"Dazwischen das Meer"

Flucht und Flüchtende in der Literatur

Von Claudia Kramatschek · 13.07.2015
Aufgrund der politischen Krisenherde rund um die Mittelmeerregion verlassen auch Autoren und Autorinnen vermehrt ihre Heimat. So fanden etwa der syrische Blogger Aboud Saeed und die tunesische Lyrikerin Najet Adouani in Deutschland eine neue Bleibe - mal mit privater Hilfe, mal mit Hilfe des PEN.
1935 muss der Philologe Erich Auerbach, der Sohn jüdischer Eltern, Deutschland verlassen. 1946 veröffentlicht er in der Türkei sein grundlegendes Werk "Mimesis" über die abendländische Literatur. Erich Auerbach eröffnet es mit einem Kapitel über Odysseus. Das Kapitel lautet: "Die Narbe des Odysseus". Der Emigrant Auerbach erhebt Odysseus somit zur Leitfigur einer Literatur, die davon erzählt, was es heißt, beheimatet zu sein in einer Welt der grundlegenden Heimatlosigkeit.
Am 19. April 2015 sterben rund 700 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer von Libyen kommend Richtung Europa zu überqueren. Mindestens 1700 Menschen ertranken nach Schätzung von Hilfsorganisationen allein in den ersten Monaten des Jahres 2015 im Mittelmeer – hundertmal so viele wie 2014 im selben Zeitraum. Die Zahlen sind erdrückend. Die Einzelschicksale, für die sie stehen, bekommen wir nur selten zu hören. Wie aber erzählt die Literatur von der Flucht?
Gedicht / Reise
Mein Reisepass ist ein grüner Revolver,
eine Glocke am Körper,
ich zieh in ein Land aus der Asche von Mythen.
Die Mutter verlangt
die verlorenen Jahre
von mir zurück.
Der Vater verlangt
die Puppen zurück,
die ich zum Fest bekam.
Wem soll ich verkaufen mein Leben
in diesem Himmel aus Abend-Jasmin?
Ach Möwe, versengt von der sinkenden Sonne,
in den Gelenken nistet die Kälte,
Kamele zwingt der Sturm in die Knie
Zwischen einer Mirage und der nächsten.
Ach, kleine Heimat.
Salafisten setzten die Schriftstellerin Najet Adouani auf die "schwarze Liste"
Die kleine Heimat: das ist Tunesien, das Geburtsland der Arabischen Revolution. Doch für Najet Adouani, die 1956 im Süden Tunesiens zur Welt gekommen ist, brachte der Arabische Frühling nicht mehr, sondern weniger Freiheiten. 2012 muss die Dichterin, Schriftstellerin und Journalistin fliehen: Die Salafisten, die in Tunesien immer mehr den öffentlichen Diskurs prägen, haben sie wegen ihrer kritischen Texte und Gedichte, in denen sie für Meinungsfreiheit und die Rechte der Frauen eintritt, auf die "schwarze Liste" gesetzt. Hastig – und heimlich bricht sie auf.
Najet Adouani: "Ich packte eine kleine Tasche. Saß wie gelähmt auf dem Bett, wenige Stunden vor meinem Abflug. Ich habe mich weder von meiner Mutter noch von meinen Söhnen verabschiedet. Sie dachten, ich fahre in Urlaub. In meinem Kopf war nur Leere. Kälte. Meine Augen waren wie blind."
Gedicht / Lied
Sooft ich davonflieg, weit fort,
weil sich ein Unheil anbahnt
zwischen mir und meinem Land,
zwinkert ein Stern
seiner Erwählten am Himmel zu.
Gemeinsam sind zu mir sie aufgestiegen
Und haben meine Verse rezitiert:
Hier wurde ich geboren,
von hier aus habe ich mich aufgemacht
mit den Augen eines Falken,
mit den Flügeln einer Taube,
mit einer Kehle aus Messing.
