Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort"

Psychogramm einer Familie

Adam Haslett Roman "Stellt euch vor, ich bin fort" war in den USA für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert.
Adam Haslett Roman "Stellt euch vor, ich bin fort" war in den USA für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert. © Rowohlt; Imago/McPHOTO
Von Gerrit Bartels · 31.01.2018
Adam Haslett hat mit "Stellt euch vor, ich bin fort" einen großen amerikanischen Mittelschichtsroman verfasst, der für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert war. Im Mittelpunkt steht eine dysfunktionale Familie, in der sich die psychischen Verformungen weiter vererben.
Es ist nur ein Spiel, das John mit seinen Kindern Alec und Celia spielt, in den Sommerferien, auf einer kleinen Insel in Maine. Er fährt mit den beiden mit dem Boot aufs Meer, stellt den Motor aus und sagt: "Stellt euch vor, ich bin fort. Stellt euch vor, ihr beide seid ganz allein. Was macht ihr?"
Die Kinder wissen schon, was zu tun ist, nämlich die Ruder rausholen und loslegen, doch es ist mühsam und funktioniert nicht gut. Der Vater stellt sich weiter schlafend, tut, als existiere er nicht. Alec weint, und Celia, inzwischen seekrank, weiß immerhin, "dass das Spiel jetzt, da ich aufgegeben hatte, bald vorbei sein würde".
Was Celia nicht weiß: Ihr Vater wird wirklich bald weg sein. Seit seiner Jugend leidet er an Depressionen, wütet ein "Ungeheuer" in ihm, wie er es empfindet, und so verschwindet er eines Tages in den Wald, um sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschneiden und am Lebensende zu erkennen, "das Gesicht des Ungeheuers - mein Gesicht -, und es ist menschlich, also doch".

Im Wechsel erzählen fünf Familienmitglieder

Johns Verschwinden, seine Erkrankung und sein Selbstmord, sie sind der Ausgangspunkt für Adam Hasletts komplexen, manchmal zu Herzen gehenden Familienroman mit eben jenen Titel "Imagine me gone", wie er im Original heißt: "Stellt euch vor, ich bin fort". Haslett erzählt darin von einer dysfunktionalen Familie, auf der schon mit der Heirat von John und Margaret in den sechziger Jahren seine Depression lastet. Von einer Familie, die immer wieder auseinanderzubrechen droht, deren Bande aber von der Mutter und den drei Geschwistern mal schlecht, mal recht zusammengehalten werden.
Neben Alec und Celia ist da noch der ältere Bruder Michael, der die psychischen Deformationen seines Vaters geerbt hat. Er leidet unter schweren Angststörungen, kann bald ohne Psychopharmaka nicht mehr leben, was Auswirkungen auf seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang hat: "Ich erinnere mich an zwei drei Monate, in denen mein Kopf mir so verdichtet vorkam wie ein Amboss im grellen Sonnenschein auf einer mit Höchstgeschwindigkeit rotierenden Töpferscheibe."
Haslett hat seinen Roman multiperspektivisch angelegt. Im Wechsel erzählen die fünf Familienmitglieder in der Ich-Form, was ihnen widerfährt, wie sie mit der jeweiligen Situation, in der sie sich befinden, umgehen, nicht zuletzt mit Michael, um den sich nach dem Tod Johns alle kümmern. Michael ist derjenige, der die Bande - unfreiwillig, unbewusst – tatsächlich eher schmiedet als auseinanderreißt.

Roman erinnert an Jonathan Franzens "Korrekturen"

Erstaunlich dabei und sicher ein Grund dafür, dass Haslett mit seinem Roman in den USA unter anderem für den Pulitzer-Preis und den National Book Award nominiert wurde: Aus den fünf Ich-Erzählern entwickeln sich tatsächlich Charaktere mit unterschiedlichsten Konturen, von der Mutter, die gleichermaßen leidet wie stets zuversichtlich ist, über den homosexuellen, erst spät überhaupt zu einer festen Beziehung fähigen Alec und den kranken Michael, der ein Pop-Nerd ist, bis hin zu Celia, die genau die Fehler, die ihre Eltern gemacht haben, in ihrer Beziehung zu Paul nicht machen und nichts überstürzen will, weder mit einer Heirat noch mit Kindern.
Natürlich erinnert dieser Roman von seiner Grundstruktur an Jonathan Franzens "Korrekturen", an andere große amerikanische Mittelschichts-Familienromane, zum Beispiel zuletzt Jonathan Safran Foers "Hier bin ich". Es beeindruckt, wie geschickt Haslett mit verschieden Erzählweisen zu arbeiten versteht, jede der Figuren einen eigenen Ton bekommt. Wie er die Zeiten variiert und Rückblenden und Erinnerungssplitter einbaut, wie er mal ganz nah an seine Figuren heranzoomt, förmlich in sie hereinkriecht, um dann wieder Distanz zu schaffen, was insbesondere bei Michael in seinem Psychopharmakanebel und in manchem seiner Wahnsysteme gut gelingt.
Auf dem Grund der Familienstruktur, das ist eine der Lehren dieses epischen Psychogramms, liegen genau die Anlagen herum, die sich später zu Deformationen auswachsen. Und überhaupt: Der Familie zu entkommen, ist eine der schwersten Übungen im Leben. Und doch hat es manchmal seine Vorteile, auch davon erzählt Adam Haslett, Teil eines Familienzusammenhangs zu sein. Die Familie kann ein Hort der Geborgenheit sein, sie kann bei allem Unglück, das sie hervorruft, auch zur Charakterfestigung beitragen.

Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort"
Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk von Gunsteren
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018
462 Seiten, 22,95 Euro

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