80 Jahre Blue Note Label

„It must schwing“

Platten des Labels Blue Note werden gepresst.
Mit "Blue Note" schrieb Alfred Loew alias Alfred Lion Musikgeschichte. © imago/ZUMA Press
Von Sky Nonhoff · 07.01.2019
Miles Davis, Thelonious Monk oder Herbie Hancock: Sie alle waren bei "Blue Note" unter Vertrag. Gründer Alfred Loew schrieb mit dem Kultlabel Musikgeschichte - und sein Motto „It must schwing“ wurde zum geflügelten Wort.

Diese Musik war der nackte Wahnsinn, zu heiß zum Anfassen, wenn man Rhythmen denn hätte anfassen können: der Sound von Sam Woodings "berühmtem Negerorchester", wie es überall auf den Litfaßsäulen angekündigt worden war. Und er, Alfred Walter Loew, 17 Jahre alt, hatte im Berliner Admiralspalast in der ersten Reihe gestanden, auf Augenhöhe mit dem Saum von Woodings weißen Schlaghosen, komplett hin und weg. Er erinnerte sich noch genau an den April 1925, nie zuvor hatte in Deutschland eine solche Aufbruchsstimmung geherrscht.

Von den Nazis als "Niggerjazz" diffamiert

Jetzt war alles anders. Der "Völkische Beobachter" hatte schon im Oktober 1935 verkündet, "der Niggerjazz" sei von nun an "im deutschen Rundfunk endgültig ausgeschaltet". Und Alfred Walter Loew, der Hitlerland 1933 verlassen hatte, hieß nun Alfred Lion.
Als er den Commodore Record Shop in der East 42nd Street verließ, erhaschte er im Schaufenster einen Blick auf seine leicht untersetzte, bebrillte Gestalt.
Ja, das war er: Entrepreneur, Enthusiast, überzeugter Verbreiter der "internationalen Kulturpest", des "negro-amerikanischen Barbarismus", wie der Jazz von den Nazis genannt wurde. Und stolzer Besitzer einer Ein-Zimmer-Wohnung mit fließend kaltem Wasser, die als Hauptquartier seines unlängst gegründeten Labels diente, dessen erste zwei Schellackplatten immerhin 100 Exemplare verkauft hatten. Blue Note hieß es.
Hätte Alfred Lion, 31 Jahre alt, an jenem New Yorker Abend eine Kristallkugel dabeigehabt, hätte er sie alle sehen können, die er später produzieren sollte: Miles Davis, Dexter Gordon, Thelonious Monk oder Herbie Hancock, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geboren war.
Und sich selbst: einen jungen weißen Mann, der schließlich zu einem alten weißen Mann werden würde. Einem alten weißen Mann, der der afro-amerikanischen Musik erst die Black Power verlieh, die sie zur schwarzen Klassik adeln sollte. Nun aber, an jenem Abend des 8. Juni 1939, war Alfred Lion unterwegs zu einer Aufnahmesession – mit einem Musiker, der "Blue Note" den ersten Hit bescheren sollte.
In der braunen Papiertüte, die Alfred Lion bei sich hatte, befand sich eine Whiskeyflasche – womöglich eine der Marke Black & White. Der Musiker, mit dem er sich im Studio traf, war der Saxofonist Sidney Bechet. Dass es überhaupt zu der Session kam, verdankte sich dem Umstand, dass der Marktführer RCA Victor an einer Bechet-Version von George Gershwins "Summertime" nicht interessiert war. Alfred Lion schon.
Außerdem waren er und Bechet sich schon einmal begegnet. 1929 im Palmensaal des Hauses Vaterland an der Potsdamer Straße. In einem anderen Land, in dem nun die Blechmusik regierte, einem Land, wo schwarze Musik nun als "Tanzseuche" und "Volkstod", als "fremdrassig" und "kulturzersetzend" geschmäht wurde.
In jenem Land, Deutschland, war Bechet ein Jahr später, 1930, sogar in einem Film aufgetreten. Der Film hieß "Einbrecher", und Alfred Lion erinnerte sich noch genau an die anarchische Ausgelassenheit, den choreografischen Übermut, die freien Rhythmen, den Gassenhauer des Films, den damals halb Berlin gesungen hatte:
"Ich lass mir meinen Körper schwarz bepinseln, schwarz bepinseln / und fahre nach den Fidschi-Inseln, nach den Fidschi-Inseln."

Alfred Lion schreibt Musikgeschichte

Alfred Lion hatte es immerhin nach New York geschafft. Vielleicht kannte er sogar den letzten Satz aus "Jugend ohne Gott", dem visionären Anti-Nazi-Roman des Schriftstellers Ödön von Horváth, der ebenfalls von den Nazis vertrieben worden war.
Es war ein Satz wie eine schallende Ohrfeige, ein Satz gegen alle Rassisten des Planeten, ein Satz, in dem sich Alfred Lion, Deutscher, Jude, Emigrant und Gründer des Jazzlabels schlechthin, auf Anhieb wiedererkannt hätte. Er lautet: "Der Neger fährt zu den Negern."
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