Die drei erwachsenen Söhne bleiben in Tunesien zurück. Sie müssen alle persönlichen Spuren ihrer Mutter – Briefe, Fotografien, Kleider – vernichten.2012 findet Najet Adouani eine erste Bleibe in Weimar. Die Stadt ist Teil des weltweiten Netzwerkes 'Städte der Zuflucht', das all jenen Hilfe gewährt, die als Schriftsteller, Künstler und Journalisten in ihrer Heimat politisch verfolgt werden. 2013 wird Berlin Najet Adouanis neue Heimat. Auf die Flucht folgt das Leben im Exil.
Najet Adouani:"Manchmal hat man keine Wahl. Das Exil ist besser als das Gefängnis. Ich bin nicht im Gefängnis, sondern lebe in einer wunderbaren Stadt, die ich sehr liebe. Ich finde allmählich Freunde. Und es gibt den PEN."
Seit April 2013 ist Najet Adouani Gast des deutschen PEN im Rahmen von dessen so genanntem "Writers-in-Exile”-Programm. Josef Haslinger, österreichischer Schriftsteller und amtierender Präsident des deutschen PEN:
"Ich glaube, das ist unsere vornehmste Aufgabe, die wir als deutsches Pen-Zentrum haben, indem wir acht Autoren Schutz bieten, acht Autoren ein Exil bieten in Deutschland: eine Wohnung, eine sichere Bleibe, ein Stipendium dazu, so dass sie ihren Lebensunterhalt zunächst einmal frei von materiellen Sorgen gestalten und sich neu orientieren können: sich als Schriftsteller orientieren, auch wieder anzufangen und zu sich selbst zu kommen."
Najet Adouani:"Ohne den PEN wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben oder im Gefängnis. Ich vermisse zwar meine Familie, ich fühle mich einsam. Aber: Mir geht’s gut."
Zugewandt bin ich
dir,
Schmerz,
fall über mich her,
durchdringe mich,
sei meine Tinte
auf dem Papier.
Einsam bin ich,
ohne Heimat,
ohne Namen,
ohne meine Lieben.
Als sich Mitte April – Najet Adouani ist kurz zuvor in Berlin angekommen – die Flüchtlingskatastrophe mit rund 700 Toten im Mittelmeer ereignet, beginnt sie, ein Gedicht darüber zu verfassen.
Najet Adouani: "Das menschliche Leben ist so kostbar. Ich finde es daher schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie jeden Tag junge Menschen ertrinken, auf der Flucht vor Diktaturen oder vor Hunger. Ich bin gegen illegale Immigration. Ich bin aber auch gegen noch mehr Grenzen und Gesetze, die es erlauben, diese Menschen zurück zu schicken oder zu verhaften. Solange in ihren Ländern Diktaturen, Arbeitslosigkeit und Armut herrschen, werden sie kommen. Weil dies das Letzte ist, was ihnen bleibt. Es ist ihre Art, Selbstmord zu begehen. Ich weiß keine Lösung. Ich weiß nur eins: Wir werden sie nicht stoppen. Es werden eher mehr."
Die Insel nenne ich nicht Oase,
denn das Meer ist eine Wüste.
"Meerwüste” heißt auch der zweisprachige Gedichtband, der in diesem Frühjahr, in der Übersetzung von Leila Chammaa, erschienen ist. Szenen, in denen Najet Adouani Momente ihrer eigenen Flucht einfängt, findet man darin so gut wie gar nicht. Aber indirekt, zwischen den Zeilen, bilden diese Gedichte sehr wohl ab, was es bedeutet, auf der Flucht, eine Flüchtende zu sein.
Immer, wenn ich Abschied nehme von einem Weg,
liegt er von neuem vor mir.
Immer wenn ich glaube
Dass ich auf dem Heimweg bin,
finde ich mich von neuem außer mir,
ohne Zuhause.
Ein paar Balkone – das bin ich –
Balkone mit Blick auf ein großes Haus,
das in mir wohnt.
Darum, so die Autorin, liebe sie Balkone: Von ihnen könne sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft sehen.
Deutsches PEN-Zentrum veröffentlicht Resolution zum Asylrecht
2014, Ende November, veröffentlicht das deutsche Pen-Zentrum eine Resolution zum Asylrecht unter dem Titel "Schutz in Europa”. Ein Schiffsunglück vor Lampedusa, bei dem im Oktober 2013 mehr als 300 Flüchtlinge gestorben waren, hatte die europäische Flüchtlingspolitik nicht wachrütteln können.
