin Renate Künast schreibt 2004 in ihrem Buch "Die Dickmacher: Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen":
"Wir verfetten langsam, aber sicher. Genau das Schleichende jedoch ist das große Problem, auch bei der öffentlichen Wahrnehmung. Die Bäuche haben sich allmählich in unseren Alltag gedrängt. Inzwischen verursacht die Fehlernährung allein in Deutschland 70 Milliarden Euro Folgekosten im Jahr. Was wäre wohl los, wenn ein Virus oder eine Tierkrankheit derartige Schäden anrichtete?"
Als Maggie de Block ihr Amt antritt, diskutieren Menschen in Belgien öffentlich, ob eine übergewichtige Frau Gesundheitsministerin werden soll.

Scham und Schuldzuweisungen

Dicke Menschen seien selbst schuld an ihrem Übergewicht – ein gängiges Vorurteil. Auch diverse Anti-Adipositas-Kampagnen tragen dazu bei.
"In Australien, da gab es einen Clip, wo gezeigt wird, wie ein ziemlich beleibter Mann nachts die Kühlschranktür aufmacht und sich so ein Stück Pizza holt und dann überlegt er kurz. Und dann sieht man so einen Clip, wie in seinem Magen da Fett rumwabbelt, und das sieht irgendwie gar nicht schön aus. So ein Ekeleffekt wird da erzeugt mit optischen Mitteln. Und dann macht er die Kühlschranktür wieder zu."
Solche Furcht-Appell-Botschaften seien nicht sinnvoll, sondern lösten eher Stress aus auf Seite der Betroffenen, sagt Schorb.
"Und es führt natürlich auch zu einer stärkeren Schuldzuweisung an die Menschen mit einem hohen Körpergewicht. Weil es nahelegt, das sind die Menschen, die sich nachts den Bauch vollstopfen, die so dick sind und deswegen auch so hohe Kosten im Gesundheitswesen verursachen."

Dabei sind sich Experten einig: Übergewicht und Adipositas haben vielfältige Ursachen. Marie Bernard forscht in Leipzig und Gera zu Adipositas und wie Menschen mit Übergewicht wahrgenommen werden.
Michelle Obama am 5. Februar 2015 in der West Side High School in New York.
Michelle Obama im Jahr 2015. Die damalige First Lady unterstützte Kampagnen gegen Fettleibigkeit bei Kindern.© picture alliance / AP Images / Andrew Burton
"Adipositas ist keine selbstverschuldete Erkrankung. Da spielen zahlreiche Faktoren ein, die Adipositas begünstigen, wie beispielsweise die Genetik, Stress, Schlafstörungen, psychische Erkrankungen, die adipogene Umwelt, in der wir leben, in der zu jeder Zeit Hohe-Kalorie-Lebensmittel immer verfügbar sind und quasi an jeder Ecke erworben werden können. All das spielt rein."

