70. Todestag von George Orwell

Unsere Gegenwart wäre ihm der nackte Horror

04:45 Minuten
Der englische Schriftsteller George Orwell spricht 1943 am Mikrofon der BBC.
Der Schriftsteller und Publizist George Orwell. Heute würde er gegen den Totalitarismus der Zerstreuungsindustrie anschreiben, meint Mathias Greffrath. © picture alliance / Leemage
Ein Kommentar von Mathias Greffrath · 21.01.2020
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George Orwell kritisierte nicht nur den stalinistischen Überwachungsstaat. Auch dem Kapitalismus wohne die Tendenz zum Totalitären inne. Seine Verteidigung des Individuums gegen die Masse ist brandaktuell, meint der Soziologe Mathias Greffrath.
"Gestern abend im Kino. Ein sehr guter Film über ein Schiff von Flüchtlingen, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Zuschauer höchst belustigt durch eine Aufnahme von einem großen dicken Mann, den ein Helikopter verfolgt. Man sah ihn durch das Zielfernrohr des Hubschraubers, dann war er ganz durchlöchert, und das Meer rund um ihn färbte sich rosa. Zuschauer brüllten vor Lachen als er unterging."
Das ist kein Blick in die nächste Zukunft, sondern mit dieser Eintragung in Winston Smiths Tagebuch beginnt "1984", der einflussreichste politische Roman des 20. Jahrhunderts. "Ozeanien" mit seinem Großen Bruder und seinem technologisch hochgerüsteten Elendskommunismus – das wurde im Kalten Krieg als Metapher des Stalinismus gelesen – und, wenn auch nicht ganz so oft, des Faschismus.

Auch ökonomische Macht kann totalitär werden

"Aber ich muss Ihnen sagen", so schrieb George Orwell einem Leser, "ich glaube, diese Dinge in der Welt sind insgesamt im Vormarsch". Hitler und Stalin würden verschwinden, aber auch die Herrschaft der "anglo-amerikanischen Millionäre", überhaupt die Konzentration der ökonomischen Macht könne "so totalitär werden, wie man es sich nur wünschen kann".
Orwells Romane, mehr noch seine hierzulande weithin ungekannte Publizistik schärft den Blick für "diese Dinge": Gehirnwäsche, Folter, Loyalitätsaufmärsche - und ihre freiheitlich-demokratischen Äquivalente unserer Tage: Geheimdienste, Überwachungskameras, Fox News, Twitter-Stürme aus dem Weißen Haus, computergestützte Wahlmanipulation, aggressiver Nationalismus oder Schlimmeres aus rechtsradikalen Bastelbuden.
Nicht zu vergessen unsere freiwillige Mitarbeit bei der Erfassung von Büchernutzung, Autofahrten, Gesundheitszustand oder politischen Präferenzen.

Unsere sanft totalitäre Vergnügungsgegenwart

Aber im Vormarsch ist deshalb auch das Gefühl der Ohnmacht. Nicht zuletzt bei der sanften Form des Totalitarismus, die der kulturkonservative Linke Orwell kommen sah: die "Vergnügungszentren der Zukunft", in denen McDonald’s, Sauna, Kino und Spielhalle zusammenwachsen zu Disney-, Lego-, Playmobilländern, und das Medienrauschen, die Musik in allen Korridoren, Fahrstühlen und Restaurants, die künstliche Natur der Malls – all dieses, so schrieb Orwell schon 1946, werde die Fähigkeiten des homo sapiens untergraben.
Zu den sozialen Medien von heute war es 1946 noch ein weiter Weg, aber die Siris, Alexas, Peppers, die selbstfahrenden Automobile und nicht zuletzt die virtuellen Welten der Computerspiele wären Orwell der nackte Horror: eine scheinbar zwangsläufige technische Entwicklung, deren implizites Ziel es ist, Arbeit und Anstrengung abzuschaffen, und, wie er spottete, die Welt sicher zu machen "für kleine dicke Männer".
"Das einzige, das diese Tendenz umkehren könnte", schrieb er, "ist die Entdeckung einer Waffe, die nicht von der riesigen Konzentration von Industrieanlagen abhängig ist."

Das Gefühl der Zugehörigkeit

Was ist das für eine Waffe?
Orwell war Atheist. Aber ohne "etwas wie Religion", schrieb er, kämen wir nicht aus. Ohne ein Bewusstsein davon, dass "der Mensch kein Individuum ist", sondern Teil einer Art "Organismus, der größer ist, als wir selbst und sich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt", und dem wir verpflichtet sind. In der Zerstörung dieses Gefühls der Zugehörigkeit, das ja merkwürdigerweise mit jedem Menschen wieder auf die Welt kommt, sah Orwell die dauerhafte totalitäre Bedrohung.
Es ist eine Bedrohung, die ganz ohne Geheimpolizei, Folter und Gefängnisse auskommt. Sie lebt vom Verrat. Vom Verrat an den Werten der Jugend, vom Verrat am eigenen Gefühl, von der Erstickung des Gewissens und der Scham über die eigenen Privilegien.

Konservative Werte, egalitäre Ideale

Von diesem Verrat nährt sich die Herrschaft. Kant hätte gesagt: von Faulheit und Feigheit. Sie klingen sehr altbacken, diese Worte aus der großen europäischen Aufklärungsphilosophie, und auch diese Orwellsche Mischung aus konservativen Werten und egalitären Idealen.
Sie klingen sehr anstrengend. Sie sind eine Zumutung. Aber ist das ein Argument gegen sie?

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?".

Journalist und Schriftsteller Mathias Greffrath zu Gast bei Deutschlandfunk Kultur. 
© Deutschlandradio / Cornelia Sachse
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