Josef Haslinger, Präsident des deutschen PEN: "Wir haben das aufgegriffen und haben eine Resolution zum Schutz von Flüchtlingen verfasst, eine Resolution, die von vorneherein als europäische Resolution angelegt war, also von europäischen Autoren unterschrieben wurde. Und es ging darum, dass der Schutz von Flüchtlingen auch dadurch gewährt werden sollte, dass Europa die Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten zu einer gemeinsamen Sache erklärt. Also es nicht den Staaten überlässt und von den Staaten die Flüchtlinge in andere Staaten weiter schieben lässt."
Doch die deutsche Flüchtlings- und Asylpolitik wird restriktiver. Zugleich suchen immer mehr Menschen Schutz in Europa. Was die Situation speziell von Schriftstellern anbelangt, zieht Josef Haslinger ein nüchternes Fazit:
"Diese Lage ist im Großen und Ganzen - weltweit gesehen - gleich schlecht geblieben. Es gibt aber eine Verlagerung der Repressionen von einem Land aufs andere. Allgemein kann man sagen, dass heutzutage vor allem heute die Blogger unter Druck kommen."
Einer von ihnen ist der Syrer Aboud Saeed.
30. Dezember 2011 um 00:07
Ich werde alles schreiben, was ich gerade denke / über die Leere / die aus mir einen Pseudo-Dichter gemacht hat.
34 Likes
2009, Anfang November, meldet Aboud Saeed sich bei Facebook an. Er ist 26 Jahre alt. Fortan hinterlässt er täglich Einträge.
Aboud Saeed:"Ich habe Facebook benutzt wie niemand zuvor. Es hat mir einen Raum eröffnet, in dem ich mit Menschen interagieren kann. Deshalb werde ich weiter dort schreiben, auch wenn meine Bücher nun gedruckt vorliegen."
2013 veröffentlicht der kleine Berliner e-book-Verlag Mikrotext eine Auswahl seiner Statusmeldungen unter dem Titel "Der klügste Mensch im Facebook". Aboud Saeed erzählt in ihnen von seiner Mutter, der Suche nach Melonenresten auf Müllhalden, einer Kindheit unter dem Baath-Regime. Den ersten Text, den man im weitesten Sinne literarisch nennen kann, postet Aboud Saaed im Mai 2010. Im Dezember gehen in Tunesien die Menschen auf die Straße und fordern das Ende der langen Herrschaft von Präsident Zine al Abidine Ben Ali. Der arabische Frühling breitet sich aus. Ab März 2011 demonstrieren die Menschen auch in Syrien. Doch in Syrien wird aus den Bürgerprotesten ein blutiger und grausamer Bürgerkrieg.
9. Mai 2012
Dem Bürgerkrieg zum Trotz / Heute Morgen werde ich meiner Mutter einreden, sie sei Drusin / An einem anderen Morgen werde ich ihr einreden, sie sei Kurdin / Dann werde ich sie davon überzeugen, dass wir keine Sunniten sind. Dass unsere blöden Vorfahren uns reingelegt haben und dass wir eigentlich Alawiten sind / Und in einer regnerischen Nacht werde ich sie davon überzeugen, dass wir Juden sind. Ich werde ihr sagen: "Mama, wir sind Gottes auserwähltes Volk!" Und eines Tages, wenn ich sie wieder im Rauchen unterrichte, werde ich ihr sagen, sie soll einen tiefen Zug nehmen. "Mama, zieh es mal richtig tief rein und schluck es runter". Und dann werde ich sie davon überzeugen, dass wir Atheisten sind.