Unterschiedlichste Diäten und Ernährungsprogramme

"Ich habe, als ich hier nach Frankfurt gekommen bin, habe ich 85 Kilo gewogen, war jetzt auch nicht für meine Größe Idealgewicht. Ich habe halt immer ein bisschen mehr auf den Rippen gehabt."
Mandy bleibt lieber nur bei ihrem Vornamen, obwohl sie nicht schüchtern ist. "Wer nicht hinter mir steht, steht mir im Weg", hat sie in ihr Profil in einem Chat-Dienst geschrieben. Als Kind isst sie gerne und wenn sie sich große Portionen nimmt, mahnen ihre Eltern sie, diese auch aufzuessen. Nach der Schule zieht sie nach Frankfurt an der Oder, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen. Sie wohnt das erste Mal alleine und nimmt zu.
"Dann sind 30 Kilo dazugekommen, da waren es dann 110, und durch die Schwangerschaft war ein Spitzenwert bei 130, und dann fühlt man sich auch nicht mehr wohl, und dann gucken andere. Wenn man dann mit dem Kind irgendwo spazieren geht oder in irgendeinen Freizeitpark möchte, muss man erst gucken, ob man überhaupt in den Sitz rein passt. Oder: Dieses Jahr waren wir zum Geburtstag von meinem Sohn bei myjump. Da konnte ich nicht mit hopsen, weil: Ich war zu schwer. Und das ist natürlich... Da hätte ich heulen können, stand dann daneben, konnte nicht mitmachen, konnte nur zugucken. Das war nicht schön."
Mandy versucht abzunehmen. Immer wieder probiert sie Diäten und Ernährungsprogramme aus.
"Ich habe hier diverse Sachen aus Zeitschriften, Brigitte-Diät oder Kohl-Diät. Ich habe FDH – friss die Hälfte – gemacht. Aber das hält man auf Dauer irgendwann nicht durch. Irgendwann kommt dann der Heißhunger. Ich habe auch dieses Programm gemacht gehabt. Vor sieben Jahren, dieses Ten Week Body Change. Da habe ich in 16 Wochen 20 Kilo abgenommen. Aber irgendwann, da hatten wir dann auch einen kleinen Vorfall in der Familie. Und dann war mein Mann überhaupt froh, dass ich überhaupt was gegessen habe. Dann bin ich natürlich wieder in das alte Schema gefallen, hab dann wieder normal angefangen zu essen, was für mich normal war. Und dann gingen die Kilos auch wieder hoch. Und dann sagt man: Bringt alles nichts mehr. Dann fängt man wieder ganz normal an zu essen aus Frust. Und dann kommen die Kilos wieder."
Frauenzeitschriften in einem Zeitungskiosk.
Frauenzeitschriften gibt es wie Sand am Meer. Tipps zum "perfekten Körper" darin auch.© picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Irgendwann hört Mandy von einer Kollegin, die sich operieren lässt, um abzunehmen.
"Dicke Menschen weichen ab von einer Norm, die alle Mitglieder der Gesellschaft verinnerlicht haben. Sie verweigern sich dieser Norm oder werden zumindest so gelesen."

Der fügsame und gelehrige Körper

"Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper."
Für den französischen Philosoph Michel Foucault ist das die logische Folge einer Machttechnologie, die sich auf das Leben und den individuellen Körper richtet – die "Normalisierungsgesellschaft".
Menschen disziplinieren sich selbst, formen ihre Körper nach einem Idealbild. Die Selbst- und Fremdkontrolle erfolgt über die Blicke der anderen, die auffordern, sich anzupassen. Diäten, Schönheitspraktiken und Fitnesskurse – darin zeigen sich die Machttechniken dieser Biopolitik.
"Ich glaube, das hängt auch mit dem Idealbild zusammen. In der Schule bin ich auch gehänselt worden. Deutsche Panzer rollen wieder und solche Sachen. Im Inneren ist es dann schon eine Verletzung, und ich denke mir schon, dass ich dann auch ab und zu einfach aus Frust gegessen habe und das dann in mich rein gefressen habe."
Übergewichtige Menschen werden nicht nur im persönlichen Umfeld diskriminiert. Ganz besonders häufig machen sie negative Erfahrungen, wenn sie zum Arzt gehen. Gesundheitswissenschaftler Friedrich Schorb:
"2016 gab es eine große Erhebung, und da gab es die Kategorien, die bereits im Antidiskriminierungsgesetz verankert sind, also Alter, Ethnie, Religion, Geschlecht, Behinderung. Da gab es eine freie Kategorie, und da wurde mit Abstand am häufigsten, die mit Abstand am häufigsten Nennung in der freien Kategorie war Gewicht und fast alle Beispiele, die genannt wurden in dieser Studie, kamen aus dem Gesundheitsbereich."
Natalie Rosenke engagiert sich bei der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Sie hat viele solcher Geschichten gehört.
"Das war ein Fall einer dicken Frau, die bei einer Hausärztin war, und es ging um die Vorbereitung einer Operation, einer Tumorentfernung. Und wo die Hausärztin dann wirklich sagte: Naja, Glück im Unglück. Wenn es wie bei Ihnen auf die Ästhetik nicht ankommt, kann ja zum Glück großflächig geschnitten werden."

