Abrechnung einer Suhrkamp-Cheflektorin

Ein Beitrag zur pathologischen Bibliothek?

Elisabeth Borchers auf der Buchmesse 1983
Ihr eigenes Buch hätte die Lektorin Elisabeth Borchers wohl abgelehnt, meint Arno Orzessek. © imago stock&people
Von Arno Orzessek · 24.04.2018
Elisabeth Borchers war eine legendäre Suhrkamp-Lektorin. In ihren posthum erschienen Erinnerungen "Nicht zur Veröffentlichung bestimmt" plaudert sie über Klatsch und Tratsch und treibt dem Leser die Ehrfurcht vor dem großen Suhrkamp-Verlag aus.
Stehen Sie auf Klatsch und Tratsch aus der Literaturszene und interessieren sich deshalb für Borchers Büchlein? Dann haben wir hier Stoff für Sie!
An einem heißen Sonntag – es geschah zu der Zeit, als Borchers mit dem Autor Claus Carlé liiert war – kam Peter Handke zu Besuch, offenbar mit starkem Drang in der Lendengegend. Borchers berichtet:
"Erlaubst du, dass ich mit ihr schlafe, fragte er Claus. Er solle mich fragen, er fragte mich. Ich war aber noch nie für dergleichen Gastfreundschaft zu haben. Dann doch lieber eine Tasse Tee."

"Kein Pardon soll gegeben werden"

Und jetzt etwas für alle, die sich von Borchers Fragment ein hübsches Quantum übler Nachrede erhoffen. Immerhin verspricht die "Dame", wie sie bis heute gern tituliert wird, gleich im ersten Absatz: "Kein Pardon soll gegeben werden."
"Wohin man schaut und liest: Hochstapelei. Selbst in den oberen Rängen, selbst in den Logen. […] Wer bliebe verschont? Nicht einmal […] [Martin Walser]. Ich bin mir sicher: 'Meßmers Gedanken' ist sein Hauptwerk, dazu die 'Liebeserklärungen', so vieles verzichtbar. Ganz zu schweigen von [Max] Frisch, von [Uwe] Johnson, den der Verleger [Siegfried Unseld] posthum brachialgewaltig zum Helden stilisiert hat, doch wohl, um sich selbst zu bestätigen. Welch ein Pfusch, wohin man sieht und hört."
Und vielleicht noch folgende Bemerkung über den einstigen Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki – von Borchers nach einer mäßigen Abendgesellschaft notiert.
"Ich hätte ihm erzählen können, Unseld habe Wasser in der Lunge, das wäre ihm eine Freude gewesen."
Klar, Aperçus dieser Sorte machen die Lektüre leicht und lustig. Sollte noch jemand Ehrfurcht vor dem Suhrkamp-Verlag und der einst viel gerühmten "Suhrkamp-Kultur" gehabt haben – Borchers treibt sie ihm aus.

Der Lektor - ein abgerichtetes Wesen

Dabei stellt sie ihren eigenen Job als Lektorin, nicht frei von verletzter Eitelkeit, in ein fahles Licht.
"Der Lektor ist ein abgerichtetes Wesen. Er hat den Verlag und den Autor zu bedienen. Ein unaufhörlicher Akt der Unterordnung und Selbstverleugnung muss es sein, er muss sich Lügen strafen."
Allerdings treten Suhrkamp-Komplex, Promi-Bashing und Lektoren-Alltag je länger, desto stärker in den Hintergrund – während intime, traurig-ernste und romantisch-wehmütige Reflexionen über die Liebe, das Altern und die Vergänglichkeit zunehmen.
In solchen Fächern ist die preisgekrönte Lyrikerin Borchers firm. Sie beherrscht die nüchtern-lakonische Manier:
"Das Balkonfenster steht auf, die Helligkeit und Wärme der Sonne ist unwahr; wenn ich mir die erste Verfärbung der Kastanie ansehe, dann wissen wir doch, was los ist."
Und sie beherrscht genauso den pathetischen Ton bis an die Grenze zum Sentimentalen:
"Der Palmengarten steht unter Rosenschock. Dann und wann eine Duftwelle wie auf Capri, weißt du noch."
Wenn Borchers zärtlich "du" sagt, meint sie den Schriftsteller Arnold Stadler, ihre große Liebe für lange Zeit.

Beliebig und unverbunden ...

Im Nachwort behauptet Martin Lüdke, viele Träger von Klarnamen à la Walser und Reich-Ranicki seien in Borchers Text zugleich auch "Kunstfiguren" und "Fiktionen". Auf den homosexuellen Stadler, der Jahrzehnte mit einem Mann zusammenlebte, mag das besonders zutreffen.
Offenkundig überhöht Borchers die reale Person zu einer Wunschgestalt, die sie durch Texte formt und bannt.
"Dann hast du angerufen, ich hab's gespürt, undenkbar, undenkbar, wenn ich mich getäuscht hätte. […]. Noch während wir sprachen, war ich schon in Gedanken hier an der Maschine, um dir zu schreiben."
Zunehmend wehen autobiografische Erinnerungsfetzen – nicht zuletzt an die Kindheit unter Hitler – durch Borchers Fragment. Sie wirken eindrücklich, aber oft auch beliebig und unverbunden mit der bunten Menge sonstiger Textbausteine.
Und das ist der Grund, warum die Lektorin Borchers ihr eigenes Werk wohl abgelehnt hätte.
Warum sie es tatsächlich abgelehnt hat, indem sie aufhörte, weiterzuschreiben. Es gibt allzu viel Abgerissenes und Ungefügiges, die Gestaltung des Disparaten misslingt. Eine Ahnung von diesen Missständen hat sie selbst schon früh.
"Ich möchte eine Pistole besitzen, um die Chaosgeister zu zerballern."
Aber nein, so eine metaphysische Pistole besaß Borchers nicht. Die Chaosgeister ließen ihr keine Chance.
Dennoch ist ihr Scheitern entschiedener zu loben, als manche banal-abgerundete Autobiografie.

... aber auch originell und erhellend

Wie das Waschen schmutziger Wäsche aus dem Kosmos Suhrkamp, wie Boshaftigkeit und Satire in die Selbst-, Liebes- und Lebensbeschreibung einer älteren Frau umschlagen – das ist originell, erhellend und anrührend auch diesseits der Perfektion.
In Borchers Fragment nimmt die Kälte zu; und zwar die Kälte in ihrem Körper, die sie als erklärte Verehrerin der Sonne immer schwerer vertreiben kann; eine Kälte, die auch an das Ende von allem gemahnt.
Um ihre Unruhe auszudrücken, lässt sich die Bibelleserin von einem Schriftsteller helfen, den sie vermutlich allen Suhrkamp-Autoren vorgezogen hat – vom alttestamentlichen Psalmisten.
Psalm 69: "Daß mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht verschlinge und das Loch des Brunnens sich nicht über mir schließe."
Es ist die Trauer des Abschieds in der Fülle der Gegenwart, die Borchers Fragment verdunkelt und erleuchtet. Sehnsucht und Liebessucht aber hören nie auf.
"Eigentlich wollte ich, dass du da bist."

Elisabeth Borchers: Nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Ein Fragment
Herausgegeben von Martin Lüdke, Mitarbeit Ralf Borchers
Weissbooks GmbH, Frankfurt am Main 2018
167 Seiten, 22 Euro

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