263 Likes
Oktober 2013: Aboud Saeed landet am Flughafen Tempelhof in Berlin. Seine Verlegerin Nikola Richter hat ihn zu einer Lesereise eingeladen. Dass Aboud Saeed die Einreise nach Deutschland gelingt, ist ein Bravourstück. Denn Aboud Saeed besitzt keinen Reisepass. Deutschland wiederum schottet sich gegen Ankömmlinge aus Syrien immer mehr ab. Erst nach wochenlangen Verhandlungen hatte sich ein Weg eröffnet: Die deutsche Botschaft in der Türkei stellte dem Autor einen sogenannten Fremdenpass aus, mit dem er nach Berlin fliegen durfte. Doch um den Fremdenpass in der Türkei in Empfang zu nehmen, musste Aboud Saeed zuerst von Syrien in die Türkei gelangen. Und zwar illegal. Er hatte nur eine kleine handliche Reisetasche dabei. Und im Kopf den Rat des Schleusers, so schnell wie möglich durch das Loch im Stacheldraht zu schlüpfen und dann um sein Leben zu rennen.
Die Stunde des Auf-dem-Boden-Robbens hatte geschlagen.
Die Stunde des Sieges hatte geschlagen. Los!
Planlos fingen wir an zu rennen. Ein wüster Haufen, in einer
Lautstärke lachend, die ausreichte, die gesamte Grenzschutztruppe
aufzuscheuchen.
Ich rannte wie jemand, dem ein tollwütiger Hund dicht auf den Fersen ist, dabei presste ich die Al-Hamra-Zigarettenschachteln an meine Brust.
Ich rannte, und das Stakkato der Schüsse schien proportional zu
meiner Renngeschwindigkeit dichter zu werden. ...
Dann rannte ich, was das Zeug hielt, wie ein fieser Syrer, der vor den Tränen seiner Mutter davonläuft und sich dabei als Sieger fühlt.
"Das Schreckliche mit Hilfe eines surrealistischen Gelächters beschreiben"
Als die Lesereise zu Ende geht, beschließt Aboud Saeed, in Berlin zu bleiben. Denn die Rückkehr in seine im Nordosten von Syrien gelegene Heimatstadt Manbidsch ist zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr möglich.
In Syrien lebte ich in meiner kleinen Welt, als einfacher Schmied. Jetzt ist da ein Tor offen, zu etwas Größerem, zur Welt der Kultur. Doch das ist nicht der Grund, warum ich bleibe. Ich kann nicht zurück, denn die Stadt ist nun unter der Kontrolle der Terrormiliz Islamischer Staat.
Als ich klein war, lief ich draußen immer barfuß und ohne Hose herum. Mein Lieblingsspiel war das Graben. Ich grub mit meinen nackten Händen viele winzige Gruben. (...)
Jetzt, wo ich groß bin und zwei Hände aus Eisen habe,
ist ein Unwetter gekommen. Und hat all diese Gruben überschwemmt.
Vor Aboud Saeeds Abreise nach Deutschland ließ Baschir al Assad seine Heimatstadt Manbidsch täglich mit Bomben und Raketen beschießen. Nun ist zu der Angst vor Bomben die Sorge wegen der Islamisten hinzugekommen. Für sie ist Saeed, wie er grinsend sagt, der ‘große Feind’.
Denn Aboud Saaed schreibt gerne über Frauen, Sex, Drogen. Manchmal findet sich auch ein Seitenhieb auf die Religion.
Die Märtyrer, Herr Lehrer, die Märtyrer sind die, die noch am Leben sind. Die Zahl der Todesopfer hat begonnen, meine Mutter zu nerven.
Tatsächlich ist ein sardonisches Lachen Aboud Saeeds stärkste literarische Waffe gegen die Übermacht des Krieges, das gewaltsame Sterben seiner Landsleute, den Verlust der Heimat.
Aboud Saeed: "Das Grausame, Schreckliche sollte man mit Hilfe eines surrealistischen Gelächters beschreiben, nicht mit Bildern der Trauer und der Klage. Wer weint, ist schwach. Das ins Surrealistische gewendete Lachen aber entspringt der Stärke."
Im Frühjahr 2015 erscheint im Mikrotext Verlag das zweite e-book von Aboud Saeed: "Lebensgroßer Newsticker”. Der Untertitel: Szenen aus der Erinnerung. Viele der Texte, in denen verschwimmt, was Fiktion, was Realität ist, überraschen durch eben solch einen surrealistischen Dreh: Ausgerechnet in Berlin – dort, wo keine Bomben vom Himmel fallen – wird der aus Syrien geflohene Ich-Erzähler von einem Junkie-Mädchen mit einer Pistole bedroht.