Diskriminierung beim Arzt

"Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass Menschen mit Adipositas zum einen wiedergaben, dass sie sich von Ärzten nicht ernst genommen gefühlt haben, dass oftmals die Einschätzung war: Nehmen Sie einfach ab, dann wird alles wieder gut, und dass sie eben nicht gut genug untersucht worden sind. Das haben zahlreiche Studien gezeigt. Und wir wollten einfach wissen, inwieweit denn auch die Normalbevölkerung im Gesundheitssystem diese Diskriminierung beziehungsweise Stigmatisierung auch weiterträgt."
Porträt von Natalie Rosenke
Natalie Rosenke engagiert sich bei der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Vor allem in Arztpraxen geschehe dies häufig, berichtet sie.© dpa / Horst Galuschka
Marie Bernard hat sich in ihrer Studie insbesondere die Diskriminierung im Gesundheitssystem angeschaut. Sie wollte herausfinden, ob die Bevölkerung denkt, dass Menschen mit Adipositas erhöhte Krankenkassenbeiträge zahlen sollen.
"Wir haben gesehen in dieser Studie, dass besonders Menschen, die starke Vorurteile gegenüber Menschen mit Adipositas haben, die wirklich daran glaubten, dass Menschen selbst schuld daran seien, an ihrer Erkrankung, dass sie einfach zu faul und zu willensschwach seien. Besonders die Menschen haben wir gesehen, dass die einen höheren Beitragssatz für Menschen mit Adipositas gefordert haben."
Ein Überblicksartikel von Rebecca Puhl und Chelsea Heuer aus dem Jahr 2009 zeichnet ein erschreckendes Bild:
Das Vorurteil, dass Menschen mit Adipositas einfach zu faul oder willensschwach seien, teilen viele Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, zum Beispiel Ärzte und Pflegepersonal. Das zeige sich zum Teil auch im Umgang der Krankenkassen mit diesem Thema, meint Bernard. Auch Mandy musste einige Hürden nehmen, bevor ihr die Operation bezahlt wurde.
"Ich hatte mich bei uns im Klinikum mit dem Chirurgen in Verbindung gesetzt und der hat mir gesagt, was ich machen muss. Das war so ein MMK – multimediales Konzept. Da muss man Ernährungsberatung machen, halbes Jahr auch Sport betreiben. Psychologisches Gutachten machen einige, noch Blutuntersuchungen. Und das musste man dann halt alles einreichen. Auch ein Gutachten vom Chirurgen. Dann, dass er diese Operation befürwortet und für sinnvoll hält. Und dann müssen dicke Antragsteller noch persönlich das alles bei der Krankenkasse einreichen."
Ziel dessen ist es, den Patienten von der Operation abzubringen. In dem Glauben, dass eine reine Diät oder Ernährungsberatung zu einem signifikanten Gewichtsverlust führen würde, obwohl das medizinisch eigentlich schon längst widerlegt ist", sagt der Arzt und Chirurg Christian Denecke. Er operiert selbst mehrmals wöchentlich Menschen, die übergewichtig sind.
"Das heißt eben auch, dass Menschen mit Adipositas dafür kämpfen müssen, Gesundheitsvorsorge oder Therapieprogramme zu erhalten. Und das entscheidet die Krankenkasse je nach Einzelfall. Das heißt, der Patient ist auf den Goodwill der Krankenkasse angewiesen, dass diese Kosten übernommen werden."
Bei Operationen sei Deutschland das Schlusslicht, erzählt Bernard, im europäischen und im internationalen Vergleich. "Und das liegt eben auch daran, dass diese Kosten oftmals erst eingeklagt werden müssen." Mandy konnte alle Hürden nehmen. Die Krankenkasse finanziert ihre Operation.
Christian Denecke steht am Operationstisch in der Charité in Berlin-Mitte."Können Sie sagen wie groß ungefähr der Magen ist der Patientin?" – "Das ist jetzt schwer zu sagen in Millilitern. Wir haben das nicht vorher ausgemessen. Dieser Magen ist definitiv etwas vergrößert. Das muss man schon sagen."
Auf dem OP-Tisch liegt Mandy. Für sie ist es ein Tag, der ihr Leben verändert. Für Christian Denecke ist es Routine.
"Das ist eine sehr standardisierte Operation, dass man den Magen zu einem Schlauch verkleinert, der wird von innen. Das werden Sie gleich sehen."

