Abdulrazak Gurnah: "Nachleben"

Die grausame deutsche Kolonialherrschaft

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Das Cover von "Nachleben" von Abdulrazak Gurnah zeigt ein Gemälde eines Vogels im Urwald durch einen Gelbfilter. Darüber Autorenname und Buchtitel.
© Penguin Deutschland

Abdulrazak Gurnah

Übersetzt von Eva Bonné

NachlebenPenguin, München 2022

382 Seiten

26,00 Euro

Von Sigrid Löffler · 13.09.2022
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Zwei Ostafrikaner kämpfen für die besonders grausame deutsche „Schutztruppe“. Einer stirbt, der andere überlebt als Invalide. Mit vielen Zwischentönen erinnert Abdulrazak Gurnah an die koloniale Unheilsgeschichte.
Als im Vorjahr der 73-jährige Abdulrazak Gurnah, ein aus Sansibar gebürtiger emeritierter Literaturprofessor an der University of Kent in Canterbury, den Nobelpreis erhielt, war sein literarisches Werk, das zehn Romane umfasst, weitgehend unbekannt.
Den sofort einsetzenden Wettlauf der deutschsprachigen Verlage um Gurnahs Buchrechte hat Penguin Deutschland gewonnen. Dieser Tage bringt der Verlag binnen neun Monaten bereits Gurnahs dritten Roman auf Deutsch heraus: "Nachleben".
Der Roman zeigt beispielhaft, warum die Schwedische Akademie Gurnah zu Recht für nobelpreiswürdig hielt. Dieser Autor macht die Entfremdung und Entwurzelung von Afrikanern durch die doppelte Erfahrung von Kolonialismus und Migration zu seinem Thema. Er gibt einer bisher literarisch stummen Weltregion, der multi-ethnischen ostafrikanischen Küste, eine ganz eigentümliche Stimme – leise, aber unbeirrbar und unerbittlich.
Er erzählt die Geschichte des heutigen Tansania im 20. Jahrhundert, unter arabischer, deutscher und britischer Fremdherrschaft. Er zeigt eine machtlose Region, ohne Kontrolle über ihr eigenes Schicksal – und er erzählt dies erstmals strikt aus dem Blickwinkel der unterworfenen einheimischen Afrikaner.
Dass er die afrikanische Perspektive in die Herrschaftsgeschichte des Kolonialismus eingeführt hat, das ist Gurnahs besondere literarische Leistung.

Stellvertreterkrieg auf afrikanischem Boden

"Nachleben" ist ein historischer Roman, angesiedelt in einem namenlosen ostafrikanischen Küstenstädtchen in der Übergangszeit von der deutschen zur britischen Kolonialherrschaft rund um den Ersten Weltkrieg, der stellvertretend auch auf afrikanischem Boden ausgefochten wird.
Gurnahs Romanhelden sind zwei junge Ostafrikaner, Ilyas und Hamza, die sich in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika als sogenannte Askari anwerben lassen, afrikanische Hilfssoldaten für die Schutztruppe, die Kolonialarmee der Deutschen.
Sie kämpfen also für eine fremde Macht in einem Krieg, der sie nichts angeht, was den einen, Ilyas, das Leben kosten und den anderen, Hamza, zum Invaliden machen wird. Als dritte Hauptfigur kommt Afiya hinzu, die jüngere Schwester von Ilyas, die später mit Hamza eine glückliche Ehe führt.

Erfahrungen mit deutscher Besatzungsmacht

Gurnah zeichnet ein differenziertes und sehr ambivalentes Bild von der kurzlebigen deutschen Kolonialherrschaft in Afrika, die gemeinhin als besonders grob und grausam gilt, verglichen mit dem moderneren und effizienteren Regime der Briten.
Ilyas und Hamza machen ganz widersprüchliche Erfahrungen mit der deutschen Besatzungsmacht. Ilyas wird von einem deutschen Plantagenbesitzer auf eine deutsche Missionsschule geschickt, ehe er sich freiwillig für die Askari-Söldnertruppe rekrutieren lässt und aus dem Roman verschwindet – eine zentrale Leerstelle im Buch und ein Rätsel, das erst im Schlusskapitel gelöst wird.

Meister der Zwischentöne

Nicht minder zwiespältig sind Hamzas Kontakte mit den Deutschen. Als Askari wird er von brutalen Unteroffizieren geschunden und schwer verletzt, aber ein namenlos bleibender Oberleutnant erwählt den hübschen Jungen zu seinem Liebling, bringt ihm Deutsch bei und schenkt ihm Schillers Musenalmanach.
Das Verhältnis der beiden flackert verstörend uneindeutig, aber mit latenten schwulen Untertönen zwischen Anziehung und Abstoßung und kann als Metapher für die komplexen Beziehungen zwischen Unterdrückern und Unterdrückten gelesen werden. Andererseits ist es ein gütiger deutscher Pastor, der Hamzas verletztes Bein heilt.
Im Roman "Nachleben" erweist sich Abdulrazak Gurnah als Meister der politischen und psychologischen Zwischentöne, der es zu seinem Schreibprojekt gemacht hat, einen wenig bekannten Aspekt der kolonialen Unheilsgeschichte Afrikas vor dem Vergessen zu bewahren.
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