Ich zog meine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. Steckte dem Mädchen eine Zigarette in den Mund. Ich gab ihr Feuer, dann zündete ich mir selber auch eine an und sagte zu ihr: 'Jetzt hör mal gut zu. Ich bin aus einem Land geflohen, wo alles, was man tut, Selbstmord ist. Jedes geparkte Auto ist eine Autobombe, jeder Fußgänger hat einen Sprengstoffgürtel um, in jeden Park hat man Zeitbomben gepflanzt, jeder Vogel am Himmel ist ein MiG-Jet. Du brauchst Geld? Möchtest du vielleicht meine Hose haben? Ich hab sie seit sieben Jahren nicht ausgetauscht, so dass sie jetzt völlig zerfleddert ist. Schau dir mal meine Schuhe an. Die hab ich gefunden, sie lagen weggeworfen an einer Straßenecke.'
Bei der Mehrzahl dieser Texte lauert kurz unterhalb der Lakonie das Leid. Denn für den Flüchtenden ist die Gegenwart immer auch ein schmerzliches Spiegelbild der eigenen Vergangenheit.
Manchmal denke ich mir, dass schon kleine Dinge, wenn sie nur ein bisschen anders gelaufen wären, meinem Leben eine völlig andere Richtung hätten geben können. (…) Womöglich wären die Samen der Liebe in meinem Herzen aufgegangen und ihre Keime gewachsen, wenn nur der Wind stark genug geweht hätte, um das Feuerzeug meines Bruders auszublasen, der wiederum einen Moment lang innegehalten hätte, um sich mit dem Rücken gegen den Wind zu stellen und seine Zigarette anzuzünden. Dann hätte ihn die Bombe knapp verpasst.
Aboud Saeed: "Der größte Zugewinn ist mein Leben in Berlin - der größte Verlust mein Bruder, der in Syrien getötet wurde."
Aboud Saeeds Sinn für Möglichkeiten hat sich durch das Leben im Exil erweitert. Doch das Leben im Exil führt ihm nun auch die eigene Stellung in der Welt mit drängender Deutlichkeit vor Augen.
Oft kehrt er deshalb nach den Lesungen, zu denen er eingeladen wird, um bei einem Glas Rotwein über die Lage in seiner Heimat zu sprechen, frustriert in seine kleine Wohnung zurück, die ihm ein Freund überlassen hat. Denn das Morden – das ist derzeit seine einzige Gewissheit – geht weiter, nichts wird geschehen.
Die Mehrzahl der syrischen Flüchtlinge, die nach Europa wollen, ist auf die derzeit gefährlichste Route angewiesen: auf unsicheren und überfüllten Booten über das Mittelmeer, und zwar von Libyen aus. Dort bilden die zerfallenden staatlichen Strukturen beste Voraussetzungen für die Arbeit der Schmuggler und Schleuser. Vor allem die Arbeit der Schleuser erweist sich inzwischen als äußerst lukratives Geschäft:
Laut einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen erwirtschaften Schleuserringe die Flüchtlinge von Afrika nach Europa bringen, einen geschätzten Jahresgewinn von 150 Millionen Dollar. Es geht hier um das einträglichste Geschäft auf der Welt nach dem Drogenhandel. Allerdings gibt es einen entschiedenen Unterschied: Wenn sich ein Lkw voller Flüchtlinge in der Wüste verirrt und die Kunden schon gezahlt haben, wen kümmert es? Wenn ein Schiff mit 45 Kunden absäuft, die ihr 'Ticket' schon vorher gelöst haben, wen kümmert es?
Nachlesen kann man das in dem Band "Bekenntnisse eines Menschenhändlers". Darin beleuchten die italienischen Journalisten Andrea di Nicola und Giampaolo Musumeci das gigantische Netzwerk der Schleuserringe, das sich teils von Europa bis nach Afghanistan erstreckt. Es ist äußerst widerstandsfähig, resistent auch gegen ausgefeilte Ermittlungsmethoden. Denn dieses Netzwerk bestehe, so die Autoren, aus unzähligen einzelnen 'Zellen', wobei sich die Beteiligten untereinander meist nicht kennen. Jede dieser Zellen wiederum sei zuständig für nur eine Etappe auf der langen Reise der Flüchtlinge.