Magen-Verkleinerungen und ihre Gefahren

"Von den Kollegen höre ich immer wieder Berichte, dass Menschen sehr glücklich sind nach solchen Operationen. Das glaube ich sofort. Die Frage ist nur immer: Wie stellt sich die Situation dann viele Jahre später dar, wenn Komplikationen auftreten, die zum Teil aber auch schon früher auftreten."
Der Ärztin und Internistin Veronika Hollenrieder sind viele Fälle begegnet, die nach solchen Operationen Probleme bekamen. Eine ihrer Patientinnen entschied sich für eine Operation. Jahrelang hatte sie versucht abzunehmen. Nach dem Eingriff verlor sie 30 Kilogramm. Aber die Operation hatte weitere Folgen.
"Sie kann nach wie vor nicht alles essen. Sie hat rezidives Erbrechen, Durchfälle. Sie hat Mangelerscheinungen, weil sie in den Jahren nach der Operation nicht auf die Sublimentation geachtet hat, die notwendig gewesen wäre. Sie ist zwar schlanker als vor der Operation, hat aber an Lebensqualität nicht unbedingt dazugewonnen."
"Die Operation ist natürlich ein komplexes Thema, denn es ist tatsächlich so, dass die einzige Methode, mit der man tatsächlich eine Gewichtsreduktion dauerhaft oder zumindest lange über längere Zeit erreicht, sind die Operationen. Aber die Operationen haben auch ganz viele problematische Nebenfolgen. Man kann eigentlich sein Leben lang ja nicht mehr normal in dem Sinne essen. Man muss immer darauf achten, wie viel man isst, dass auch genug Nährstoffe zugeführt werden, weil der verkleinerte Magen ja nicht mehr so viel aufnehmen kann. Man zerstört natürlich im Grunde genommen ein funktionierendes Organ."
Der Gesundheitswissenschaftler Friedrich Schorb begrüßt die relativ strengen Auflagen in Deutschland vor solchen Operationen.
Im operativen Zentrum der Universität in Leipzig operiert der  renommierter Experte für komplizierte Magenverkleinerungen, Edward Shang (r) eine stark übergewichtige Patientin (2011).
Eine operative Magenverkleinerung: Für manche Patienten eine große Chance, um Gewischt zu verlieren. Aber die Behandlungsmethode birgt Risiken. © dpa / Waltraud Grubitzsch
Zur Gewichtsreduktion führen mehrere Operationen: ein Magenband, das den Magen einschnürt – dieser Eingriff kann rückgängig gemacht werden. Anders als der Magenbypass, bei dem der Verdauungsweg verkürzt wird. Mandy hat sich für eine Magenverkleinerung, für einen sogenannten Schlauchmagen, entschieden. Diese Operation gilt als die sanftere Variante – im Vergleich zum Bypass.
"Sie sehen jetzt im Bild den Magen. Hier geht es Richtung Magenausgang, und wir haben hier, was sich vorwölbt, einen Magenschlauch durch den Mund in den Magen eingeleitet, der uns anzeigt, wie eng der zukünftige Magenschlauch werden soll, sozusagen. Damit verhindern wir, dass er zu eng oder zu weit wird oder beim Patienten unterschiedlich groß gemacht wird. Und Sie sehen jetzt, wie wir hier das Klammer-Naht-Gerät auf der linken Seite einführen und den Schlauchmagen jetzt anfangen zu bilden, indem wir entlang des Schlauchmagens mit dem Gerät einen Teil des Magens abtrennen."

