Überraschende Entdeckung zur Landesgeschichte
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Bislang gingen alle davon aus, es sei eine Idee der Briten gewesen, das nördliche Rheinland und Westfalen nach dem Krieg zusammenzulegen. Doch 75 Jahre nach der Landesgründung fanden sich jetzt Papiere, die zeigen: Die Idee ist viel älter.
Es ist knapp fünf Jahre her, da kam Prinz William zu Besuch: "Good Evening Everyone." In der Tonhalle in Düsseldorf herrscht royales Flair beim Festakt zur Jubiläumsfeier "70 Jahre Nordrhein-Westfalen".
"Sie sind der engste Wirtschaftspartner, zigtausende von Studenten studieren an britischen Universitäten und wir haben einen lebhaften Austausch im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und des Sportes zwischen dem Vereinigten Königreich und diesem dynamischen Bundesland, kurz gesagt: Was vor 70 Jahren als eine Vernunftehe begann, ist heute eine Partnerschaft, begründet auf richtiger Freundschaft und gegenseitigem Vorteil", gratulierte Prinz William damals.
Ein Gemeinschaftsgefühl ist gewachsen
Mit der "Operation Marriage", künstlich übersetzt als Operation Hochzeit, im Jahr 1946 begründete die britische Militärregierung das heutige Nordrhein-Westfalen, vereinigte damals das nördliche Rheinland mit Westfalen, was an diesem Abend vor fünf Jahren, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte:
"Im Laufe der Jahrzehnte ist ein Gemeinschaftsgefühl gewachsen. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, die Ehe zwischen den ungleichen Partnern ist geglückt, die Operation Marriage der Briten war erfolgreich."
Doch der Historiker Guido Hitze, aktuell Leiter der Landeszentrale für Politische Bildung in NRW, kommt nun zu einem anderen Schluss:
"Es ist kein Gründungsimpuls gewesen, sondern im Prinzip die Verordnung der Gründung. Und diesen Verwaltungsakt hat man dann rückblickend zu einer Art Erfindung der Briten gemacht, sozusagen eine Idee der britischen Besatzungsmacht, die dann per Verordnung umgesetzt wurde. Und das ist nach dem Erkenntnisstand, den wir heute haben, eben nicht richtig, weil die Briten diesen Verwaltungsakt eben erlassen haben nach gründlichem Studium der deutschen Vorarbeiten und nach vielen Kontakten mit deutschen Verwaltungseliten und Politikern."
Die Idee ist viel älter
Nordrhein-Westfalen, dieser – so wurde es Jahrzehnte erzählt – künstliche, von den Besatzern initiierte Zusammenschluss hat also andere Wurzeln? Hitze nickt:
"Die Idee ist eine Idee aus der Reichsreform-Debatte der Weimarer Republik. Anfang der 20er-Jahre gab es große Diskussionen über eine Neugestaltung des deutschen Föderalismus."

Die Verbindungen der Rheinländer und Westfalen existieren nicht erst seit der Zusammenlegung nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern lassen sich historisch erklären.© akg-images / Bildarchiv Monheim
Es sind diese Unterlagen, auf die Hitze im Zuge der Konzeption eines "Haus der Landesgeschichte" für NRW gestoßen ist:
"Es war purer Zufall. Wir vertrauten einfach der alten Erzählung der Operation Marriage und waren ziemlich erstaunt, dass wir – wirklich durch einen Zufall – einen Kartenfund gemacht haben, einer kleinen wissenschaftlichen Abhandlung über die Reichsreform-Debatte der Weimarer Republik, wo Karten im Anhang abgedruckt waren. Unter anderem eine Karte von einem gewissen Hans Baumann, einem jungen Bauingenieur aus den frühen 20er-Jahren. Und dieser Hans Baumann legte eine Karte vor, die – mit einer kleinen Abweichung – exakt das heutige Nordrhein-Westfalen vorgab. Und das aus dem Jahr 1922. Und das elektrisierte uns."