Die Trennlinie zwischen Schleusern und Flucht-Helfern ist dabei äußerst dünn. Vor dem Gesetz wiederum gelten – so moniert Josef Haslinger – auch die Fluchthelfer als Kriminelle:
"Die Fluchthelfer werden von unseren Behörden ja nicht als Fluchthelfer anerkannt, sondern werden eben als Schlepper, als reine Geschäftemacher oder Menschenhändler denunziert. Man unterscheidet hier nicht. Diese feine Unterscheidung, die es früher gegeben hat, als man selbstverständlich jemandem, der einem Bürger aus der DDR zur Flucht in die Bundesrepublik verhalf, nicht als kriminellen Schlepper bezeichnet hat, sondern als einen achtenswerten Fluchthelfer – diese Zeiten sind vorbei."
Theaterstück basiert auf Interviews mit Fluchthelfern
Fatal findet das auch die aus Südtirol stammende Theaterautorin Maxi Obexer. 2015 sendet der WDR eine Hörspielproduktion ihres Theaterstücks "Illegale Helfer". Das Stück ist stark dokumentarisch angelegt und basiert auf Interviews, die Maxi Obexer mit diversen Fluchthelfern und -helferinnen geführt hat.
Florian, Deutscher Student, 25:
Der Mann ist zusammengebrochen, als er erfuhr, in welches Land er abgeschoben werden sollte. Dann ging alles blitzschnell, binnen Sekunden haben wir entschieden, dass er aus dem Land geschafft werden musste, kurzes Schweigen, wer macht's? Ich mach's, hab' ich gesagt. Innerhalb von einer halben Stunde war alles organisiert, ein Auto, ein Mittelsmann, der uns drüben empfing und den Mann Leuten übergab, die sich um ihn kümmerten.
Verwaltungsrichter, ca. 60 Jahre
Während der Fahrt im Auto dachte ich, das überleb' ich nicht. Ich tu, was Schlepper tun! Ich schmuggele eine Person über die Grenze nach Italien, ich, ein Richter, Hüter der Rechts und der Gesetze. Wenn ich aber über den Rückspiegel auf die Frau sah, die vertrauensvoll schlief, oder mit weit geöffneten Augen die Gegenden bestaunte, durch die wir fuhren, schien es mir ohne Arg und etwas, das die Menschen ständig tun: Sie reisen.
Maxi Obexer: "Mich haben die Motive dieser Menschen interessiert. Mich haben aber auch die Handlungsräume interessiert, was denn alles möglich ist. Und es ist eben sehr viel möglich."
Seit mehr als zehn Jahren setzt Maxi Obexer sich künstlerisch mit dem Thema Flucht und Flüchtende auseinander.
Maxi Obexer: "Wenn wir uns immer nur das Schreckliche ansehen, die Katastrophenberichte durchlesen, diese ganze mediale Realität, wenn wir uns immer nur beliefern lassen von dieser medialen Realität, die eben auch eine ganz große Konformität annimmt, dann landen wir immer in dieser Denkfalle: Gott, es ist alles so schrecklich. Was kann man bloß tun? Und ich glaube, Kunst und Kultur muss zu anderem in der Lage sein. Nämlich Handlungsräume aufzutun und damit eben auch Denkfallen zu überwinden."
In ihrem Fall begann alles mit einer Reise nach Afrika, kurz nach dem Studium.
Maxi Obexer: "Was danach immer wieder in meinem Kopf blieb, war diese Erfahrung: Die Leute dort wollten einfach, so wie ich auch, den Ort verlassen, in dem man aufgewachsen ist, einfach um das Gefühl zu haben: Ich will ja nicht nur Teil einer eingerichteten Welt sein. Ich will selbst Handlanger meines Glücks sein. Das konnte ich tun. Und sie konnten das alle nicht tun. Wir schreiben uns unglaublich viel Positives zu, was wir den anderen komplett entsagen. Was wir ihnen zuschreiben, ist das blanke Elend. Und sonst gar nichts."