Natalie Rosenke ärgert das Thema. Sie fühlt sich genötigt, sich doch endlich operieren zu lassen.
"Weil ich da immer wieder unaufgefordert darauf angesprochen werde. Und das zeigt einfach, dass die Außendarstellung nicht stimmt. Also die Außendarstellung sagt immer, es ist eine Operation der Ultima Ratio. Der wirklich letzte Weg, der gegangen werden soll. Aber, wenn ich darauf werbend angesprochen werde, wenn ich mit einer Erkältung zum Arzt komme, dann sehe ich nicht den Zusammenhang."

Psychische Gründe für Adipositas

"Ich würde nicht sagen, dass es prinzipiell absolut schlecht oder böse ist, und man muss es den Menschen ja auch selbst überlassen. Man sollte aber auf jeden Fall stark über die Risiken aufklären. Ich würde es nicht prinzipiell ausschließen, aber man sollte da sehr behutsam mit umgehen."
Mandy hat ihre Operation überstanden.
"Ich war erstmal ganz schön fertig. Also es hat ganz schön geschlaucht, die Operation. Man kann ja auch nichts essen großartig, nur Wasser oder Tee oder Brühe trinken, und da kommt der Körper ja auch nicht so richtig zu Kräften. Die erste Woche zu Hause war auch noch ganz schön ermüdend. Denn wo ich dann wieder erst mal Kartoffelbrei gegessen habe und Möhrchen gekocht und dann zerdrückt, und das war eine richtige Geschmacksexplosion im Mund, das hat schon gut getan. Da war ich froh, dachte ich: Jetzt geht es voran. Da war ich richtig erleichtert. Und das hat mich echt gefreut. Ich wusste nicht, dass ich mich so freuen kann auf Kartoffeln."
Einen Monat nach dem Eingriff passt ihr eine Jacke wieder, die sie jahrelang nicht tragen konnte. Psychologische Nachsorge bekommt Mandy nicht. Für viele Experten ist sie aber besonders wichtig, um Rückfälle zu verhindern. Eine große Gefahr ist, dass Menschen nach einer Operation erstmal abnehmen und – wenn das Gewicht irgendwann stagniert – frustriert wieder anfangen zu essen. Die psychischen Gründe für Adipositas ändern sich durch eine Operation nicht – und die gesellschaftliche Diskriminierung bleibt auch die gleiche.
Himmelstein und Kollegen zeigten in einer Studie aus dem Jahr 2015 einen Cortisol-Anstieg bei Studienteilnehmern, die besonders unter dem gewichtsbezogenen Stigma litten – unabhängig von ihrem tatsächlichen Gewicht. Es war die erste Studie, die die physiologischen Konsequenzen der Stigmatisierung untersuchte.
"Diskriminierung führt zu Stress, und Stress führt zu höherem Blutdruck etwa. Es führt zu einem Anstieg des Cortisol-Spiegels, es führt zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen auch, ganz unmittelbaren gesundheitlichen Problemen, psychischen und physischen Problemen. Und die werden dann ja der Adipositas oder dem hohen Körpergewicht angerechnet, sind aber eigentlich nicht im engeren Sinne medizinisch verursacht, auch wenn sie medizinische Konsequenzen zeitigen. Aber sie sind im engeren Sinne gesellschaftlich sozial verursacht."
Friedrich Schorb stößt in Studien immer wieder auf ein Paradox: Wenn dicke Menschen diskriminiert werden, hat das einen schlechteren Einfluss auf deren Gesundheit, als das Dicksein selbst.
Veronika Hollenrieder sieht, was Ärzte schon jetzt ändern können, ganz ohne Technik, um die gesundheitlichen Folgen von Adipositas zu minimieren.
"Wir müssen den Zuckerstoffwechsel anschauen, wir müssen den Blutdruck anschauen, wir müssen den Fettstoffwechsel anschauen. Wir müssen ihnen sagen, dass sie ein hohes Risiko haben. Aber wir dürfen ihnen nicht ihr Selbstwertgefühl nehmen, indem wir sagen: Die Blutdruck-Manschette funktioniert bei Ihnen nicht. Oder: Unsere Praxiswaage, die geht halt leider nur bis 150 Kilo. Dafür sind sie zu fett. Das müssen sich dicke Menschen immer wieder auch in Arztpraxen oder in Kliniken anhören. Das muss aufhören."

