"9/11 und die Geburt der Gegenwart"

Corona als neues Ground Zero

08:21 Minuten
Die rauchende Ruine des World Trade Centers kurz nach den Anschlägen von 2001.
Ground Zero 2001: Islamwissenschaftler Stefan Weidner hofft, dass Corona einen neuen Wendepunkt einläutet. © imago / UPI Photo
Stefan Weidner im Gespräch mit Christian Rabhansl · 11.09.2021
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Die "Geburt der Gegenwart" nennt Islamforscher Stefan Weidner die Anschläge von 2001. Sie hätten die Welt ins Chaos gestürzt, auch mit Folgen für die Klimakatastrophe. Eine Chance für eine neue Politik sieht er in der Coronakrise.
"9/11 war das Geburtstrauma des 21. Jahrhunderts", schreibt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner in seinem neuen Buch. Aus diesem Ereignis seien viele andere hervorgegangen, die die vergangenen 20 Jahre geprägt haben.
Anfangs seien zwar die Amerikaner die Opfer gewesen, danach aber vor allem die Muslime, die bei den Kriegen in Afghanistan und Irak gestorben seien, durch Attentate der Terroristen und durch US-Drohnenanschläge, aber später auch die Flüchtlinge, die im Mittelmeer umgekommen sind.
Weidner zählt ebenso die Klimatoten durch Dürren und Überschwemmungen zu den Opfern, denn: "Die letzten 20 Jahre sind durch diese Fixierung auf den Kampf gegen den Terror verpasste Jahre im Klimaschutz gewesen." Schon 2000 habe der US-Präsidentschaftskandidat Al Gore eine große Klimaagenda gehabt. Wegen George W. Bushs Wahlerfolg konnte sie nicht umgesetzt werden.

Anschläge als Freibrief

Der Anschlag vom 11. September 2001 sei genutzt worden für "überhebliche, hegemoniale, neoimperiale Politik des Westens und der Amerikaner", so Weidner. "Die Anschläge wurden als eine Art Freibrief betrachtet, sodass man mit unliebsamen Regimen aufräumen konnte, zum Beispiel im Irak. Aber man hat dadurch die Welt ins Chaos gestürzt."
Es folgten die Arabischen Revolutionen und die Flüchtlingskrise, die auch den Populismus so groß gemacht habe, "dass er überall in den Parlamenten landete".
Zudem sei eine Kultur entstanden, bei der Muslime in Verdacht geraten seien. Dabei betont Weidner: "Islamischer Terrorismus hat weniger mit dem Islam als Religion zu tun als mit der politischen Situation in den arabischen Ländern."
Dieser habe sich zunächst gegen die eigenen despotischen Regime gewandt. "Als das gescheitert ist, hat man größere Ziele gesucht und ist auf die USA gekommen, vorher schon die Sowjetunion."

Coronakrise als Neubeginn

Er selbst sei als Islamwissenschaftler nur noch mit "geistigem Feuerlöschen" beschäftigt gewesen: "Man konnte die Region nicht mehr unbefangen anschauen, sondern man musste immer geistige Aufräumarbeit leisten. Man musste sozusagen immer erst mal den politischen Schutt wegräumen, bevor man die kulturelle Größe und Faszinationskraft, die der Islam eben auch hat, herausarbeiten konnte."
Stefan Weidners Buch Ground Zero auf orangenem Pastell-Untergrund.
Die Gegenwart beginnt für ihn am 11.9.2001: Stefan Weidner. © Hanser / Deutschlandradio
Weidner wollen in seinem Buch "diese Versehrungen und Verheerungen aufzuzeigen, um vielleicht einen Schnitt machen zu können, ein neues Ground Zero, einen neuen Nullpunkt zu setzen, wo wir vielleicht offener auf die Welt schauen können".
Weidner sieht die Coronakrise als potenziellen neuen Ground Zero, als ähnlich großen Einschnitt, wie es 9/11 vor 20 Jahren war, und als eine neue Chance: Sie bringe die Politik auf eine andere Spur, auch wenn es sich dabei nicht um einen Krieg handle.
"Man muss sich andere Mittel ausdenken, man muss globaler denken", sagt Weidner. "Der Impfstoff muss global verteilt werden, sonst werden wir dieses Virus nie los."
(leg)

Stefan Weidner: "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart"
Hanser, 2021
256 Seiten, 23 Euro

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