Rheinländer und Westfalen verbindet viel
Sie recherchierten weiter, unter anderem in Berliner Archiven und brachten zutage, dass die Idee des heutigen Landeszuschnitts bereits rund hundert Jahre alt ist, so Hitze:
"Das wiederum fußt auf der Erkenntnis, dass Rheinländer und Westfalen und im Endeffekt dann auch die Lipper, sozusagen als Anhängsel der Westfalen, viel, viel mehr verbindet miteinander, ökonomisch, sozial, technisch, verwaltungsmäßig und dass es dann eben eine Entscheidung war, der rationalen Argumente damals zu sagen: Wir müssen diese Verbindungen dann auch mit einer territorialen Reform zum Ausdruck bringen."
Denn: Schon damals, in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts, so Hitze, ging es zum einen darum, das Verhältnis zwischen Reich und Ländern untereinander, zu klären. Ein zweiter Versuch ging noch weiter zurück. Denn bereits kurz nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages, sagt Hitze…
"... gab es Pläne das Reich in Wirtschaftsprovinzen aufzuteilen. Das waren keine territorialpolitischen Einheiten, sondern eher ökonomisch zusammengefasste Gebiete, die sich einen Wirtschaftsrat geben sollten. Und in diesem Zusammenhang kam die Ruhrindustrie, also Thyssen, Klöckner, Stinnes, wie sie alle hießen, auf die Idee, die beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen zusammenzuschließen, um das Ruhrgebiet herum und vor allen Dingen die Rheinprovinz zu teilen. Das ist eigentlich das Sensationelle, weil wir damit das heutige Land Nordrhein-Westfalen vorgegeben finden."
Einflüsse auf die britische Idee
"Das waren sehr interessante Forschungsergebnisse, die aber belegt sind, mit Karten, mit Dokumenten, mit allem. Besonders Hermann Pünder aus Nordrhein-Westfalen war einer, der in der Weimarer Republik, wahrscheinlich schon mit Adenauer, dafür gefochten hat, dieses große Preußen zu verkleinern in regional überschaubare Einheiten."

Armin Laschet legt Wert auf die historischen Fakten. 75 Jahre nach der Zusammenlegung haben die Menschen auch eine Identität.© picture alliance / dpa / Revierfoto
Sagt NRWs amtierender Ministerpräsident, Armin Laschet von der CDU. Laschet, ein geschichtsbewusster Mann, legt Wert auf solche Fakten. Sagt zu den neusten Erkenntnissen:
"Deshalb halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die britische Idee, so wie wir sie verstanden haben, nach dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht ein wenig durch diese Leute aus der Weimarer Republik, auch durch Konrad Adenauer, beeinflusst waren."
Doch: Was bedeutet das? Hat es einen Effekt – auch auf das heutige Land, das Selbstverständnis? Historiker Hitze nickt:
"Dass Nordrhein-Westfalen eben kein Kunstprodukt ist, kein Willkür-Akt, kein Land aus der Retorte, das ist, glaube ich, für das Selbstbewusstsein dieses Landes entscheidend. Dass das, was wir uns die letzten Jahrzehnte erarbeitet haben, nämlich die Fähigkeit, unsere verschiedenen Anlagebefähigungen, territorialen, ökonomischen Voraussetzungen zusammenzubinden, auf ein Ziel hin auszurichten, dass das eben viel länger schon zugrunde gelegt ist und eigentlich dem Lot der Geschichte gefolgt ist."
Menschen mussten sich daran gewöhnen
Also, mehr Selbstbewusstsein, da kein Kunstprodukt? Ministerpräsident Laschet wiegt bei dieser Frage den Kopf:
"Ja, aber das ändert ja nichts an der Gründungsgeschichte 1946. Das war für Westfalen und Rheinland etwas völlig Neues. Die Menschen mussten sich auch erst einmal daran gewöhnen. Und jetzt, nach 75 Jahren, kann man sagen: Man ist schon zusammengewachsen, hat eine Identität. Aber selbst wenn dieser Plan schon in den 20er-Jahren gediehen ist, er wäre auch zu dieser Zeit mühevoll umzusetzen gewesen."
Dennoch: Beim 75. Landesjubiläum nun – dem ersten Jahr nach dem Brexit, dem Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union – werden auch diese Erkenntnisse nun, eine Rolle spielen.