Die Einstellung zum eigenen Körper ändern

Die Bloggerin Journelle ist gesund. Auf Instagram hat sie "Fett-Aktivistinnen" entdeckt, die ihr ein anderes Bild von ihrem eigenen Körper vermittelt haben. Das hat ihre Sichtweise verändert.

"Das alles hat tatsächlich zu einer Art Umschulung auch meines Blickes geführt. Das heißt das, was ich vorher eklig fand an meinem Körper – dieser Bauch, diese Beine, die aneinander reiben –, die sind für mich umdefiniert worden. Und ich habe festgestellt, dass das immer wieder Visuelle, wenn einem einfach oft genug als gut dargestellt wird, dass man das dann annimmt. Es gibt auch bei mir Phasen, wo ich denke: Vielleicht doch noch mal abnehmen oder was auch immer. Aber das wird tatsächlich immer weniger. Ich mag meinen Körper immer mehr."
Für Friedrich Schorb sind Programme wie Health At Every Size aus den USA ein Vorbild. Die betonen, dass alle Menschen sich gesund ernähren sollten, Sport machen sollten – nicht nur übergewichtige Menschen.
"Man kann körperliche Betätigung mit fast jedem Gewicht machen und sollte das auch tun. Nur eben nicht verbunden mit dem Versprechen: Sie nehmen dann ab. Weil: Das erfüllt sich in der Regel nicht oder nicht in dem Umfang, wie die meisten Leute sich das wünschen. Es ist vor allem nicht dauerhaft. Sondern mit dem Versprechen: Es tut mir gut, es fühlt sich körperlich gut an."
Mandy trägt zwei Monate nach der Magenverkleinerung zwei Kleidergrößen kleiner, ihr Gesicht und ihre Taille sind viel schmaler geworden. Sie wiegt 24 Kilo weniger. Ihre Waage zeigt jetzt 100,1 Kilogramm. Seit Kurzem traut sie sich ins Fitnessstudio. Komplikationen gibt es bisher nicht.
"Ja, ich habe vorher immer gegessen und gegessen, bis mir irgendwann der Bauch wehtat, und jetzt merk ich halt: Du brauchst wirklich bloß so ein bisschen und dann bist du satt. Ich hab jetzt zwar nicht Hunger, also wenn mal Appetit auf irgendwas, aber Hunger eigentlich nicht, Süßes gar nicht mehr. Ich ekel mich sogar ein bisschen davor. Ich hab mal was Süßes probiert. Das hat mir überhaupt nicht geschmeckt. Bin ich froh drüber. Also, ist schön."
Und Maggie de Block? Sie ist nach wie vor Gesundheitsministerin und gilt als eine der beliebtesten Politikerinnen Belgiens.
Als sie einmal in einer Talkshow gefragt wurde, ob sie auch ein Haifisch sei, so wie viele andere Politiker, sagte sie: "Ich halte mich eher für einen Walfisch. Die schwimmen fröhlich herum und beißen nicht."
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