Genau solche Zuschreibungen möchte Maxi Obexer mit ihren Werken durchkreuzen. Helen, eine junge Frau aus Nigeria und die Protagonistin in ihrem Roman "Wenn gefährliche Hunde lachen", nimmt für den Traum von einem besseren Leben in Europa die gefährliche Flucht in Kauf.
Tanger, am 15 Januar 2010
Liebe Eltern, lieber Victor, liebe Pat,
stellt euch vor, ihr sitzt in einem Wagen, eingekeilt zwischen den anderen, und rumpelt stundenlang, sogar tage- und nächtelang über sandige und holprige Wege durch die Sahara. Die Luft ist so, wie man sich das vorstellt: stickig, staubig, faulig, und immer wieder zieht ein beißender Gestank an deiner Nase vorbei, Diesel, Pisse, manche haben sich erbrochen.
In Lagos führte Helen eine Bar; in Europa möchte sie als Journalistin arbeiten. In Tanger wird sie allerdings zur Prostitution gezwungen. Dennoch möchte Helen sich nicht als Opfer fühlen, sondern hält fest an ihrer Vision eines besseren Lebens in einem gerechten Europa. In ihrer Not erfindet sie sich dieses Leben in den Briefen, die sie nach Hause schickt.
Liebe Eltern,
es geht mir gut. Ich verdiene Geld zum ersten Mal, viel Geld sogar, und es wird von Tag zu Tag mehr. Den größten Teil lege ich zur Seite. Für einen guten und sichern Platz auf dem Schiff. Wie eine Königin sehe ich mich auf das Schiff gehen, ein Seidenschal schützt mein Gesicht vor der kühlen Brise, die mir vom Meer entgegenweht.
Bewusst erzeugen diese Briefe – die geschönte Version ihres Weges durch die Hölle – eine flirrende Realität. Gekonnt fängt der Roman dadurch ein, was auch reale Fluchtgeschichten auszeichnet: dass nichts mehr in ihnen verifizierbar, gesichert ist.
Maxi Obexer: "Es ist ja ein Leben zwischen den Welten. Es ist eine Durchgangszeit. Nichts ist verbürgt. Kein Tag, den sie angehen, gibt irgendwie die Gewähr, dass es auch einen sicheren Abend geben würde. Die Straßen sind nicht sicher, die Wege sind nicht sicher, die Orte, in denen sie ankommen, sind nicht sicher. Das ist eben die Realität: dass es diese stabile Realität für Menschen, die auf der Flucht sind, nicht gibt."
Wie also kann die Literatur von der Flucht erzählen? Und was macht das aus: eine Erzählung von der Flucht? Wann beginnt eine Flucht? Wann endet sie?
Wieder entrücken sie ins Reich des Medialen, des Abstrakten, ins Feld der Metaphern, der Diskurse und Debatten. In die Katastrophenticker, die uns wachrütteln sollen. Halten uns auf dem Laufenden über Massen, nicht über Menschen, von einem angeblichen Elend nach Europa geschoben.
Erstaunlicherweise bleiben viele literarische Texte über die Geschichte einer Flucht abstrakt – obwohl die Flucht doch etwas sehr Konkretes ist. Vieles daran – so schreiben die beiden Autoren des Sachbuchs "Bekenntnisse eines Menschenhändlers" – trägt gar erschreckende Züge einer immensen Theaterinszenierung: Schauspielkunst ist gefragt. Pässe und Identitäten werden vertauscht. Nicht zuletzt deshalb können die, die nun zum Beispiel im Mittelmeer sterben, nur selten identifiziert werden – sofern ihre Leichen überhaupt gefunden werden.
Kein Name, der jedem ein Gesicht verleiht, eine Sehnsucht, eine Utopie, eine Zerbrechlichkeit. Sprich: Der Tod im Mittelmeer ist nicht nur ein schrecklicher. Es ist auch ein schrecklich leiser – und offenbar in Kauf genommener Tod. Spätestens in fünfzig Jahren wird uns das als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgelegt werden.
So konstatiert es der Verwaltungsrichter, einer der illegalen Helfer in Maxi Obexers gleichnamigen Stück.
Mehr zum Thema