Aboud Saeed: Die ganze Geschichte

Spei dein inneres Feuer

05:29 Minuten
Zu sehen ist das Cover von "Die ganze Geschichte" von Aboud Saeed. Es zeigt auf einem blau karierten Hintergrund den Autorennamen, den Buchtitel sowie etwas in arabischer Schrift.
© Deutschlandradio / Mikrotext

Aboud Saeed

Übersetzt von Sandra Hetzl

Die ganze GeschichteMikrotext, Berlin 2021

23,00 Euro

Von Samuel Hamen · 23.12.2021
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In seinen Facebook-Einträgen, die nun in einer Auswahl in Buchform erscheinen, schreibt Aboud Saeed seit 2011 über Kriegsgräuel, Familienbande und einen deutschen Alltag zwischen Heimweh und Lebensfreude.
Sein ganzes Leben habe er, schreibt Aboud Saeed im Vorwort seines Buches, in Manbidsch verbracht. "Und mit einem Satz befand ich mich plötzlich in Berlin." Von diesem Wechsel, von diesem Sprung aus dem Norden Syriens, nahe der türkischen Grenze, nach Deutschland erzählt "Die ganze Geschichte". Der Band versammelt ausgewählte Facebook-Postings Saeeds, mit denen der 1983 geborene Schriftsteller vor einigen Jahren für Furore sorgte.
"Mama, rauch", heißt es etwa um 29. Juni 2012, um 20:52 Uhr, "spei dein inneres Feuer wie ein Drache. Rauch. Mama, findest du nicht auch: Diese Eva Rose ist wirklich die schönste Pornodarstellerin überhaupt. Mama, ich hab mir dreimal hintereinander einen runtergeholt. Mama, und dieses Video, das ist von einem Jungen, den sie mitgenommen und anschließend gefoltert haben." Von 2011 an schrieb Saeed unter Klarnamen über seinen Alltag in Syrien, über die Revolution und den Krieg.

Realität wird in die Fiktion gedehnt

Die Pinnwand wird ihm zur Performance, zur Bühne, um anzuklagen und zu witzeln, um sich aufzuregen und sich abzureagieren. Saeed übertreibt, dehnt die Realität in die Fiktion und stutzt zugleich seine Träume zurecht. Eine erste Auswahl dieser von Sandra Hetzl ins Deutsche übertragenen Postings erscheint 2013 bei "mikrotext" unter dem Titel "Der klügste Mensch vom Facebook".
Im Herbst desselben Jahres reist Saeed für eine Lesereise nach Deutschland. Sein Antrag auf politisches Asyl wird bewilligt, seither lebt er in Berlin – und postet weiter:

Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, eines Tages ein gebratenes Spiegelei mit Messer und Gabel zu essen. Egal, wie weit die Integration und Zivilisation mit mir fortgeschritten sein werden. Aber mein deutscher Nachbar ist einer von der Sorte Refugees Welcome, er ist hyperhumanitär und wollte unbedingt mit mir mithalten. Also legte er Messer und Gabel beiseite und bestand darauf, wie ich mit Fladenbrot zu essen!

Aboud Saeed

Schalk, Spötter, Magalomane

So schließt man diesen Schriftsteller – ein Schalk, ein Spötter, ein Megalomane – allmählich ins Herz, in unterschiedlichen Stimmungen, in wechselnden Jahreszeiten, bei Hochglanz-Kulturevents im Audi City Lab Berlin und einsamen Abenden in seiner Wohnung.
Was seine Vignetten vom Gros jener Literatur abhebt, das sich Themen wie Migration und Interkulturalität zuwendet, das ist die Non-Chalance, mit der er allem und allen über den Mund fährt: den Dealern, die ihm zu wenig Marihuana geben, seinen Kollegen bei der Arbeit als gelernter Schmied, die Kulturbetriebsmenschen, die ihn Mal um Mal engagieren, damit er über seine Erfahrungen als Flüchtling spricht.

Zehn Jahre andauerndes Posting-Literaturprojekt

"Ich bin gedächtnislos / Ich bin frei", heißt es in einem Eintrag vom 19. Januar 2021, dem vorletzten des Buches. Das ist die Aufgabe, der sich dieses nun bereits zehn Jahre andauernde Posting-Literaturprojekt mal leichtfüßig, mal schwermütig stellt: sich im Zeitalter von Selfies und Likes, von Rollenbildern und Identitätsfetischen ein Bild von sich selbst zu geben, möglichst frei und möglichst unbefangen.
Hierfür setzt Aboud Saeed auf ein breites Register, vom derben Humor über Provokation und penetranten Machismus bis hin zur Melancholie eines aus der Welt Gefallenen.
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