Ada Palmer: "Dem Blitz zu nah"

Sci-Fi-Märchen mit philosophischem Tiefgang

06:30 Minuten
Das Cover von Ada Palmers Roman "Dem Blitz zu nah (Terra Ignota 1)" zeigt ein Raumschiff, das auf einen Felsen zufliegt.
© Panini Verlag

Ada Palmer

Aus dem Amerikanischen von Claudia Kern

Dem Blitz zu nahPanini Books, Berlin 2022

664 Seiten

19,00 Euro

Von Marten Hahn · 20.04.2022
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Es gibt keine Nationalstaaten mehr, keine Religion und keine Geschlechterrollen. Das ist die Welt, die Ada Palmer in "Dem Blitz zu nah" zeichnet. Dabei bedient sie sich vieler philosophischer Referenzen. Doch das Gleichgewicht der Fantasy-Welt ist bedroht.
Autos seien die einflussreichsten Stadtplaner unserer Zeit, sagte der US-Historiker Lewis Mumford einmal. Die US-Autorin Ada Palmer geht noch einen Schritt weiter. In ihrem Romandebüt „Dem Blitz zu nah” sind Autos zu Weltplanern geworden. In Überschallgeschwindigkeit verbinden sie Indonesien, Frankreich und Ägypten. Was die Fahrzeuge antreibt und wie sie funktionieren, interessiert die US-Autorin weniger. Was das Minimieren von Distanzen und Reisezeit aus der Menschheit macht, hingegen sehr.

Mischung aus Krimi und Fantasy-Sci-Fi-Epos

Im Jahr 2454 sind geografische Nationalstaaten ein Relikt der Vergangenheit. Stattdessen regieren sieben sogenannte Hives die Erde. Wer das Erwachsenen-Alter erreicht, darf Heimat und Zugehörigkeit frei wählen, „denn jemand, der in Maui lebt, in Myanmar arbeitet und in Syrakus zu Mittag isst, erkennt auch ohne Aufwiegler, dass er dem Stück Dreck, auf dem er sich als Baby von der Nachgeburt trennte, nichts schuldet.“

Noch viele andere Dinge haben wir bis 2454 hinter uns gelassen. Religion ist tabu. Geschlechterrollen sind unerwünscht. Und seit Generationen herrscht weltweit Frieden. Doch es wäre kein fast 700-Seiten langer Roman daraus geworden, würde die Utopie keine Risse bekommen. Das Gleichgewicht zwischen den Hives gerät in gefährliche Schieflage, als ein politisch sensibles Dokument entwendet wird und die Jagd nach dem Dieb beginnt. „Dem Blitz zu nah“ ist eine Mischung aus Krimi, Fantasy-Sci-Fi-Epos und Modenschau – Palmer zelebriert die Kostüme ihrer Protagonisten.

Idee der geschlechtsneutralen Gesellschaft

An die Hand genommen werden die Leser von Mycroft Canner. „Ich bin das Fenster, durch das sie das herannahende Gewitter betrachten.“ Canner geht in höchsten Kreisen der Hive-Gesellschaft ein und aus. Doch der Verbrecher muss lebenslang gemeinnützige Arbeit leisten. Sitzen, essen und schlafen darf er nur auf Geheiß seiner Auftraggeber.

Literarisch und bildstark füllt Ada Palmer ihre Welt bis zum Bersten mit neuen Ideen. In der deutschen Übersetzung von Claudia Kern führt das zu einer neuen Sprache, die man so im Original nicht findet. Eine Sprache, für die sich Kern bei den sogenannten SYLVAIN-Konventionen bedient. Die Idee der geschlechtsneutralen Gesellschaft schlägt sich so in den Worten der Figuren wieder: „Mycroft ist din Geliebtnin meinins Geschwists Thisbe.“ Nur die Hohepriester der nicht-binären Sprache mögen solche Sätze unbeirrt überfliegen. Alle anderen werden gelegentlich Mühe haben, im Lesefluss zu bleiben.

Originell und trittsicher erzählt

Dass man dennoch dranbleibt, liegt daran, dass Palmer originell und trittsicher erzählt und Claudia Kern gekonnt übersetzt. Dazu kommt, dass die Autorin ihre Geschichte mit historisch-philosophischen Referenzen durchwebt. Das erhöht nicht immer das Tempo, macht „Dem Blitz zu nah“ aber zu einem Sci-Fi-Märchen mit Tiefgang. Voltaire und Jean-Jacques Rousseau werden zwischen den fliegenden Autos genauso diskutiert wie de Sade.

Schreibt Palmer keine Bücher, lehrt die Historikerin an der Universität von Chicago europäische Frühmoderne. „Dem Blitz zu nah“ beweist einmal mehr: Wer die Vergangenheit kennt, schreibt besser über die Zukunft.